Prof. Dr. Alexander Richter, Professor an der «School of Information Management» an der «Victoria University of Wellington» und leitet dort den Studiengang für «Professional Business Analysis».

Alexander Richter, Wir müssen weg von Rankings!
Alexander Richter 2017

Alexander Richter hat an den Universitäten Augsburg und Rennes I Wirtschaftsinformatik studiert und an der Universität der Bundeswehr München über Enterprise Social Networks promoviert. Von 2013 bis 2018 hat er an der Universität Zürich eine Forschungsgruppe zum Thema «Digital Work Design» geleitet und ist zudem im März 2016 einem Ruf an die IT-Universität Kopenhagen auf eine Associate Professur für «Workplace Studies» gefolgt. Seit Februar 2019 ist er Professor an der «School of Information Management» an der «Victoria University of Wellington» und leitet dort den Studiengang für «Professional Business Analysis».

Was ist für Dich «Learning Innovation»? Welche Herausforderungen und Ziele – Strategien / Projekte und Programme leiten sich daraus für den Bereich Lernen und Arbeiten ab?

Für mich bedeutet Learning Innovation zu allererst, dass wir (auch) beim Lernen umdenken müssen. Lernen hört nicht nach der Schule oder der Universität auf. Wir lernen jeden Tag. Ein Leben lang. Was bedeutet das, wenn es darum geht neue Lernformen zu finden?

Zunächst einmal müssen wir weg von der Vorstellung, dass Lernen überwiegend in einem Klassenraum- oder Vorlesungsszenario stattfindet. Lernen findet an vielen Orten statt, zu allen Tages- und Nachtzeiten. Es ist ein individueller Prozess, der sich oftmals nur schwer in institutionelle Formen pressen lässt. Das heisst nicht, dass Schulen oder Universitäten ausgedient haben. Im Gegenteil. Ihre herausfordernde Aufgabe ist es, die unglaublich vielfältigen Lernszenarien unserer Zeit zu verstehen und dafür ebenso vielfältige Lernunterstützungsmöglichkeiten zu entwickeln, anzuwenden, kontinuierlich zu evaluieren und zu verbessern.

Wir brauchen zudem eine vielschichtigere Wahrnehmung von dem was Lernen bedeutet. «Learning Innovation» bedeutet für mich daher auch einen ganzheitlichen Ansatz zu verfolgen, der die neuen Möglichkeiten und Herausforderungen des lebenslangen Lernens in verschiedenen Kontexten unter Anwendung innovativer Methoden und Werkzeuge unterstützt.

Aus meiner eigenen Erfahrung unterschätzen wir in D-A-CH beispielsweise noch immer die Potentiale kooperativen Lernens. In Skandinavien gibt es traditionell wesentlich mehr Projektarbeiten, in denen die Schülerinnen und Schüler bzw. die Studierenden sich als Team engagieren und voneinander lernen. Diese Art zu Lernen trägt auch der Tatsache Rechnung, dass unsere Arbeits- und Lebenswelt zunehmend komplexer wird und wir daher eher Muster erkennen und lösen müssen, anstatt vorgegebene Lösungswege zu verfolgen.

Was müssen Betriebe, Organisationen, Bildungsinstitutionen tun, um Lerninnovationen umzusetzen?

Den Lernenden vertrauen und sie unterstützen. Die meisten von uns kennen unsere Stärken und Schwächen sehr gut und haben eine Vorstellung davon, wie wir uns weiterentwickeln können. In vielen Unternehmen hängt der nächste Karrieresprung aber nicht davon ab, dass wir uns auf unsere Stärken besinnen oder an unseren Schwächen arbeiten, sondern welche Zertifikate und Diplome wir benötigen, um vertrauenswürdig zu erscheinen. Daher vertrauen viele von uns auch zunehmend Listen und Rankings anstatt unserer eigenen Erfahrung. Dies ist eine Gefahr für den individuellen Lernfortschritt und auch generell für Innovationen und Fortschritt.

In einigen asiatischen Ländern oder auch an meinem aktuellen Wohnort Neuseeland gibt es aktuell gegenläufige Tendenzen, Bewertungen wie Noten und Zeugnisse zu reduzieren, weil sie dem individuellen Lernerfolg oft mehr hinderlich als dienlich sind. Natürlich geht es nicht ganz ohne Leistungsbeurteilung und ohne Vergleichbarkeit. Wir brauchen daher bessere Beurteilungsformate. Und wir (Bildungsinstitutionen und Organisationen) müssen flexibler werden. Wir brauchen mehr Kursformate, die den Lernenden Freiräume geben – bei der Themenauswahl, beim Lerntempo, bei der Art der Interaktion – dies bedeutet natürlich grosse Herausforderungen und die traditionellen «Vorlesungen» sind ein vergleichbar einfaches Format – und oftmals sind sie ja auch ein guter Einstieg. Kein Wunder, dass viele versuchen möglichst lange daran fest zu halten.

Was fordert Dich aktuell heraus? Mit was willst Du Dich in den nächsten Jahren beschäftigen?

Unsere 12 Wochen alte Tochter und ihre beiden älteren Brüder. Ich bin immer wieder aufs Neue begeistert zu sehen wie intuitiv wir Menschen lernen. Es ist uns buchstäblich in die Wiege gelegt. Umso trauriger ist, dass wir, je älter wir werden, uns eher davon zu entfernen scheinen. Sicherlich auch, weil wir uns oftmals selber nicht mehr zuhören und unsere eigenen Bedürfnisse nicht mehr so gut kennen. Daran hat auch der zunehmende Konsum von digitalen Medien (und wie sie uns scheinbar fremdsteuern) seinen Anteil. Ich glaube, dass digitale Medien einen grossen Nutzen stiften können und es auch schon oftmals tun. Aber wir sind trotzdem noch weit davon entfernt, deren Potentiale (für das Lernen und auch für die Zusammenarbeit) auszureizen. Hier gibt es noch einiges zu tun und ich würde in den kommenden Jahren gerne daran mitarbeiten dies zu verbessern. Konkret interessiert mich aktuell unter anderem wie digitale Medien uns einerseits darin unterstützen, in der verteilten Arbeit Vertrauen aufzubauen. Digitale Kommunikation aber andererseits auch abgehört und verfälscht werden kann.

Prof. Dr. Alexander Richter, Keynote LEARNING INNOVATION Conference 2018

Interview: Andrea Back

Quelle:
Dieses Interview erschien zuerst in dem Sammelband “10 Jahre Learning Innovation Conference – 22 Interviews”. Hrsg. von Alexander Petsch und Dr. Daniel Stoller Schai, HRM Research Institute 2019.

Lesen Sie mehr Interviews zum Thema “Learning Innovation”:
Lerninnovation: Lesen Sie hier, um was es wirklich geht!