Prof. Dr. Stein, „Der Talente-Krieg“ heißt das Buch, das Sie gemeinsam mit Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz und Dr. Martin Hahmann geschrieben haben. Ist „Krieg“ im Bezug auf Rekrutierungsanstrengungen der Unternehmen wirklich der passende Begriff?
„Krieg“ mag martialisch klingen, aber viele Unternehmen kämpfen mit harten Bandagen: Massive Abwerbung von Mitarbeitern bei Konkurrenten oder Antrittsprämien für neue Mitarbeiter in signifikanter Höhe sind die entsprechenden Signale. Zimperlich ist niemand, wenn nur qualifizierte Mitarbeiter dabei herausspringen. Denn wenn ein Unternehmen keine Facharbeiter bekommt, kann dies mittlerweile schnell existenzgefährdend werden.

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Foto von Studio Republic

Wie konnte es so weit kommen?
Die Unternehmen haben nichts aus dem ersten großen Talente-Krieg gelernt. Das Wort „War for Talents“ prägte McKinsey 1997 in einer ihrer Studien, um eine aus ihrer Sicht zentrale strategische Unternehmensherausforderung zu beschreiben. Der IT-Fachkräftemangel in der New Economy hat den Autoren sehr schnell Recht gegeben: Bis 2001 suchten Firmen gerade im IT-Bereich wie auch im Finanzierungsbereich händeringend qualifizierte Mitarbeiter. Schon damals haben die betroffenen Unternehmen gemerkt, dass ihre Personalarbeit mit diesem Problem nicht gut zurechtkommt. Aber anstatt die Personalplanung, das Personalmarketing und insgesamt die Personalarbeit zu einer professionellen Daueraufgabe zu machen, haben die Recruiter ab 2002 mit dem Ende der New Economy-Hochphase Entwarnung gegeben und die Hände beruhigt in den Schoß gelegt.
So wollte noch vor zwei Jahren niemand auf die Prognosen der Personalexperten hören. Zu dieser Zeit war die Arbeitslosigkeit ein viel spannenderes Thema. Das rächt sich jetzt: Da viele Unternehmen den drohenden Fachkräftemangel ignoriert haben, konnten sie sich nicht darauf vorbereiten. Das ist fatal, denn die Ausgangslage ist heute eine andere: Die Arbeitswelt ist insgesamt viel umkämpfter geworden. Was in der New Economy an Personalarbeit noch gereicht hat, hilft Unternehmen heute nicht mehr. Daher wird – mangels Alternativen – der Umgang der Unternehmen auf den Arbeitsmärkten ruppiger.

Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Gründe für den Fachkräftemangel und damit den Talente-Krieg?
Die demographische Entwicklung führt dazu, dass immer weniger Jugendliche nachkommen. Gleichzeitig steigen die Qualifikationsanforderungen – selbst in operativen Arbeitsbereichen. Außerdem verlagern viele Firmen Arbeitsplätze ins Ausland und nehmen qualifizierte Beschäftigte mit. Zu einer Wissensabwanderung kommt es auch dadurch, dass gute Leute ins Ausland abwandern, wohingegen kaum gut Qualifizierte zuwandern. Auf diese Herausforderungen haben bislang weder die Zuwanderungspolitik noch die Bildungspolitik ausreichend schnell und intensiv reagiert. Denn während zurzeit noch viele Beteiligte so tun, als komme das Fachkräftemangel-Problem „in fünf oder zehn Jahren“ auf uns zu, ist es bereits längst bei uns.

Wie stark leidet die deutsche Wirtschaft schon unter dem „War for Talents“?
Lesen Sie nur die Überschriften, die seit Monaten in den Zeitungen stehen. So etwa kürzlich wieder in der FAZ: „Fachkräfte fehlen: 45.000 Stellen in Hessen unbesetzt”. Die IHKs lamentieren ebenfalls darüber, dass ihren Mitgliedsunternehmen an allen Ecken und Enden Fachkräfte fehlen. Die Unternehmen leiden insofern, als dass mit jeder unbesetzten Stelle Arbeit liegen bleibt. So erfolgt keine Wertschöpfung. Die von dieser Stelle abhängenden Arbeitsteams können weniger arbeiten und kein neues Wissen aufbauen. Ist eine Stelle zu lange unbesetzt, dann zerfallen mit der Zeit auch die Strukturen des Wissensaustauschs und der Wissensweitergabe. Bei kleineren Mittelständlern kann sich das zu einer existenzbedrohenden Situation auswachsen, wenn gleich mehrere dieser qualifizierten Stellen unbesetzt bleiben. Alles dies ist – in der Summe – für den Wirtschaftsstandort Deutschland genauso fatal wie für den Wissens- und Innovationsstandort Deutschland. Das Institut der Deutschen Wirtschaft Köln errechnete, dass die 165.000 unbesetzten Fachkräftestellen in Deutschland im Jahr 2006 einem volkswirtschaftlichen Verlust von 18,5 Milliarden Euro bedeuten.

Inzwischen scheint das Thema in der Politik angekommen zu sein. Die Bundesregierung hat beispielsweise eine umfassende Qualifizierungsoffensive auf den Weg gebracht. Halten Sie die darin enthaltenen Schritte für ausreichend?
Die Qualifizierungsoffensive der Bundesregierung versucht, die negativen Folgen der demographischen Entwicklung abzumildern und die vorhandenen Jugendlichen auf vielen Ebenen besser zu qualifizieren. Dies ist gerade im Hinblick auf „Lehrstellen-Altbewerber“ sozial- und wirtschaftspolitisch vernünftig, reicht aber dennoch wahrscheinlich nicht aus. Vor allem nicht kurz- und mittelfristig. Was eher kontraproduktiv sein dürfte, ist aus meiner Sicht die Tatsache, dass die Politik dazu beiträgt, die Hochschullandschaft zu nivellieren. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn beruflich Qualifizierten ohne schulische Hochschulreife der Zugang zu Berufsakademien und Fachhochschulen erleichtert wird. Dass jedoch jeder Studierwillige ohne weiteres an den – sowieso bereits dramatisch verschulten – Universitäten landet und dort dann immer stärker die „praxisnahe Ausbildung“ gefordert wird, höhlt den traditionell theorieorientierten Bildungsauftrag der Universitäten aus. Zwar wird auf diese Weise die Zahl der Absolventen steigen, doch diese werden im Vergleich zu heute viel weniger qualifiziert sein. Ich bezweifle, dass Deutschland mit einem abgesenkten universitären Qualifikationsniveau seine internationale Spitzenstellung aufrecht erhalten kann – da nützen wahrscheinlich auch die Elite-Hochschulen wenig.

Was könnte die Politik außerdem tun, damit deutsche Unternehmen auf dem internationalen Markt im Kampf um Fachkräfte mithalten können?
Die Bundesregierung hat zwar bereits erste Schritte unternommen, die den Zuzug erleichtern, doch im Wettbewerb um Zuzügler liegt Deutschland hinter Ländern wie Schweiz und Österreich, Großbritannien und Irland, USA und Kanada weit zurück. Der IT-Branchenverband Bitkom fordert, dass die Zuwanderungsbestimmungen für IT-Spezialisten extrem gelockert werden sollen. Diese Grundidee ist grundsätzlich richtig – die gleiche Idee wie bei der Green Card. Allerdings kommen diese Forderungen und vor allem die Umsetzungsversuche viel zu spät. Mittlerweile klagen die Staaten Mittel- und Osteuropas wie Polen, Rumänien oder die baltischen Staaten selbst vehement über einen Fachkräftemangel. Außerdem haben viele Fachkräfte einen Bogen um Deutschland gemacht und sind direkt nach Großbritannien gegangen. Und Inder, Chinesen, Koreaner wollen inzwischen lieber ihre eigene Wirtschaft aufbauen, als „Qualifikations-Entwicklungshelfer“ in Deutschland zu spielen. So gesehen ist vermutlich eine konzertierte EU-weite Initiative, wie sie die „Blue Card“ ist, gar keine schlechte Idee, weil sie über nationale Versuche hinaus die Vorteile des grenzenlosen Wirtschafts- und Arbeitsraums Europa in die Waagschale wirft.

Was empfehlen Sie Unternehmen – wie sollten sie auf die aktuellen Rekrutierungsbedingungen reagieren?

Eindeutig durch eine professionelle Personalarbeit! Das heißt erstens: so differenziert, dass Unternehmen eine Reihe unterschiedlichster Bewerber mit individuellen Profilen ihren Bedürfnissen gemäß ansprechen können. Das heißt zweitens: so kontinuierlich, dass Personalarbeit nicht mehr aus der Aneinanderreihung von hektischen Einzelaktionen besteht, sondern eine klare Linie glaubwürdig vertritt und nach außen kommuniziert. Das heißt drittens: so fundiert, dass die Personalarbeit auch von Spezialisten gemacht wird, die einst „Personalmanagement“ gelernt haben und über reine Intuition hinaus etwas von ihrem Beruf und dessen Herausforderungen verstehen.

Wie könnten professionelle Personalmanager die Attraktivität ihres Unternehmens konkret beeinflussen?
Bezüglich einzelner Instrumente geht es meist um altbekannte Motivationsstrategien. Es ist – eine akzeptable Grundvergütung vorausgesetzt – dann doch meistens die Arbeitsaufgabe an sich, die einen Arbeitsplatz attraktiv macht: Kann der Mitarbeiter selbst etwas entscheiden und dafür die Verantwortung übernehmen? Darf er innovative Lösungswege beschreiten? Hat das eigene Arbeiten eine erkennbare Auswirkung auf die Unternehmensentwicklung? Ist Teamarbeit möglich? Findet ein ständiges „Lernen am Arbeitsplatz” statt? Natürlich haben verschiedene Personen unterschiedliche individuelle Präferenzen hinsichtlich ihres Traum-Arbeitsplatzes. Aber die Unternehmen müssen eine Vielfalt an Ausgestaltungsoptionen zur Verfügung stellen können. Sie sollten den potenziellen Bewerbern frühzeitig kommunizieren, dass es diese Möglichkeiten gibt, und auf Anfrage nachweisen können, dass sie dieses Versprechen auch einlösen. Gute Bewerber möchten durchaus vor Arbeitsantritt mit den Mitarbeitern über das betreffende Unternehmen sprechen.

Wie wichtig ist das Unternehmensimage, wenn es darum geht High Potentials für sich zu gewinnen?

Das Unternehmensimage ist nicht alles, aber trägt erst einmal dazu bei, dass Qualifizierte auf ein Unternehmen als möglichen Arbeitgeber aufmerksam werden. Die meisten mittelständischen und kleinen Unternehmen sind allerdings auf dem Arbeitsmarkt schlicht „no-names“. Trotzdem müssen sie versuchen, bei den Bewerbern „ein Gesicht zu bekommen“. Dafür gibt es schon allein beim Hochschulmarketing eine ganze Reihe an Optionen für Unternehmen.

Welche Optionen sind das?
Seminar- und Diplomarbeiten unterstützen, Praktika anbieten, Präsenz in Lehrveranstaltungen der Hochschulen zeigen oder studentische Vereinigungen wie etwa „Study & Consult” oder „MTP” unterstützen. Ob innovativ oder nicht – auf jeden Fall ist dies das Basishandwerk des Hochschulmarketings. Doch auch hier ist das „Prinzip Gießkanne” nicht alles: Wenn Unternehmen mit ihrem Hochschulmarketing auf zu vielen Hochzeiten tanzen, dann verteilt sich das Engagement entsprechend und wird nicht mehr wahrgenommen. Ich würde klar eine Konzentration auf einige wenige Aktivitäten empfehlen – die aber dann „richtig”, indem die Unternehmen bis auf die Ebene der einzelnen „interessanten” Lehrstühle hinuntergehen. Das heißt, nicht einfach ganze Universitäten ansprechen, sondern nur die Lehrstühle, deren Absolventen das Unternehmen wirklich haben will. So lässt sich „customized” ein Programm herstellen, das für die Studierenden attraktiv ist und gleichzeitig vermittelt: „Das Unternehmen ist wirklich interessant”.

Wenn Unternehmen all diese Instrumente zur Hand nehmen, könnten sie dann den Talente-Krieg beenden? Oder anders gefragt: Werden wir in zehn Jahren noch von einem „Talente-Krieg“ sprechen?
Ich bin pessimistisch für die Zukunft. Deutschland wird bescheidener werden müssen, weil die Politik und das Unternehmensverhalten in den vergangenen Jahren größtenteils auf Mittelmaß ausgelegt war. Wir werden nur das ernten können, was wir gesät haben – und das war im weitgehend verschlafenen Talente-Krieg noch nicht viel.

Interview: Stefanie Hornung