Frau Woyde-Koehler, wie wir in Zukunft in Unternehmen lernen werden, hängt von verschiedenen Szenarien ab – von der Technik bis zur Arbeitsorganisation. Welcher Aspekt wird aus Ihrer Sicht die betriebliche Weiterbildung in den nächsten zehn Jahren am stärksten verändern?

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Foto von Toa Heftiba

Der Weg geht in Richtung selbstorganisiertes Lernen – weg vom lehrerzentrierten Classroom-Learning hin zur Weiterbildung im Arbeitsumfeld selbst, im Austausch mit Kollegen. Das wird ein großes Thema, weil diese Art des praxisbezogenen Lernens in vielen Fällen effektiver und effizienter ist und Betriebe dadurch auch direkte und indirekte Kosten sparen können.

Gleichzeitig brauchen wir natürlich immer noch den gezielten Einsatz von Präsenztrainings oder Unterstützung im Sinne von Blended Learning – durch eine Person vor Ort oder mit entsprechendem Medieneinsatz im Social Web. Es wird weiterhin Dinge geben, die Mitarbeiter „mechanisch“ lernen müssen, zum Beispiel den Umgang mit IT-Programmen und Software. Aber die Halbwertszeit dieser Lerninhalte wird kürzer, sie verändern sich permanent. Deshalb müssen sich Personalentwickler gut überlegen, inwiefern es Sinn macht, Mitarbeiter alle ein oder zwei Jahre auf eine Fortbildung zu schicken. Es geht eher um die Frage: Wie können Betriebe den Transfer fördern und das Gelernte in der Praxis verankern? Da haben wir in vielen Unternehmen noch eine Soll- Ist-Bruchstelle. Systematisches Kompetenzmanagement sowie selbstverantwortliches und selbstgestaltetes Lernen kann etwas dazu beitragen, diese Lücke zu schließen.

Welche Rolle spielt die Technik beim selbstorganisierten Lernen?

Das Internet verändert die Welt, die Kultur und die Menschen, so dass Möglichkeiten der Vernetzung und des Austauschs entstehen. Die Auswirkungen werden jetzt erst langsam erkennbar. Der Trend zur Partizipation, also die Möglichkeit, Dinge mitzugestalten, wandelt die Strukturen von vertikalen hin zu eher lateralen Organisationen. Wir stehen aber bei dieser Entwicklung noch ganz am Anfang.

Wenn sich Menschen im Internet Informationen beschaffen und dabei vernetzen, laufen Lernprozesse ab, die von der Technik abhängen und gleichzeitig von den Netzwerken, in denen sich die Menschen bewegen. Darin findet eine Art kollegiale Kooperation statt, bei der Wissen geteilt wird, an das man sonst nicht oder nur sehr zufällig herankommen würde. Auch in Unternehmen ist dieses Sharing als gelebtes Element von Wissensmanagement möglich, aber noch unterschätzt oder gar nicht genutzt. Betriebe müssen selbstorganisiertes Lernen organisieren.

Ist das nicht ein Widerspruch?

Das klingt zwar wie ein Widerspruch, aber es gibt eben Organisationsformen und Unternehmenskulturen, die selbstorganisiertes Lernen mehr oder weniger begünstigen. Je mehr Kontrolle, desto weniger selbstorganisiertes Lernen – je mehr Freiheit und Selbstverantwortung, desto mehr selbstorganisiertes Lernen. Unternehmen können auch dadurch Impulse setzen, dass sie das unternehmenseigene Netzwerk technisch und organisatorisch unterstützen. Google ermittelt zum Beispiel ganz systematisch, welche Mitarbeiter welche Kompetenzen haben und wem sie damit als internem Coach zur Seite stehen könnten.

Es ist vor allem dann möglich, selbstorganisiertes Lernen zu organisieren, wenn es um Fähigkeiten der Mitarbeiter geht, die sehr eng an den Tätigkeiten der betrieblichen Praxis ausgerichtet sind. Damit dies gelingt, müssen sich Führungskräfte im Feld Personalentwicklung professionalisieren und dafür eintreten, dass Mitarbeiter vorhandenes Wissen und Können selbstorganisiert nutzen. Das ist ein wertschöpfungsrelevantes Thema für die Zukunft. Unternehmen, die hart im Wettbewerb stehen, werden sich zukünftig darin unterscheiden.

Auf der Messe Zukunft Personal 2012 sprach Prof. Dr. Manfred Spitzer als Keynote-Speaker. Er geht davon aus, dass besonders bei jungen Menschen, die sich viel mit digitalen Medien beschäftigen, die geistige Leistung beeinträchtigt werden kann. Lernen mit digitalen Medien sei ohne Lehrer gar nicht möglich. Was halten Sie davon?

Ich gebe ihm in gewisser Weise recht – abhängig davon, welchen Lernbegriff man dabei zugrunde legt. Lernen findet im Wesentlichen durch Erfahrungen statt – ob das haptische, physische, sinnliche oder kognitive Erfahrungen sind. Selbstverständlich bietet der Umgang mit Computer und Internet eine Erfahrungsebene und deshalb ist auch da Lernen möglich. Wenn allerdings die Auseinandersetzung mit Realität überwiegend über die virtuelle Welt stattfindet – sei es im Internet, im TV oder auch über Zeitschriften und Bücher – und dabei jede pädagogische Begleitung fehlt, wenn also eine medial vermittelte Welt über eine primäre Lernerfahrung dominiert, dann können schon Mangelerscheinungen auftreten.

Gleichzeitig müssen wir uns bewusst sein, dass niemand die Entwicklung der Technologien aufhalten kann. Genauso wie man Autos etwa unter Umweltgesichtspunkten gut oder schlecht finden kann, erfüllen sie dennoch für viele Menschen einen wichtigen Zweck. Es geht also darum, sich zu überlegen, wie sich die Technik so weiterentwickeln lässt, dass sie für die Menschen und die Umwelt gut ist. Und an den Punkt werden wir mit dem Internet auch noch kommen. Auf jeden Fall verändert sich das gesellschaftliche Leben gerade gravierend, da wir in immer früherem Lebensalter Zugang zu allen denkbaren Informationen haben.

Jemand wie Prof. Spitzer kann dazu beitragen, dass die positiven Aspekte weiterentwickelt werden und dass wir uns mit Problemen und Fehlentwicklungen befassen. Sein großer Verdienst besteht darin, dass er die Aufmerksamkeit von Medien und Öffentlichkeit auf Themen wie Weiterbildung und Innovation gelenkt hat. Nichtsdestotrotz muss man genauer hinschauen, die Dinge sind nicht schwarz und weiß. Es gibt ganz viele Schattierungen und Lösungen dazwischen.

Wie schätzen Sie die Entwicklung der E-Learning-Branche diesbezüglich ein?

E-Learning-Module vermitteln Informationen meist auf eine sehr strukturierte Weise. Personen können dadurch gewisse Situationen verstehen und trainieren. Das ist eine Form von Lernen, die ihre Berechtigung hat. Ansonsten sind die Anbieter überwiegend dazu übergegangen, Blended Learning in verschiedenen Spielarten zu praktizieren. Sie versuchen, Konzepte zu entwickeln, in denen es noch irgendeine Art Rückkopplung mit einer Trainer-Person gibt. Das kann dann teilweise auch wieder virtuell erfolgen, etwa in sozialen Netzwerken.

Digitale Medien allein ermöglichen kein soziales Lernen. Dazu bedarf es der menschlichen Auseinandersetzung und Begegnung. Erst durch diese Kopplung sind Menschen richtig motiviert zu lernen. Eine Sonderrolle nehmen die simulativen Lern-Planspiele ein, die sich an Computerspielen orientieren. Diese simulierte Realität hat eine große Ähnlichkeit mit menschlichem Denken und Fühlen. Aber es ist eben nicht dasselbe wie die reale Welt. Wenn ich den ganzen Tag am Computer sitze, ist das auch eine Form von „sozialem Lernen“, allerdings eine negative, denn das reduziert die Zahl meiner Kontakte zu lebenden Menschen. Wirkliches soziales Lernen findet deshalb in der virtuellen Welt nur eingeschränkt statt.

Google entwickelt derzeit eine Art Brille für Augmented Reality. Damit verschwimmt die primäre Realität mit dem virtuellen Raum. Wenn solche Zukunftsszenarien Realität werden, inwiefern ist dann soziales Lernen aus Ihrer Sicht noch möglich?

Es ist noch zu früh, diese Frage abschließend zu beantworten. Derzeit kann ich nicht ausschließen, dass ähnlich wie in den sozialen Simulationsspielen, eine solche Erfahrungsebene der Augmented Reality zu sozialen Lernprozessen führen kann.

Bringt die mobile Arbeitswelt eine neue Qualität für die Weiterbildung?

Mit dem Tablet ist inzwischen vieles möglich geworden. Zum Beispiel können Sie damit Filmsequenzen aufnehmen, wenn jemand in einem Seminar oder woanders etwas Interessantes sagt. Diese Videos können Sie dann mit Fotos, eigenen Notizen oder Flipchart-Skripts kombinieren. Diese neue Art von Mitschrift ist ein individuelles Lernmobil, das jederzeit reproduzierbar ist. Präsenzveranstaltungen lassen sich so mit mobilen Anwendungen verzahnen. Das Tablet kann man immer dabei haben, es hat quasi kein Gewicht. Via Internet können wir bereits an Vorlesungen, ja an ganzen Studiengängen teilnehmen – auch über mobile Endgeräte.

Europa befindet sich in einer Finanzkrise. Noch sind die Unternehmen in Deutschland davon kaum betroffen, aber das könnte sich schnell ändern. Ist Flexibilität in Organisation und Denken die Zukunftsfähigkeit schlechthin?

Flexibilität ist ein sehr wichtiger Faktor, der aber allein nicht reichen wird. Es kommt vielmehr vor allem darauf an, dass Beschäftigte die Fähigkeit entwickeln, in größeren Zusammenhängen und Wirkungsketten zu denken und zu handeln. Die Unternehmen müssen lernen, die kollektive Intelligenz ihrer Organisation zu nutzen. In Anlehnung an Frederic Vester und Dietrich Dörner könnte man das die Fähigkeit des kybernetischen Denkens und Handelns nennen. Dazu brauchen Organisationen in den verantwortlichen Positionen Akteure, die entsprechende Fähigkeit mitbringen.

Wodurch müssten sich diese Führungskräfte konkret auszeichnen?

Sie sollten über hervorragendes fachliches Know-how verfügen, aber insgesamt interdisziplinär und heterogen genug sein, um unterschiedliche Denk- und Handlungsansätze entwickeln zu können. Dazu müssen sie bereit und fähig sein, ihre Intelligenz und ihr Wissen mit den anderen beteiligten Akteuren zu teilen und die jeweils bessere oder beste Lösung zu akzeptieren, auch wenn sie nicht von ihnen selbst kommt. Last but not least kommt es darauf an, dass Führungskräfte zukünftig in der Lage sind, mittel- und längerfristige Wirkungen möglicher getroffener Entscheidungen einigermaßen verlässlich abzuschätzen und auf dieser Basis ihrem Handeln ein hohes Maß an Nachhaltigkeitspotenzial verleihen.

Interview: Stefanie Hornung