Muss sich die Evaluierung auf die gesamte Belegschaft beziehen –
 oder reicht es, sich auf einzelne Mitarbeitergruppen zu konzentrieren?

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Foto von Alesia Kazantceva

Die Tiefe und Breite der Evaluation hängt sowohl von der Größe und Art des Betriebes als auch von der Art des gewählten Verfahrens ab. Eine Befragung bezieht beispielsweise meist alle Beschäftigten ein, andere Verfahren wie Gruppeninterviews oder Beobachtungsanalysen zielen auf einzelne Mitarbeitergruppen.

Grundsätzlich beschäftigt sich die Arbeitsplatzevaluierung mit den Arbeitsbedingungen, die auf jeden Menschen einwirken, der diese Tätigkeit innehat – unabhängig von der einzelnen Person. Nicht alle Verfahren basieren auf Befragungen der gesamten Belegschaft. Unternehmen müssen allerdings die psychischen Belastungsfaktoren der Arbeitsbedingungen aller Arbeitsbereiche und Beschäftigtengruppen in einem ausreichenden Maße ermitteln und beurteilen. Dabei sind vier Dimensionen zu berücksichtigen (§§ 4, 7 ASchG):

  • Belastungen durch Arbeitsaufgaben und Tätigkeiten (z. B. emotionale Kundenkontakte, hohe Konzentrationsanforderungen und quantitative beziehungsweise qualitative Unter- oder Überforderung),
  • Belastungen durch das Organisationsklima (z. B. mangelhafte Zusammenarbeit und Unterstützung, fehlende Rückmeldungen und Information sowie ungenügender Gestaltungsspielraum),
  • Belastungen durch die Arbeitsumgebung (z. B. Lärm, Mängel bei Beleuchtung und Umgebungsklima, fehlender Platz und Mängel der Arbeitsplatzausstattung),
  • Belastungen durch die Arbeitsabläufe und Arbeitsorganisation (z. B. unklare Ziele und Verantwortlichkeiten, Doppelarbeit, oftmalige Unterbrechungen, belastende Arbeitszeit- und Pausengestaltung).

 

Welche Verfahrenstypen eignen sich für die Evaluierung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz?

Laut Arbeitsinspektion müssen qualitätsgesicherte, standardisierte und geeignete Erhebungsinstrumente/Verfahren zum Einsatz kommen. Dabei verweist die Organisation in einem Merkblatt auf die ÖNORM EN ISO 10075-3. Danach gehören schriftliche Befragung per Fragebogen, moderierte Gruppeninterviews beziehungsweise Einzelinterviews und Beobachtungsanalysen zu den möglichen Messinstrumenten. Laut Merkblatt kann es notwendig und sinnvoll sein, unterschiedliche Verfahren heranzuziehen, um die Belastungen in verschiedenen Arbeitsbereichen und Beschäftigtengruppen umfassend analysieren zu können.

Dürfen Unternehmen bestehende Verfahren individuell an ihre Bedürfnisse anpassen?

Unternehmen müssen alle Verfahren zur Evaluierung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz nach statistisch-methodischen Regeln einsetzen und auf Basis arbeitspsychologischer Fachkunde interpretieren. Sehr häufig besteht in Betrieben der Wunsch, Erhebungsinstrumente durch Zusatzfragen zu ergänzen. Doch dagegen sprechen mehrere Argumente. Zum einen ist es Bestandteil jeder testtheoretischen Prüfung, die darin verwendeten Items daraufhin zu prüfen, ob und wie gut sie das messen, wofür sie konstruiert wurden. Ein standardisiertes Verfahren mit abgesicherter Verfahrensgüte deckt die zu erhebenden Inhalte gut ab und muss daher nicht durch weitere ungeprüfte Fragen ergänzt werden. Jede Änderung setzt vielmehr die ÖNORM EN ISO 10075-3 außer Kraft. Zum anderen werden standardisierte Verfahren nicht für einen einzigen Betrieb maßgeschneidert, sondern decken generelle Aspekte unterschiedlicher Betriebe ab, sind also universell einsetzbar und erlauben daher auch Datenvergleiche.

Ein begrenzter Item-Umfang ist immer mit einem Verzicht an Detailliertheit verbunden.Die qualitative Aufarbeitung von Erhebungsdaten bringt in der Regel aber alle in einem Betrieb bestehenden Belastungsfaktoren ans Licht. So gesehen ist die quantitative Erhebung ein grobes Sieb und der zweite qualitative Schritt ein feines Sieb, in dem alle wesentlichen Details hängen bleiben sollten.

 

Was sollte nach der Evaluierung passieren?

Die Arbeitsplatzevaluierung beschränkt sich nicht auf das Ermitteln und Beurteilen von Gefahren. Unternehmen müssen auch geeignete Folgeaktivitäten planen, deren Wirksamkeit überprüfen (§ 4 ASchG), dokumentieren (§ 5 ASchG) und an die Beteiligten zurückmelden. Veränderungen, die der Verbesserung von Arbeitsbedingungen dienen sollen, müssen ursachenbezogen und kollektiv wirksam sein. So schreibt es das ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (§ 7 ASchG) in den Grundsätzen der Gefahrenverhütung fest. Das bedeutet, dass Unternehmen Arbeitsbedingungen, die zu Fehlbelastungen führen, so anpassen müssen, Dass eine personenunabhängige Verbesserung an den betreffenden Arbeitsplätzen entsteht.

 

Fazit

Die Evaluierung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz ist ein entscheidender Baustein der betrieblichen Gesundheitsförderung. HR-Verantwortlichen bietet die Arbeitsplatzevaluierung eine große Chance: Sehr häufig kreisen die Evaluierungen um Belastungsfaktoren, die Arbeitsbedingungen oder Organisationsstrukturen betreffen. Sie zu bearbeiten, gelingt mit dem Rückenwind gesetzlicher Regelungen wesentlich besser. Viele Personalverantwortliche ergreifen diese Chance bereits. Sie sind eine ideale Besetzung, um Projekte der Arbeitsplatzevaluierung psychischer Belastungen zu leiten. Denn sie haben einen Blick über die gesamte HR-Situation im Betrieb, sind es gewohnt, Projekte zu planen und Prozesse aufzusetzen, und wissen, welche Erfolgsfaktoren und Stolpersteine im Unternehmen existieren.

 

Literaturtipps

Arbeitsplatzevaluierung psychischer Belastungen nach
dem ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG).

Merkblatt. Hrsg. BMASK/Zentral-Arbeitsinspektorat, WKÖ, IV.

Bewertung der Arbeitsplatzevaluierung psychischer Belastungen
im Rahmen der Kontroll- und Beratungstätigkeit. Leitfaden für die Arbeitsinspektion.

Von Elisabeth Huber, Martina Molnar und Julia Steurer.
Hrsg. v. BMASK/Zentral-Arbeitsinspektorat 2013.

Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. Erfahrungen und Empfehlungen.
Hrsg. von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.
Erich Schmidt Verlag 2014.

IMPULS-Test|2 Professional – Online-Fragebogen zur
arbeitsbezogenen Bewertung psychischer Belastungsfaktoren.

Von Martina Molnar, Thomas Scheck und Leonard Schünemann. In: Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit. Asanger-Verlag, 18/2014. S. 117-120.

Evaluierung arbeitsbedingter psychischer (Fehl-)Belastungen –
Praktische Bedeutung für die Arbeitsinspektionen.

Von Martina Molnar. In: Handbuch ArbeitnehmerInnenschutzgesetz.
WEKA-Verlag 2011.

 

Psychische Belastungen: Evaluierung –
Vorbeugung – Arbeitsgestaltung.

Von Martina Molnar. In: Ausbildung zur Sicherheitsfachkraft.
5. Aufl., Bohmann-Verlag 2010.

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Quelle: personal manager | Ausgabe 2 – 2015 > www.personal-manager.at
Foto: Bernd Kasper | www.pixelio.de

Welche Vor- und Nachteile haben die unterschiedlichen Verfahrenstypen?

Schriftliche Befragung

  • Hohe quantitative Aussagekraft bei hoher Ökonomie: Mit einer standardisierten schriftlichen Befragung erreichen Unternehmen alle Arbeitnehmer. Die Ergebnisse sind sehr breit und der zeitliche Aufwand ist vergleichsweise gering. Meist setzen große Organisationen flächendeckende Befragungen ein, da die Aussagekraft und das Gewicht der Ergebnisse umso größer ist, je mehr Menschen sich an der Befragung beteiligen.
  • Gesamtüberblick erlaubt Schwerpunktsetzung für Detailanalysen: Befragungsergebnisse lassen sich nutzen wie Suchscheinwerfer. Mithilfe der vorhandenen Daten können Unternehmen genau den Bereich beleuchten, den sie genauer betrachten möchten. Quantitative Ergebnisse zeigen allerdings nur Belastungsschwerpunkte für bestimmte Bereiche oder Personengruppen. Um welche Belastung es sich im Einzelfall handelt, müssen Organisationen in der Regel in vertiefenden Schwerpunktanalysen ermitteln.
  • Methodenkompetenz: Befragungen setzen eine gewisse Methodenkompetenz voraus. Sie sollten von Personen durchgeführt werden, die statistisch-methodische Erfahrung haben. Ohne Wissen über testtheoretische Zusammenhänge unterlaufen Nutzern Fehler im Umgang mit den Verfahren. Sie nehmen zum Beispiel ganze Teile oder einzelne Items (Fragen) aus einem Fragebogen heraus, fügen Items hinzu oder verändern sie. Damit misst das Verfahren nicht mehr das, was es messen soll. Die Ergebnisse können – ähnlich wie nach Entfernung einer tragenden Mauer – sozusagen zusammenbrechen. Das Verfahren erfüllt dann auch nicht mehr die ÖNORM EN ISO 10075-3. Bei der Dateneingabe lassen sich oft Eingabefehler beziehungsweise Berechnungsfehler sowie mangelnde Kenntnisse einer fundierten Interpretation beobachten. Liegen unkorrekte Aussagen vor, ziehen Unternehmen auch falsche Schlussfolgerungen.

 

Gruppeninterviews

  • Hohe qualititative Aussagekraft bei mittlerer Ökonomie: Gruppeninterviews sind ebenfalls standardisiert. Sie bieten den Befragten aber die Möglichkeit, individuelle Antworten zu geben. Die Interviews erzeugen qualitative Ergebnisse – aber nur bezogen auf die teilnehmende Gruppe. Sie sind zeitlich aufwendiger als schriftliche Befragungen und bieten nur ausgewählten Mitarbeitern die Möglichkeit, sich zu beteiligen. Dadurch fühlen sich nicht alle einbezogen. Der Einsatz dieser Methode ist daher am ehesten in mittleren und kleinen Betrieben empfehlenswert. Auch bei Beschäftigtengruppen, die wenig Erfahrung mit Schrift und Sprache haben, können Gruppeninterviews sinnvoll sein.
  • Mehrere Detailergebnisse ergeben erst am Ende einen Gesamtüberblick: Erst am Ende des Prozesses aus mehreren Gruppeninterviews hat eine Organisation – in Abhängigkeit von der Anzahl der Workshops und den ausgewählten Teilnehmern – im Idealfall auch eine Gesamtübersicht aller festgestellten Belastungsfaktoren. Methodenkompetenz: Ein moderiertes Interview mit dem Ziel, alle relevanten Dimensionen potenzieller arbeitsbedingter psychischer Belastungen zu erfassen,  erfolgt nicht offen und themenfrei, sondern strukturiert und standardisiert. Dies erfordert Moderationskompetenz, um in einer festgelegten Zeit die definierten Inhalte systematisch erfragen zu können. Personen, die interviewen oder Gruppeninterviews moderieren, müssen sich bewusst sein, dass sie in ihrer Erhebungsrolle zugleich auch ein potenzieller Einflussfaktor auf die Ergebnisse sein können.
  • Methodenkompetenz: Ein moderiertes Interview mit dem Ziel, alle relevanten Dimensionen potenzieller arbeitsbedingter psychischer Belastungen zu erfassen, erfolgt nicht offen und themenfrei, sondern strukturiert und standardisiert. Dies erfordert Moderationskompetenz, um in einer festgelegten Zeit die definierten Inhalte systematisch erfragen zu können. Personen, die interviewen oder Gruppeninterviews moderieren, müssen sich bewusst sein, dass sie in ihrer Erhebungsrolle zugleich auch ein potenzieller Einflussfaktor auf die Ergebnisse sein können. 


Beobachtungsanalyse

  • Höchste qualitative Aussagekraft bei geringer Ökonomie: Während eine Befragung eine hohe quantitative Datenbreite liefert, bietet die Beobachtung eine hohe qualitative Informationstiefe. Es kann Stunden bis Tage dauern, alle typischen und regelmäßig auftretenden Arbeitssituationen vollständig abzubilden. Unternehmen sollten sich die erforderliche Zeit nehmen – und die Erhebungsbereiche sorgfältig auswählen. Denn nur dann lässt sich gewährleisten, dass ein Beobachtungsergebnis tatsächlich repräsentativ für die betreffenden Arbeitsbereiche beziehungsweise Tätigkeiten ist.
  • Beobachtungsanalyse als zweiter Schritt: Der Einsatz von Beobachtungsanalysen hat aber bei bestimmten Fragestellungen durchaus seine Berechtigung. (Beispiel: Sind bestimmte Arbeitsprozesse monoton oder nicht?) Für die breite Erfassung aller in einem Unternehmen vorhandenen Organisationseinheiten und Tätigkeiten wird ein solches Vorgehen eher eingeschränkt zu nutzen sein.
  • Methodenkompetenz: Diese Verfahren stellen höchste Anforderungen an die methodische und professionelle Erfassung und Aufarbeitung der Daten in Bezug auf deren Strukturierung, Priorisierung und Interpretation. Die Anwendung eines solchen Verfahrens verlangt viel Erfahrung sowie theoretische und praktische arbeitspsychologische Kenntnisse in der Handhabung der Methoden und ihrer Auswertung.

Wen sollten Unternehmen in den
Evaluierungsprozess einbeziehen?

Unternehmen müssen laut ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG) den verantwortlichen Arbeitgeber beziehungsweise dessen rechtlichen Stellvertreter, die Personalvertretung, Sicherheitsvertrauenspersonen, Arbeitsmediziner und Sicherheitsfachkräfte in die Planung und Umsetzung einbinden. Weiters sollen sie Führungskräfte und die Personalleitung beiziehen sowie externe Fachleute – nach ASchG insbesondere ArbeitspsychologInnen (§ 4 Abs. 6) – mit der Evaluierung beauftragen. Diese Anforderungen sind auch im Leitfaden für die Arbeitsinspektion und im Merkblatt von Arbeitsinspektion, WKÖ und IV enthalten (Literaturtipps). Zentral ist, dass die Funktionsträger in alle Phasen des Prozesses eingebunden sind – von der Planung bis hin zur Evaluation der Folgeprojekte.

Auch aus Sicht der Praxis ist es empfehlenswert, alle relevanten Interessensgruppen an der Arbeit des Projektteams zu beteiligen. Denn einerseits übersehen heterogene Steuerungsteams aufgrund ihrer diversen Erfahrungshintergründe, Sichtweisen und  Erwartungshaltungen weniger Details, andererseits können Unternehmen internen Widerständen nur vorbeugen, indem sie auf eine breite Beteiligung setzen.

Folgeprojekte, die an eine Evaluierung anschließen, können es erforderlich machen, themenbezogen weitere Fachleute hinzuzuziehen, zum Beispiel Führungskräfte bestimmter Bereiche, Experten für ergonomische Fragen, IT-Zuständige oder HR-Spezialisten für Gebiete wie Personalauswahl oder Weiterbildung.