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Foto von Alex Knight

Auch wenn de Waal und Hersey/Blanchard sich vermutlich nie getroffen haben: Beide Erkenntnisse aus der Evolutionsforschung und der Führungsstilanalyse führen zur Ableitung des „Unvorhersehbaren Führungsstils“.

Wird die Autorität des Chefs in Frage gestellt, dann häufig, weil der “Positions-Chef”, der “Beziehungs-Chef” oder der “Formalien-Chef” denkt, er sei in einem höheren Entwicklungstand als sein Vorgesetzter. Er möchte seinen gewählten Zielbereich erlangen oder verteidigen. Und dies mit der sicheren Gewissheit, dass er seinen “Chef” kennt und seine Schwachstellen anzapfen kann.

In dieser Situation gibt es nur eins: unvorhersehbar agieren, um die Autorität wiederzuerlangen. Dabei geht es nicht um „in den Rücken fallen mit überraschenden Verhaltensweisen“, sondern um ein klares Konzept der Führung.

Beim Unvorhersehbaren Führungsstil wechseln die Führungskräfte zwischen den Führungsstilen dirigieren-trainieren-coachen-delegieren. Das bedeutet: In verschiedenen Führungssituationen wenden sie verschiedene Führungsstile an:

Sie reagieren mal autoritär „Wie ich meine Entscheidungen treffe, Frau Krämer, müssen Sie mir schon überlassen“. In einer anderen Situation wiederum lobend, anerkennend „Frau Krämer, sie mit Ihrer umfangreichen fachlichen Kompetenz haben das Projekt hervorragend gestemmt“ oder auch coachend „Frau Krämer, aus meiner Sicht brauchen Sie hier noch etwas Unterstützung“.

Wichtig dabei ist, dass diese Verhaltensweisen begründet sind, d.h. Lob und Anerkennung auch verdient wurde, klare Ansagen auch notwendig sind. Keinesfalls dürfen verschiedene Führungsstile “willkürlich” angewendet werden – die eigene Glaubwürdigkeit ist dann in Gefahr.

Diesen unvorhersehbare Führungsstil zu praktizieren ist insbesondere deshalb anfangs schwierig, weil die meisten Führungskräfte einen oder zwei „Lieblings-Führungsstile“ haben (häufig trainieren und coachen) und sich davon lösen müssen.

Aber es lohnt sich.

Diese Unvorhersehbarkeit nimmt dem „Positions-, Beziehungs-, Formalia-Chefs“ das, womit er bei Ihnen immer gerechnet hat: Dass er Sie kennt, Sie gut einschätzen kann, über Ihre Schwächen Bescheid weiß und demzufolge auf diese gerne aufmerksam macht.


 


Es fängt an mit kleinen Sticheleien ihres Mitarbeiters: „Ja, Chef, meinen Sie, Ihre Entscheidung ist richtig gewesen?“ – garniert mit einem ganz freundlichen Lächeln.

Ein paar Tage später „Chef, meine Kollegin ist wegen dem, was Sie gestern gesagt haben, ganz verzweifelt. Ich sage es auch nur, weil ich Sie vorwarnen möchte. Es kann sein, dass Frau Krämer heute früher nach Hause geht“.

Zwei Wochen später: „Chef, ich möchte mich da nur ungern einmischen. Aber ich möchte auch ehrlich zu Ihnen sein: die Entscheidung, das Budget für die Teamfeier zu kürzen, kam nicht gut an. Ich sag´s ja nur.“

Solche kleinen Spitzen, jede Woche, jeden Tag können Vorgesetzte schon verunsichern. Und wenn diese Spitzen noch von einem Mitarbeiter kommen, der langjährige Erfahrung hat und eine gewisse Anerkennung im Team genießt, kann man das auch nicht einfach abstreifen. Denn grundsätzlich möchte man in einem Team zusammenarbeiten und das Gefühl haben, die eigene Autorität wird nicht ständig in Frage gestellt.

Wie kann man hier reagieren, was ist richtig, was ist falsch?

Erklärungsansätze bietet die Forschung von Frans de Waal, ein Forscher, der sich seit Jahrzehnten mit der evolutionären Konfliktforschung auseinandersetzt.

Frans de Waal stellt den Grundsatz auf, dass

Konflikte nicht in erster Linie dazu dienen, eine Versöhnung herbeizuführen – sie sollen helfen, die eigenen Ziele zu erreichen.

Er stellt damit die These in Frage, dass nur nach den Ursachen eine Konfliktes zu suchen ist um eine Lösung zu erzielen („Vielleicht fühlt sich mein Mitarbeiter in der Arbeitsumgebung nicht wohl, ist über- oder unterfordert, ist gestresst, man kann ja verstehen, dass sie/er durch den Führungswechsel.. usw…). De Waal sagt, dass mit jedem eingegangenen Konflikt Ziele erreicht werden sollen. Und erst, wenn jede Konfliktpartei diese Ziele zumindest annähernd erreicht hat, ist sie bereit zu einer Versöhnung.

Diese Ziele der Konflikte sind:

          Status erlangen / verteidigen

          Konkurrenz ausgrenzen

          Soziale Beziehungen herstellen / verteidigen

          Knappheit regulieren (z.B. Güter, Budgets, Lebensmittel, Macht)

Die Einfachheit dieser Ziele ist durchaus beeindruckend. Mit diesen Zielen lassen sich Nachbarschaftsstreitigkeiten und auch internationale Konflikte erklären. Und damit auch das Infragestellen der Autoriät der Führungskraft.

Um hier Licht ins Dunkel der menschlichen Verhaltensweisen zu bringen, muss die angegriffene Führungskraft eine sachliche – wenn möglich wertfreie- Konfliktanalyse durchführen. Sie beginnt mit der Frage:

Welche Ziele verfolgt mein Mitarbeiter damit, die Autorität seiner Führungskraft in Frage zu stellen?

Will er/sie

1. Ihren Status erhalten oder verteidigen?
Wenn der „Infragesteller“ ein anerkanntes Mitglied des Teams mit langjähriger Erfahrung ist, kann es sein, dass dieser Mitarbeiter denkt, dass er eigentlich die Chefposition verdient hätte und nicht der tatsächlich eingestellte Vorgesetzte.

Dann geht es ihm darum, zumindest den Status der „inoffiziellen Leitung“ durch regelmäßiges Infragestellen zu erhalten und zu untermauern.

Damit wird auch der Weg zu

2. „Konkurrenz ausgrenzen“

beschritten. Zwar ist der Chef nicht unmittelbare Konkurrenz für den Mitarbeiter – schlichtweg durch die formale Hierarchie und den formalen Status, den er besitzt. Im Denken dieser Mitarbeiter exisitiert jedoch eine klare Konkurrenz die sagt: Ich bin eigentlich der bessere Chef,  und wenn ich die Funktion schon nicht erhalten habe, dann werde ich ihn immer wieder darauf hinweisen.

Ein Mitarbeiter, der in diesem Zielbereich 1&2 agiert, nennen wir den “Positions-Chef” – ein Mitarbeiter, der nicht die Position eines Chefs innehat, aber der Meinung ist, er hätte sie verdient.

 3. Soziale Beziehungen herstellen/verteidigen?

Wenn der reale Chef für das Team schwer erreichbar ist, nimmt sich das Team einen „eigenen“ Chef, jemanden, der sich um sie kümmert, sich ihre Sorgen anhört, zwischen den Parteien vermittelt. Ein Mitarbeiter, der in diesem Zielbereich agiert, nennen wir den “Beziehungs-Chef” – ein Mitarbeiter, der sich berufen fühlt, für sein Team zu sprechen und damit eine inoffizielle Führungsposition erlangen möchten.

Diese „Beziehungs-Chefs“ oder auch „inoffizielle Führer“ haben ein enormes Netzwerk und damit gleichzeitig eine enorme Macht. Dieses Netzwerk gilt es für diese Menschen zu stabilisieren und aufzubauen.

Fazit: Das Spiel als Mittler „Chef, ich sage Ihnen, wie es den Mitarbeitern geht, denn Sie sehen das ja nicht“ ist das Spiel des Beziehungs-Chefs.

4. Knappheit regulieren

Manche Mitarbeiter fühlen sich als Konfliktlöser geradezu berufen.

Sie werden im Team auserkoren. „Geh´ Du mal hin, Du kannst das so gut ausdrücken“. Gerade, wenn es darum geht, knappe Ressourcen wie Budget, Material oder Personal zu verteidigen oder zu regulieren, ernennt das Team einen „Sprecher“ – ganz ohne erkennbare Zeremonie. Und dieser Sprecher ist berufen, die Knappheit zu regulieren.
In Zeiten der Knappheit greift dieser Mitarbeiter gerne auf bestehende Regeln und Formalien zurück. “Die Dienstanweisung von 1998 besagt aber,…”, ” Wenn ich mich recht entsinne, haben wir in unserem Protokoll von….aber festgehalten, dass..”

Ein Mitarbeiter, der in diesem Zielbereich agiert, nennen wir den “Formalien-Chef” – ein Mitarbeiter, der sich berufen fühlt, für sein Team zu sprechen und damit eine inoffizielle Führungsposition erlangen möchten.


In einem zweiten Schritt ist zu hinterfragen: In welchem Entwicklungsstand befindet sich dieser Mitarbeiter? Im Führungsmodell des „Situativen Führens“ von Hersey und Blanchard gibt es vier Entwicklungsstände:
1.
Ist er im Team hoch motiviert, aber Anfänger, d.h. ohne Kompetenz?
2. Ist er selbst demotiviert, weil er beim Erwerb seiner Kompetenzen auf Hindernisse stößt?
3. Schwankt seine Motivation, obwohl seine Kompetenz schon ganz gut ausgeprägt ist oder ist er
4. der Fachmann mit hoher Motivation, der den „Laden in und auswendig kennt“?

Im Führungsmodell des „Situativen Führens“ von Hersey und Blanchard werden jedem dieser Entwicklungsstände („E“) entsprechende Führungsverhaltensweisen zugeordnet.

 

Entwicklungsstand E1

Ein Mitarbeiter mit hoher Motivation, aber geringer Kompetenz braucht

Dirigierender Führungsstil

– klare Ziele

– Richtlinien darüber,
wie gute Arbeit aussieht

– Informationen darüber,
wie Leistung beurteilt wird

– Training-on-the-job

– Aktionspläne: Anweisung über das Wie, Wann und Mit-wem

– Zeitvorgaben

– Prioritätensetzung

– Einschränkungen und Begrenzungen von Autorität und Verantwortlichkeit

– häufiges Feed-Back über erzielte Ergebnisse

Entwicklungsstand E2

Ein Mitarbeiter mit niedriger Motivation und langsam steigender Kompetenz braucht

Trainierender Führungsstil

– klare Ziele

– Perspektive, Ausblick

– häufiges Feedback über erzielte Ergebnisse

– Lob für Fortschritte

– die Gewissheit, dass
Fehler gemacht werden dürfen

– Erklärungen über das Warum

– Möglichkeiten, über Bedenken zu reden

– Ermutigung

Entwicklungsstand E3

Ein Mitarbeiter mit schwankender Motivation und mittlerer bis hoher Kompetenz braucht

Coachender Führungsstil

– einen erreichbaren Mentor oder Coach

– Möglichkeiten, über Bedenken zu reden

– Unterstützung und Ermutigung bei der Entwicklung von Problemlösungsfähigkeiten

– Hilfe bei der objektiven Betrachtung seiner Fertigkeiten, um Selbstvertrauen aufzubauen

– Lob und Anerkennung für hohe Kompetenz und Leistung

– Beseitigung von Hindernissen bei der Zielerreichung

Entwicklungsstand E4

Ein Mitarbeiter mit hoher Motivation und hoher Kompetenz braucht

Delegierender Führungsstil

– vielfältige und herausfordernde Aufgaben

– eine Führungskraft, die eher Mentor und Kollege
als Chef ist

– Anerkennung für Erreichtes

Selbständigkeit und Autorität

– Vertrauen

 


Silke Wöhrmann, Dipl.-Kfm., Trainer und Berater in Profit und Non-Profit Organisationen, Konzeptentwicklung für Lehr-/Lernprozesse, Führungskräfteentwicklung, Coach, Beratung von Organisationen in Personalentwicklungs- und Organisationsentwicklungsprozessen, Lehrbeauftragte für Social Skills, Werbe- und Wirtschaftspsychologie, Führung
Email info@apt-woehrmann.de, www.apt-woehrmann.de

Frans de Waal: Peacemaking among Primates. Harvard University Press, Cambridge,    Mass 1989. deutsch *Frans de Waal: Wilde Diplomaten. Versöhnung und Entspannungspolitik bei Affen und Menschen. Carl Hanser Verlag, München 1991

Hersey, P. / Blanchard K.H.: (1987) Management of organizational behaviour: Utilizing human ressources Englewood Cliffs N.J.

Schlagen Sie diesen Weg des „Unvorhersehbaren Führungsstils“ ein,  erwartet Sie Protest, Kopfschütteln, erstaunte Blicke ihres „Beziehungs-Chefs“. Wahrscheinlich geht er auch ins Team und sagt: „Irgendwas ist mit unserem Vorgesetzten heute los“. Dies ist der Zeitpunkt, an dem die selbsternannten “Chefs“ merken, dass sie nicht mehr die volle Kontrolle über ihren Vorgesetzten haben und reagieren unsicher. 

An einem schönen Tag – und das kann, je nach Intensität des Konfliktes, durchaus ein paar Monate dauern – wird z.B. der „Beziehungs-Chef“ zu Ihnen sagen: „Wissen Sie, ich weiß gar nicht mehr, woran ich bei Ihnen bin“.

Ab diesem Tag haben Sie wieder alle Zügel in der Hand.