Prof. Tochtermann, das Thema Wissensmanagement ist im Moment für Unternehmen so wichtig wie lange nicht mehr. Woran liegt das?

A group of friends at a coffee shop
Foto von Brooke Cagle

Einen ersten Hype erlebte das Wissensmanagement im Jahr 2002 und 2003. Das lag daran, dass viele erstmals den Wert von Wissensarbeit erkannt haben. Nachdem dieser Boom bereits etwas am Abflachen war, erhält das Wissensmanagement nun durch den Web 2.0-Trend eine neue Dimension. Außerdem macht die riesige Informationsflut, die Unternehmen bewältigen müssen, Wissensmanagement zu einem großen Thema. Studien besagen, dass allein im Jahr 2003 für fünf Exabyte neue Informationen in elektronischer Form generiert wurden - das ist eine Trillion, also eine Zehn mit 18 Nullen. Um sich das konkreter vorzustellen: Das wären 37 000 Mal die 17 Millionen Bücher der Library of Congress. Im Jahr 2006 gab es schon zweiunddreißig Mal so viel digitale Informationen als im Jahr 2003. Von 2006 bis 2010 wird sich die Informationsmenge wieder versechsfachen, aber natürlich auf einem viel höheren Niveau.

Warum sind Blogs, Wikis und Co. angesichts dieser Datenflut für das Wissensmanagement so bedeutsam?

Im Wissensmanagement mussten wir in der Vergangenheit immer Überzeugungsarbeit leisten: Dahingehend, dass das Teilen von Wissen mehr bringt als das Wissen, gemäß der Diktion „Wissen ist Macht“, für sich zu behalten. Bisher fehlte vielen Menschen einfach der Grund, Wissen herzugeben, was einer Katastrophe für das Wissensmanagement gleichkommt. Mit dem Web 2.0 entsteht hingegen eine völlig neue Kultur: Es ist plötzlich „in“, Wissen und Informationen weiterzugeben, es in Plattformen einzugeben und mit dem Wissen anderer zu kombinieren. Im Kopf vieler Internetnutzer findet gerade ein Veränderungsprozess statt: weg von „das gehört mir“ hin zu „das gehört uns“.

Wie hat das Web 2.0 zu diesem Umdenken beigetragen?

Das ist keine gezielt gesteuerte Entwicklung. Es ist jetzt einfach trendy, Wissen zu teilen. Die Gemeinschaften, die Nutzer im Internet eingehen, haben die Möglichkeiten entdeckt, sich selbst zu organisieren. Das ist ein entscheidender Punkt: Es handelt sich beim Web 2.0 um eine Bottom-Up-Entwicklung. Die Communitys bestimmen beispielsweise, welche Plattformen bestehen bleiben und welche wieder verschwinden, einfach dadurch, ob das Angebot angenommen wird oder nicht. In gewisser Weise ist das ein Selbstläufer. Sobald jemand anfängt zu steuern, wird eine Plattform oft boykottiert.

Kommt es also eher auf die kollaborative Arbeitsweise an und weniger auf das Instrument an sich?

Wer nicht kollaboriert, der kollabiert. Unternehmen können nicht mehr ihr komplettes Wissen im Unternehmen selbst haben, um ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung anzubieten - einfach deshalb, weil die Produkte und Dienstleistungen immer wissensintensiver werden. Das heißt, es ist immer mehr Wissen für die Leistungserbringung erforderlich. Aus diesem Grund muss Wissen von Kompetenzträgern aus verschiedenen Unternehmen kombiniert werden. Web-2.0 Mechanismen unterstützten dabei, zusammenzuarbeiten und hohe Wissensmengen beherrschbar zu machen.

Gibt es Web-2.0-Instrumente, die besser geeignet sind für das Wissensmanagement als andere?

Jeder denkt sicherlich zunächst an Blogs und Wikis, wenn es um Web 2.0 geht. Das sind auch diejenigen Instrumente, mit denen Unternehmen am besten den Wissenstransfer fördern können. Unternehmensintern werden bisher meistens Wikis eingesetzt. Wir verwenden bei uns im Know-Center in zahlreichen Projekten zum Beispiel Projekt-Wikis anstelle von Protokollen. In diesen Wikis wird die gesamte Projekthistorie dokumentiert: Fortschritte und Veränderungen. Wikis haben den Vorteil, dass sie eher kollaborativ wirken, weil ich nicht als Person auftrete wie in einem Blog. Ich schreibe einen Text hinein und meine Kollegen überarbeiten ihn. So entsteht ein gemeinsames Ganzes. Beim Blog hingegen steht die Diskussion über Kommentare im Vordergrund. Das ist geeignet um Partner zu finden und zu netzwerken.

Wie können Unternehmen sicherstellen, dass die Mitarbeiter möglichst schnell passende Inhalte finden?

Wichtig ist nicht nur, dass die Mitarbeiter Informationen finden, sondern vor allem, dass sie die Beziehungen zwischen Wissenseinheiten richtig einschätzen. Ein Beispiel: In den 70er Jahren hatten wir den RAF-Anwalt namens Schily, in den 80er Jahren hatten wir einen Grünenpolitiker namens Schily und der letzte SPD-Innenminister war ein gewisser Herr Schily. Die Frage ist: Ist das ein und dieselbe Person? Sind das zwei verschiedene und eine andere Person? Es geht also darum, die Inhalte in einem Zusammenhang zu setzen, was in diesem Beispiel zu dem Ergebnis führt, dass es sich um eine Person mit dem Namen Schily handelt. Wir beschäftigen uns im Know-Center derzeit mit dem so genannten semantischen Web, das solch intelligente Suchanfragen erlaubt. Die Zukunft des Wissensmanagements sehe ich darin, die Social Software des Web 2.0 mit semantischen Technologien zu verbinden. Damit ein Nutzer die richtigen Inhalte findet, können auch Skillsysteme eingesetzt werden, in denen die Fähigkeiten der Mitarbeiter abgebildet sind. Solche Systeme und ihre Kombination mit Suchverfahren werden derzeit bei uns im Know-Center entwickelt.

Was steckt hinter diesen Skillsystemen?

Den Nutzern werden bestimmte Qualifikationsprofile zugeordnet. Diese sind unterschiedlich in Abhängigkeit des Themengebietes. Ich kann also ein Experte sein im Thema Web 2.0, bin aber ein Novize im Bereich E-Learning. Das Skillprofil entsteht in Teilen automatisch, etwa durch die Themen, über die ein Nutzer etwas schreibt. In der Folge bestimmt mein Profil, welche Inhalte mir das System in der Suche anzeigt: Es sollen solche Inhalte sein, die meinem Qualifikationslevel entsprechen. Das Ergebnis kann ein Dokument, eine Community oder eine Liste von Experten sein, die zu meiner Fragestellung etwas wissen. Dabei gibt es nicht mehr die Wissensmanager, die dafür zuständig sind, dass das Wissen an einer zentralen Stelle abgelegt und verfügbar ist. Wenn ein als Experte identifizierter Mitarbeiter ein Dokument erstellt, wird es mit automatischen Klassifikations- und Retrievalmethoden bestimmten Themenkreisen und dem passenden Expertenlevel zugewiesen. Mithilfe dieser Technologien verschwimmen die Grenzen zwischen Autor und Leser.

Was ist in einem solchen System eigentlich noch der Unterschied zwischen Wissensmanagement und Weiterbildung?

Ein großer Trend ist die Integration von E-Learning und Weiterbildung in das Wissensmanagement. Lange Zeit galt das als etwas Separates, aber was ich eben beschrieben habe, ist wirklich die Verknüpfung von Wissen und Lernen. Wir nennen das Work Place Integrated Learning: Wissensarbeiter bilden sich an ihrem Arbeitsplatz selbst weiter, dadurch dass sie Dokumente erstellen und Dokumente von Kollegen zur Verfügung gestellt bekommen, die ihnen in ihrer aktuellen Situation helfen. Dass dieser Trend nötig ist, wird auch durch Studien belegt, die besagen, dass nur etwa 30 Prozent dessen, was man in einer externen Weiterbildung lernt, auch wirklich am Arbeitsplatz zum Einsatz kommt. Umgekehrt ist es so, dass 80 bis 90 Prozent des notwendigen Wissens am Arbeitsplatz erworben wird. Es geht also in Zukunft nicht mehr darum, den Wissensarbeiter zum Lernen zu schicken, sondern darum, das Lernen zum Wissensarbeiter zu holen.

Dazu müssen die Nutzer eines solchen Systems aber auch aktiv werden. Und das tut – Beispiel Wikipedia – bekanntlich immer nur ein Bruchteil, oder?

Es sind in etwa ein Prozent der Nutzer, die aktiv sind und der Rest liest oder konsumiert nur. Andererseits ist es so, dass die Zahl der aktiven Nutzer im Internet sehr stark zunimmt. Das lässt sich zum Beispiel am Ranking der Top-Mediasites, also den Webseiten der großen, internationalen Zeitungen und Medien, sehr gut nachvollziehen. Das Ranking richtet sich danach, wer die meisten Seitenaufrufe hat und unter den ersten 100 waren im Jahr 2006 schon 12 Blogs. Platz Nummer fünfzehn ist inzwischen ein Blog und keine Mediasite. Das zeigt, dass Einzelpersonen zunehmend bereit sind, Ihr Wissen bereitzustellen.

Was empfehlen Sie Unternehmen, um die Beteiligung der Belegschaft am Wissensmanagement zu erhöhen?

Vor allem sollten sie ihre Ziel klar formulieren. Häufig beobachten wir, dass Unternehmen, die ein Content Management System haben, ein Web-2.0-System einführen wollen, weil sie davon gehört haben, aber nicht, weil sie ein klares Ziel damit verfolgen. Ein Ziel könnte bei einem Blog des Geschäftsführers beispielsweise einfach sein, Mitarbeiter über die wichtigsten seiner Tätigkeiten zu informieren, um so die Transparenz im Unternehmen zu erhöhen. So einen Blog betreibe ich mit großem Erfolg im Know-Center. Außerdem muss das Wissensmanagement Teil der Kultur werden. Das bedeutet zum Beispiel auch, dass das Unternehmen Verständnis dafür aufbringt, dass Wissensmanagement Zeitaufwand kostet. Die Mitarbeiter müssen Freiräume haben, um Inhalte erstellen zu können. Zudem begehen viele Unternehmen den Fehler, das System zu sehr zu steuern und Regeln aufzustellen, die nicht angenommen werden.

Welche Bedeutung haben Online-Plattformen und Social Networks für ein gelungenes Wissensmanagement?

Wie diese Portale auf Unternehmen wirken können, wenn sie unterschätzt werden, verdeutlicht zum Beispiel der Fall der Firma Kryptonite, die hochsichere Fahrradschlösser herstellt. Eines Tages wurde auf Youtube ein Video veröffentlicht, das zeigt, wie diese hochsicheren Fahrradschlösser mithilfe eines Kugelschreibers geöffnet werden können. Das ging durch die Web-2.0-Szene und wurde dort diskutiert. Kryptonite hat von diesem Imageschaden nichts mitbekommen oder erst als die traditionellen Medien, Zeitungen und Zeitschriften, das Thema aufgegriffen haben. Dann war es aber eigentlich schon zu spät. Schätzungen gehen davon aus, dass der Vorfall Kryptonite rund 10 Millionen US Dollar gekostet hat. Das zeigt, dass Unternehmen diese Web-2.0-Anwendungen, an die man zunächst beim Wissensmanagement gar nicht denkt, nicht außer Acht lassen können.

Also ist inzwischen das gesamte Internet eine Plattform für Wissensmanagement, an der auch die Unternehmen teilhaben?

Ja, genau. Und paradoxerweise glaube ich fast, dass Wissensmanagement über Unternehmensgrenzen hinweg viel besser funktionieren kann als das Wissensmanagement in Unternehmen. Das hängt mit Karrierepfaden in Unternehmen zusammen, mit der bereits erwähnten Einstellung „Wissen ist Macht“ oder damit, dass die Kollegen auch Konkurrenten sein können. Der Nutzen kann viel höher sein, wenn das Wissensmanagement nicht nur in Unternehmen bleibt.

Interview: Stefanie Hornung