Joël Krapf, Leiter People-, Skills- und Resource Management bei der IT der Migros; zuvor war er bei einer internationalen Beratungsfirma für agile Kultur verantwortlich.

Joel Krapf, Lerninnovation
Joël Krapf

Die Leidenschaft von Dr. Krapf ist die Unterstützung von Menschen und Organisationen, damit diese im digitalen Zeitalter erfolgreich sein und bleiben können.

Seit rund 10 Jahren beschäftigt er sich hierbei insbesondere mit Themen wie Agilität, Future of Work, digitalen Kompetenzen, Learning & Development sowie auch Kulturentwicklung und Change Management.

Dr. Krapf ist Leiter People-, Skills- und Resource Management bei der IT der Migros und war zuvor bei einer internationalen Beratungsfirma für agile Kultur verantwortlich. Er bloggt regelmässig zu seinen Themen.

Lieber Joël, wir starten mit einer ganz generellen Frage, die natürlich den Titel und den Anspruch der Konferenz aufnehmen. Was ist für Dich «Learning Innovation»?

Für mich ist Learning Innovation alles, dass unser Lernen nicht nur anders, sondern auch besser macht. Sei es beispielsweise, indem wir durch Gamification-Elemente mehr Spass am Lernen daran haben. Oder indem uns künstliche Intelligenz dabei hilft, passende Lerninhalte schneller zu finden. Oder auch indem uns neue Lernformen wie Working out Loud darin unterstützen, neue Erkenntnisse zu sammeln. Learning Innovation hat für mich deshalb nicht nur eine technologische Komponente, sondern insbesondere auch eine didaktische. Erst wenn uns eine Erneuerung wirklich im Lernen unterstützt, ist es für mich eine Innovation.

Hast Du ein Beispiel dafür, wie eine konkrete Erneuerung im Lernbereich aktuell das betriebliche Lernen unterstützt?

Ich habe in meinen Beratungsmandaten diverse Innovationen im Lernen begleiten dürfen. Ein tolles Beispiel ist die Einführung eines gamifizierten Apps zur Unterstützung von basalen digitalen Kompetenzen. Das Unternehmen hat nach einer Analyse die wichtigsten Lerninhalte für digitale Kompetenzen definiert und dafür Open Source Videosequenzen gesucht. Diese Lernvideos wurden kuratiert und allen Mitarbeitenden zur Verfügung gestellt. Um herauszufinden, wie erfolgreich die Kompetenzentwicklung ist, wurde eine App entwickelt, bei der die Mitarbeitenden gegeneinander Quiz spielen konnten. Das Unternehmen hat einen Grundstock an Fragen vorbereitet und anschliessend den Mitarbeitenden die Möglichkeit gegeben, selbstständig Fragen zu integrieren. Die Idee dahinter war nicht nur ein grösserer Spass beim Lernen, sondern auch bei der Flexibilisierung der Lernevaluation. Das QuizApp erlaubt durch die user-generierten Fragen eine viel schnellere Anpassung an neue Inhalte als wenn ein Testinstrument zentral bedient würde.

Die Innovation sehe ich bei diesem Beispiel in verschiedenen Aspekten: Beim Lerninhalt (digitale Kompetenzen). Bei der Rollenveränderung der Personalentwicklung (Kuration anstatt strukturiertes Lerncurriculum). Oder auch bei der Lernüberprüfung bzw. Lernevaluation (user-generiertes QuizApp anstatt statischer Test).

Vielen Dank für dieses Beispiel. Hat sich die Rollen oder die Anforderung an die Mitarbeitenden auch geändert? Wie haben sie auf diese App reagiert?

Ja, die Rolle der Mitarbeitenden hat sich in zwei Aspekten signifikant verändert: (1) Sie übernehmen mehr Selbstverantwortung beim Lernen. (2) Sie sind auch zunehmend «Produzent» von Lerninhalten. Dadurch verschiebt sich für die Personalentwicklung mehr und mehr in die Kulturentwicklung. Die Personalentwickler/innen müssen sich in diesem Setting mehr auf die Rahmenbedingungen fokussieren, die selbstverantwortliches Lernen und «user-generated» Content fördern.

Die App befindet sich derzeit in einer Pilotphase, es ist deshalb noch zu früh ein abschliessendes Fazit zu ziehen. Die Pilotgruppe hat im ersten Moment positiv darauf reagiert. Ob es auch nachhaltig genutzt wird, kann ich nicht beurteilen. Der Erfolg der App wird auch davon abhängen, wie gut der oben angesprochene Rollenwechseln gelingt. Dies ist sowohl für die Mitarbeitenden als auch für die Personalentwicklung eine grosse Veränderung, weshalb ein Misserfolg der App noch nicht automatisch hiesse, dass die Innovation kein Potenzial hat.

Was sind für Dich Herausforderungen und Ziele – Strategien / Projekte und Programme im Bereich Lernen und Arbeiten?

Ich werde im Februar bei der IT der Migros als Leiter People-/Skills-/Ressourcen Management starten. Dieses Team begleitet u.a. die menschliche und organisationale Seite einer laufenden Reorganisation. Mein Hauptziel ist es deshalb, die Mitarbeitenden der IT in dieser Veränderung bestmöglich zu unterstützen.

Etwas allgemeiner beschäftigt mich wie seit mehreren Jahren schon die Frage, wie Organisationen und Menschen in einem digitalen Zeitalter erfolgreich werden bzw. bleiben können. Dies bedingt wie ich in meinem Blog oft thematisiere in vielen Fällen einen Paradigmenwandel. Organisationen müssen agiler werden, was je nach Ausgangslage eine 180 Grad Wendung bedingt, was dort als richtig empfunden wird.

Als Menschen müssen wir nicht nur kontinuierlich lernen. Vielmehr müssen wir uns auch regelmässig fragen, welche Kompetenzen wir in Zukunft benötigen und welche bald überflüssig werden, weil uns ein Algorithmus in diesem Bereich überflügelt. Auch hier müssen wir teilweise eine 180 Grad Wendung machen, was wir tun können und wollen.

Die Unterstützung zu diesen grundlegenden Veränderungen ist eine grosse und spannende Herausforderung für mich. Die Strategie ist dabei stets «Think Big and Act Small». Wichtig ist es, kontinuierlich voranzuschreiten. Auch der Mount Everest wird nicht in einem Zuge erklimmt, sondern verlangt wochenlange Akklimatisierung und Teilbesteigungen. Die Schwierigkeit wird es deshalb sein, eine Idee zu haben, wohin es geht und trotzdem dort anzusetzen, wo den Lernenden heute direkt geholfen werden kann.

Das Thema «Kompetenzen» wird immer wieder adressiert. Was sind aus Deiner Sicht Kompetenzen, die in Zukunft gefordert werden? Sind es nur neue überfachliche Kompetenzen oder können wir auch – z. B. in der IT der Migros – konkrete neue fachliche Kompetenzen benennen?

Die Erforschung zukunftsrelevanter, überfachlicher Kompetenzen ist meiner Meinung nach relativ fortgeschritten. Viele Institutionen haben hier bereits ein Modell herausgebracht. Weit verbreitet sind beispielsweise die Modelle der EU oder des WEF. Auf dieser umfangreichen Basis habe für meine Mandate vor einiger Zeit einen vereinfachten Kompass und Selbstcheck für digitale Fitness entwickelt. Dieser wird mittlerweile von vielen Bildungsinstitutionen und Unternehmen angewendet. Dies bestätigt mir, dass auch andere Experten und Expertinnen die dort genannten Mindsets und Kompetenzen als relevant für die Zukunft erachten: https://joel-krapf.com/digital-fitness-check-dfc/

Diese überfachlichen Kompetenzen sind für mich allerdings lediglich Hygienefaktoren, die wir früher oder später alle in einem gewissen Ausmass erfüllen müssen, weil sich die Komplexität unserer Arbeit erhöht. Fachliche Kompetenzen bleiben nach meiner Einschätzung weiterhin zentral, da die Spezialisierung durch die digitale Transformation eher zu- denn abnimmt. Es wird immer weniger Generalisten und mittleres Management brauchen, da sich interdisziplinäre Teams zunehmend selbst organisieren. Dies bedeutet, innerhalb dieser Teams wird es verschiedene Rollen und Fachspezialisten geben. Welche fachlichen Kompetenzen dabei gebraucht werden, ändert sich kontinuierlich. Für IT-Spezialisten ist die Benennung der nötigen Kompetenzen vergleichsweise dankbar, da Swiss ICT einen sehr umfangreichen Katalog erstellt, welche Kompetenzen für die IT wichtig sind.

Vielen Dank, das bringt mich zur nächsten Frage, quasi als logische Weiterentwicklung. Was müssen Betriebe, Organisationen, Bildungsinstitutionen tun, um Lerninnovationen umzusetzen?

Die Grundvoraussetzungen sind sicher Fokus und Kundenzentrierung. Unabhängig in welchem Bereich, das Scheitern ist quasi vorprogrammiert, wenn gleichzeitig mehrere Dinge angegangen werden. Dies liegt nicht nur an den Ressourcen, die so verwässert werden und dazu beitragen, dass sich Projekte über Monate und Jahre hinziehen. Ohne Fokus fehlt oft auch der nötige Biss und die (kognitive) Kapazität, die Hindernisse in der Umsetzung zu erkennen und nachhaltig zu überspringen. Dies liegt u.a. daran, dass Hindernisse weniger erkannt werden oder den üblichen Widerständen zu stark nachgegeben wird und am Ende aus einem Innovationsprojekt nichts Neues entspringt.

Die Kundenzentrierung ist ebenfalls eine Grundvoraussetzung, weil eine Innovation, die kein relevantes Kundenproblem löst, nicht nachhaltig umgesetzt werden kann. So entstehen dann neue Lösungen auf dem Papier, aber Mitarbeitende lernen noch wie zuvor.

Neben den Grundvoraussetzungen Fokus und Kundenzentrierung braucht es in Organisationen bei der Umsetzung noch ein professionelles Change Management. Selbst die beste Innovation hat es schwer, wenn sie nicht entsprechend begleitet wird und es so zu einer effektiven Verhaltensveränderung kommt. Dies bedingt neben einer überzeugenden Change Story u.a. ein intensives Stakeholder Management, die Unterstützung der Führungskräfte, eine transparente und regelmässige Kommunikation oder auch eine entsprechende Lernbegleitung.

Da möchte ich zuerst den Aspekt «Kundenzentrierung» vertiefen. Wir meinen mit Lernen ja meistens in erster Linie individuelles Lernen. Wenn es um Lernen geht, das sich auf Kundenprobleme fokussiert, dann ist das für mich eher organisationales Lernen: wie lernt eine Organisation «Kundenzentrierung» und welche Rolle spielen die Kunden dabei selber (Kundenpartizipation)?

Mit Kundenzentrierung meine ich v. a. die Haltung, mit welcher Lerninnovation in Betrieben, Organisationen oder Bildungsinstitutionen umgesetzt wird. Überall wird eine Dienstleistung gegenüber Lernenden erbracht. Wenn bei der Lerninnovation die Lernenden (also die Kunden) nicht im Zentrum stehen, dann wird die Umsetzung keinen Erfolg haben.

Gut, dann beleuchten wir doch noch den zweiten Aspekt: Change Management; auch das ein Buzzword, das aber auch aus meiner Sicht eine zentrale Rolle spielt. Mich interessiert hier vor allem die Change-Story. Wer entwickelt sie, wer erzählt sie, wer hält ihre Inhalte auf Kurs, bindet aber auch neue Elemente ein, die im während des Change-Prozesse «emergiert» sind?

Am Ende sollten natürlich alle oder möglichst viele Mitarbeitenden die Change-Story mittragen und (weiter-) erzählen. Um dorthin zu gelangen gibt es aus meiner Sicht mehrere Varianten, die sich je nach Organisationskultur mehr oder weniger eignen.

Als Grundsatz für alle Varianten sehe ich, dass wichtige Entscheidungsträger, Fachspezialisten und andere betroffene Stakeholder gemeinsam die Basis der Change Story legen. Wie dies gelingt, ist wie erwähnt auch eine Frage der Organisationskultur. Für einige Organisationen mag es ein Weg sein, die Change Story in einem Grossgruppen-Event gemeinsam zu formulieren. Andere Varianten sind die Formierung einer interdisziplinäre Arbeitsgruppe, bei der alle Gruppen vertreten sind, ein kollektiver Ideenwettbewerb oder ein Design Sprint. Dies nur um einige zu nennen.

Bei der «Begleitung» der Change Story braucht es meiner Meinung nach eine dedizierte Projektgruppe, welche solche emergenten Elemente berücksichtigt und verarbeitet. Unabhängig davon, ob der Change nun eher traditionell oder agil begleitet wird. Es braucht nach meinen Erfahrungen (Projekt-)Mitarbeitende, welche den Fühler am Puls haben und gleichzeitig auch die Kommunikation aktiv prägen.

Die Mitarbeitenden werden ohnehin untereinander sprechen und eine Form der Change Story weitertragen. Ähnlich wie bei politischen oder Marketing Kampagnen ist es deshalb wichtig, die Botschaft durch eine aktive, breite und regelmässige Kommunikation zu prägen. Im Gegensatz zur Politik oder zum Marketing scheint mir die Transparenz und Ehrlichkeit nochmals wichtiger, da ein allfälliger Vertrauensverlust deutlich schwerer wiegt.

Natürlich bleibt bei der ganzen Begleitung des Changes die Einbindung aller Mitarbeitenden wichtig. Nicht nur bei der Change Story. Schliesslich sind es die Mitarbeitenden, welche den Change tragen werden. Im Endeffekt sind es also sie, die den Wandel zum Erfolg bringen.

Was fordert Dich aktuell heraus? Mit was willst Du Dich in den nächsten Jahren beschäftigen?

Mich wird in den nächsten Jahren weiterhin die Frage beschäftigen, wie Mitarbeitende und Organisationen wirksam in der digitalen Transformation unterstützt werden können. Hier möchte ich einerseits gemeinsam mit dem Business motivierende und hilfreiche Lernangebote erarbeiten, um nötige (digitale) Kompetenzen zu entwickeln. Andererseits auch die nachhaltige Entwicklung einer Lernkultur, welche die Agilität der Organisation steigert.

Der oben beschriebene Ansatz von «Think Big and Act Small» bedingt, dass ich regelmässig revidiere, was das grosse Bild sein sollte und dass ich kontinuierlich dort ansetzen muss, wo es den Menschen hilft. Eine sehr spannende Herausforderung, die zwar anstrengend ist, aber bei jedem Schritt vorwärts auch erfreulich.

Da würde ich gerne noch etwas den Begriff «Agilität» vertiefen. Was genau sind «agile» Mitarbeitenden oder anders gefragt, wie hältst Du Dich selber «agil»?

Eine schöne Frage, weil der Begriff Agilität natürlich inflationär gebraucht wird. Für mich heisst Agilität grundsätzlich die Fähigkeit, sich effektiv und effizient zu verändern. Unabhängig davon, ob diese Fähigkeit nun Organisationen oder Mitarbeitende betrifft.

Daraus gibt es für mich drei Grundfragen, welche sich auf diesen Kern der Agilität beziehen: Wie kann ich Verschwendung in meiner Arbeit reduzieren? Wie kann ich ich mich schneller an Veränderung anpassen? Wie kann ich besser wertvollen Wandel initiieren?

Alle anderen Aspekte, die mit Agilität in Zusammenhang gebracht werden wie beispielsweise iteratives Vorgehen, interdisziplinäre Teams, Kundenorientierung, Fokus, Selbstorganisation etc. sind für mich bereits mögliche Lösungsansätze auf diese drei Grundfragen. Für Mitarbeitende ist es aus meiner Sicht deshalb zentral, dass sie sich für ihre spezifische Situation fragen, wie kann ich mich in diesen Grundfragen kontinuierlich entwickeln.

Ich selbst versuche mehrere Strategien anzuwenden, um agil zu bleiben. Beispielsweise führe ich verschiedene Reflexionszyklen durch. So reflektiere ich täglich, was ich am Tag gemacht und was ich daraus gelernt habe. Gleichzeitig hilft mir dabei auch das App HabitBull meine Routinen zu tracken, ob ich genügend auf Wertschöpfung fokussiert war oder nur den vermeintlich dringenden Mails nachgerannt bin. Ich nutze dazu auch Trello und ein Kanbansystem, um mich auf die wichtigsten Arbeiten zu fokussieren und setze mir bewusst auch Zeitblocker in meinem Kalender. Zudem reflektiere ich im wöchentlichen, monatlichen und im Jahreszyklus, welche Ziele ich für die kommende Woche, den kommenden Monat bzw. das kommende Jahr erreichen möchte und was ich dafür tun muss.

Die tägliche Reflexion entstand aus der Erkenntnis daraus, dass ich am meisten aus meiner Arbeit lerne und ich dieses Lernpotential bewusster abschöpfen wollte. Die Reflexion meiner Ziele auf Wochen-, Monat- und Jahresbasis ist ein Experiment, das ich derzeit an mir selber durchführe, nachdem ich kürzlich mehrere Organisationen zum Thema OKR beraten durfte.

Ohnehin ist Lernen ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich lerne gerne etwas Neues und experimentiere dabei auch regelmässig wie ich lerne. Kürzlich habe ich mit einem interorganisationalen WOL-Kreis begonnen. Auch Linkedin Learning oder Coursera habe ich in meine neue Lerndiät aufgenommen, wenn auch noch mit gemischten Gefühlen.

Ich habe das Glück, dass ich eine sehr vielseitige Arbeit habe und so ständig mit interessanten Menschen in Kontakt komme, von denen ich lernen darf. Dieser Austausch mit spannenden Menschen, meine eigene Reflexion sowie das Verarbeiten meiner Erkenntnisse in meinem Blog sind trotz aller Experimente wohl die wichtigsten Strategien für mich, um agil zu bleiben.

Lieber Joël, das ist ein schönes Schlussstatement, das lassen wir so stehen. Ich danke Dir ganz herzlich für den spannenden Austausch.

Joël Krapf, Keynote LEARNING INNOVATION Conference 2018

Interview: Daniel Stoller-Schai

Quelle:
Dieses Interview erschien zuerst in dem Sammelband “10 Jahre Learning Innovation Conference – 22 Interviews”. Hrsg. von Alexander Petsch und Dr. Daniel Stoller Schai, HRM Research Institute 2019.

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