Frau Prof. Rump, was genau ist eine agile Organisation?

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Foto von Alesia Kazantceva

Agile Organisationen sind marktorientiert, innovationsgetrieben, selbstorganisiert, in großen Teilen selbstbestimmt und hierarchiefrei. Oft wird in Zusammenhang mit agilen Organisationen auch von Flexibilität gesprochen. Aber mit dem Begriff bin ich hier vorsichtig, weil er häufig mit Modellen von Arbeitszeit und -ort in einen Kontext gebracht wird. Aber das ist nicht die Flexibilität, von der wir bei agilen Organisationen reden.


Warum versuchen Unternehmen, ihre Strukturen agil zu gestalten?

Sie wollen schneller werden und Innovationen nach vorne treiben. Dabei wünschen sie nicht nur inkrementelle Innovationen, die sich aus dem Bestehenden ergeben, sondern auch radikale. Die Gründe sind somit sehr stark wettbewerbs- und marktorientiert.


Wie agil sind die Unternehmen in der DACH-Region bereits?

Also da haben wir schon einen kleinen Talking-Action-Gap. Die Unternehmen reden über Agilität und wissen einiges darüber. Wenn man allerdings analysiert, was sie schon machen, dann ist da noch viel Raum für Verbesserungen. Aber die Unternehmen setzen sich mit dem Thema auseinander, einige experimentieren mit agilen Strukturen, sind neugierig und schauen, was passiert. Manche starten Zukunftslaboratorien oder Digital Factories oder probieren Design Thinking aus. Wieder andere versuchen eine ganze Abteilung – zum Beispiel IT – agil aufzustellen. Mit anderen Worten: Wir befinden uns aktuell ein einer Phase des Experimentierens. Was spannend ist, denn es gibt bislang recht wenig Best Practice.


Sind andere Länder in dieser Hinsicht weiter?

Das haben wir in der Studie nicht untersucht, aber meine Beobachtungen sind schon, dass wir im deutschsprachigen Raum Hierarchien gerne mögen. Das gilt sicherlich auch für einige andere Länder in Kontinentaleuropa. Wir lieben Führungskarrieren und unterschiedliche Karriere-Levels, die wir wunderbar mit den Formalqualifikationen und ganzen Aus- und Weiterbildungen verknüpfen können. Unser Mindset ist sehr hierarchiegeprägt – und plötzlich sprechen wir vom hierarchiefreien Raum. Das ist ein Culture Clash. Da sind andere Länder wie Schweden oder die Niederlande von der Kultur her ganz anders aufgestellt. Natürlich gibt es auch hierzulande Gegenbeispiele. Start-ups funktionieren oft agil. Aber wenn wir auf die Gesamtwirtschaft schauen – und das ist unser Fokus – dann ist die schon sehr hierarchiegläubig.


In welchen Bereichen innerhalb der Organisationen lässt sich Agilität gut umsetzen – und in welchen weniger gut?

Hier gibt es erhebliche Unterschiede. Am besten können sich Unternehmen die Einführung agiler Strukturen in der IT vorstellen. Das überrascht wenig, denn IT bringen wir mit der Digitalisierung in Verbindung, die ein wichtiger Treiber von Agilität ist. Ebenfalls häufig genannt werden die Bereiche Unternehmensentwicklung und Unternehmensleitung. Letzteres fand ich sehr überraschend. Denn können Unternehmensleitungen agile Organisationseinheiten sein? Ich glaube, die Studienteilnehmer dachten hier an das Office dahinter, also an Stäbe und Assistenzen, die um die Unternehmensleitung herumschwirren. In diesem Umfeld kann Agilität durchaus eine große Rolle spielen. Ebenfalls häufig genannt werden Einkauf und Personalmanagement.


Einkauf und Personalmanagement als Vorreiter von Agilität?

Beim Einkauf lässt sich das vielleicht so erklären, dass die Standardprozesse ja ohnehin zunehmend über Algorithmen funktionieren. Was übrig bleibt, ist ebenfalls starken Veränderungen unterworfen. Dass aber HR unter den Top 5 der Bereiche ist, in denen sich Agilität aus Sicht der Befragten gut umsetzen lässt, fand ich sehr spannend. Denn wir von HR sind ja nicht verschrien dafür, besonders progressiv zu sein. Wir sind zwar beim Change dabei, aber für uns selbst sind wir da eher zurückhaltend. Aber beim Thema Agilität scheint sich HR als Experimentierraum zu verstehen.

Was kann die Einführung von Agilität behindern? 

Die größten Hemmnisse für Agilität sind  – eigentlich wenig überraschend – zu starre Prozesse und Abläufe in den Unternehmen, die Agilität im Keim ersticken. Ein zweiter Punkt ist die mangelnde Veränderungsbereitschaft der Mitarbeiter. Agilität bedeutet, dass Sie sehr veränderungsbereit sein müssen. Denn die Innovationen, die mit Agilität einhergehen, sind immer mit Veränderungen verbunden. Agilität bedeutet, dass wir schon anfangen zu laufen, aber nicht wissen, wo der Prozess endet. Daher sind die Mitarbeiter gefragt, Unsicherheit und Diskontinuität auszuhalten. Diese Veränderungsbereitschaft ist nach Ansicht der Studienteilnehmer aber nicht in dem Maße vorhanden, wie es notwendig ist, um agile Strukturen einzuführen.

Der dritte Hemmschuh ist die Anpassung der Führungskultur. Wenn Agilität verbunden ist mit Hierarchiefreiheit, dann definiere ich Führung anders. Doch scheinbar befürchten die Studienteilnehmer, dass Führungskräfte nicht loslassen können und stattdessen ihre Logik der Führung in einen hierarchiefreien Raum hineintransportieren. Das passt natürlich nicht zusammen. Ein viertes Problem ist die Anpassung der Unternehmenskulturen, die agilen Organisationen vielfach entgegenstehen.  Hemmschuh Nummer 5 besteht darin, dass die Mitarbeiter nicht auf agile Organisationseinheiten vorbereitet sind, sondern einfach „ins kalte Wasser geworfen werden“.


Welche HR-Themen beschäftigen die Unternehmen denn momentan – neben Agilität?

Das Top-Thema ist aktuell die Mitarbeiterbindung. Hier zeigt sich ganz klar, dass Fachkräftemangel und demografischer Wandel in den Unternehmen angekommen ist und die Unternehmen sich stärker mit ihren vorhandenen Potenzialen beschäftigen. An zweiter Stelle steht die Flexibilisierung der Arbeitsstrukturen, was wiederum an Agilität und Digitalisierung anknüpft. An dritter Stelle nennen die Studienteilnehmer die Beschäftigungsfähigkeit. Dann kommt lange Zeit nichts. Als Institut für Beschäftigung und Employability freut uns natürlich, dass die Beschäftigungsfähigkeit wieder für die Unternehmen an Bedeutung gewinnt. Sie spielte auch in den vergangenen Jahren eine Rolle, aber landete bei unseren Fragen nicht auf den vordersten Plätzen.


Sie haben ja auch Unterschiede in der Priorisierung dieser Themen seitens Geschäftsführung, HR, Mitarbeitern und Führungskräften gefunden. Gibt es hier Unterschiede, die zu Spannungen führen könnten?

Ja, die gibt es. Denn während den Geschäftsleitungen die Unternehmenskultur besonders wichtig ist, gefolgt von flexiblen Arbeitsstrukturen und Mitarbeiterbindung, haben die HR-Verantwortlichen eine ganz andere Sicht. Sie legen zwar auch Wert auf die Mitarbeiterbindung, aber ebenso wichtig ist ihnen das Gewinnen von Mitarbeitern und das Vorbereitung der Mitarbeiter auf die digitale Transformation. Die letzten beiden Themen sehen aber weder die Geschäftsführer noch die fachlichen Vorgesetzten als wesentlich an.


Was könnten diese unterschiedlichen Sichtweisen für die Praxis bedeuten?

Wenn die Meinungen zwischen Unternehmensleitung und Führungskräften auf der einen sowie HR auf der anderen Seite so auseinandergehen, dann gibt es einen schwelenden Konflikt. Eigentlich müsste HR umsetzen, was die Unternehmensleitung sich vorstellt. Andererseits reden wir hier über People-Themen, die HR unmittelbar betreffen. Scheinbar bekommt die HR-Abteilung ihre Sicht der Dinge aber nicht in Richtung Führungskräfte und Unternehmensleitung transportiert. Oder anders ausgedrückt: Die Unternehmensleitung und die Fachvorgesetzten nehmen HR nicht im erforderlichen Maße als Sparringspartner wahr.


Was würden Sie auf Basis der Studie empfehlen?

Eines ist klar: Agilität ist nach den Ergebnissen dieser Studie kein theoretisches Konstrukt. Die Unternehmen müssen sich damit auseinandersetzen. Und eines sollte auch klar sein: Agile Organisationen funktionieren nach einer völlig anderen Logik als traditionelle Unternehmen. Damit wir eine agile Form planen, vorbereiten und implementieren können, die zu unserer Organisation passt, müssen alle zentralen Protagonisten mit an den Tisch – die Unternehmensleitung, die Fachvorgesetzten, die Mitarbeiter und natürlich HR. Ein solches Vorhaben lässt sich nur interdisziplinär umsetzen. Und ich würde den Personalern empfehlen, hier ein Stück weit mehr in die Bütt zu gehen.

Interview: Bettina Geuenich