Hey folks! You can sit here, there’s space for all of you!“ Der junge Mann lacht und steht mit seinen acht Kollegen auf, um uns die Stühle hinzuschieben. Wir wollen ihre Pause nicht stören und könnten leicht woanders einen Platz finden, doch sie lassen sich nicht abhalten, ihren Tisch für uns zu verlassen. Amy beruhigt uns: „Let them invite you! They want you to feel at home.“ Die junge Mitarbeiterin ist hier im Headquarter von Airbnb zu Hause. Sie zeigt uns, wo wir in der großen, gemütlichen Küche Getränke und Snacks finden. Sojashake, frisches Brot, Marmeladensorten, selbstgebackene Kekse, sogar einen Kühlschrank mit Bier gibt es. Die 800 Mitarbeiter der erfolgreichen Plattform für Zimmervermietung fühlen sich bei der Arbeit wie zu Hause und versuchen, das auch allen, die vorbeikommen, zu ermöglichen.

three person pointing the silver laptop computer
Foto von John Schnobrich

Das ehemalige Fabrikgebäude in San Francisco wurde zu einer faszinierenden Wohnarbeitswelt umgebaut. Als würden wir durch hunderte verschiedener Wohnungen gehen, begegnen uns auf dem Weg durch die Firma plüschige Wohnzimmer, coole Lounges, Garagen als Besprechungsräume, Wohnwagen, Spielplätze. Als würden sich hier täglich hunderte Freunde treffen, sitzen, liegen oder stehen coole junge Leute zusammen und arbeiten daran, Airbnb zu einer noch größeren Bedrohung etablierter Hotelketten wie Mariott zu machen. Seit der Gründung 2008 hat die Firma heute einen Unternehmenswert von über 25 Milliarden Dollar erreicht. Weltweit vermieten Menschen mit Hilfe von Airbnb ihre Wohnungen an Reisende und helfen damit den Purpose von Airbnb zu erfüllen: „Provide hospitality and create a sense of belonging wherever you go in the world“.

 

Dieses Gefühl von Zuhausesein und Zugehörigkeit einer reisenden Gesellschaft ist es, was Airbnb in die Welt bringen will. Statt mit Zahlenzielen oder Meilensteinplänen steuert sich Airbnb über Sinn. Oberstes Leitkriterium aller Management- und Mitarbeiterentscheidungen ist, ob es der Erfüllung des Purpose dient. Bei Airbnb wird der Purpose nicht nur im Produkt sichtbar. Auch die Architektur und die Kultur der Firma sind vom Purpose bestimmt. Manche Mitarbeiter seien lieber in der Firma als in der eigenen Wohnung, weil es hier viel gemütlicher und cooler sei, erzählt Amy. Auch die unmittelbare Hilfsbereitschaft der Gruppe, uns den Tisch anzubieten, erklärt sich uns jetzt. Amy zeigt uns das ganze Gebäude, wir dürfen alles probieren, überall hinein. Wir kommen an einem Spielgerüst vorbei in dem Joe Gebbia, einer der drei Gründer, mit einer Mitarbeiterin sitzt. Hierarchie oder Status spielen hier keine Rolle und Gäste sind immer willkommen.

Zwei Tage später: Flughafen Las Vegas. Wir warten auf den Driver der Firma Zappos (populärster Schuhversand der USA), der uns abholen soll. Da braust ein skurriles Gefährt um die Ecke und stoppt elegant direkt vor unseren Füßen. „Hey Neuwaldegg! Welcome to the Zappos Family!“  Roxanne springt strahlend aus dem hellblauen Bus mit lustigen Aufschriften und großem Zappos-Branding. „Wow!“, entfährt es uns ob dieses Empfangskomitees. Auf der Fahrt erzählt uns die lebensfrohe, alleinerziehende Mutter alles über Las Vegas und die Zappos Family. Sie wird den ganzen Tag auf uns warten, weil sie uns persönlich ins Hotel bringen will. „No matter how long you stay! I asked my neighbour to come and stay with my kids“. Wir können sie nicht überzeugen, dass wir auch gern ein Taxi nehmen, damit sie zu ihren Kindern kommt. Das sei für sie Ehrensache, erklärt Roxanne. „Wow!“, entfährt es uns schon wieder.


Dieser Ausdruck des Erstaunens wiederholt sich noch mehrmals an diesem Tag. Wir besuchen eines der innovativsten Unternehmen der USA. Die Firma verzichtet seit vier Jahren auf Führungskräfte, hat stattdessen Selbstorganisation eingeführt (In der Ausgabe 6/2016 des personal manager haben wir darüber ausführlich berichtet). Das soziale Betriebsmodell Holacracy ersetzt die klassische Unternehmensstruktur. Die Mitarbeiter haben hohe Autonomie und entwickeln die Organisationsstruktur genauso wie das Produkt permanent weiter. Die Call-Center-Agents regeln ihre Arbeitszeiten selbst. Auch das Gehalt wird in einem Peer-Rating-Prozess aller von allen bestimmt. „Wow!“ Neben all der Freiheit und Selbstbestimmung des modernen Steuerungsmodells gibt es auch bei Zappos ein klares Leitkriterium, an dem sich alle orientieren. Der Purpose des Schuhversands lautet „Create and deliver WOW!“ Gelungen! Zumindest uns hat die Firma heute gleich vielfach gewowt. Anliegen aller Mitarbeiter ist es, dieses positiv überraschte „Wow!“ dem Gegenüber in jedem Kontakt zu entlocken – mit jedem Kunden, mit jedem Kollegen, mit jedem Partner, mit jedem Gast. Die Kunden belohnen es mit Begeisterung. Zappos wächst rasant, weil begeisterte Kunden bleiben und weil die Firmenkultur viele neue Mitarbeiter anzieht.

 

Der Purpose hat auch zur Erfindung des „Zappos Innovation Lab“ geführt. In einem kreativen Loft in San Francisco arbeitet eine kleine Crew daran, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Die Firma will Servicewüsten erobern, also all die Bereiche besetzen, wo Kunden sehnlichst einmal wieder WOW! sagen würden. Für Tony Shieh, Zappos’ ehemaligen CEO ist der Purpose ein wichtiges Instrument. Er leitet Entscheidungen, ohne Kreativität einzuschränken, er prägt die Unternehmenskultur und er ermöglicht den Mitarbeitern, sich damit zu verbinden. Es geht darum, abzuprüfen: Bin ich hier am richtigen Platz? Kann ich meinen persönlichen Purpose hier ins Leben bringen? Eine mutige Entscheidung Shiehs war es, im vergangenen Jahr allen Mitarbeitern eine Abfindung in Höhe von vier Monatsgehältern anzubieten (wer länger als vier Jahre bei Zappos war, bekam sogar ein Monatsgehalt pro Jahr angeboten), wenn sie das Gefühl hatten, dass sie ihren persönlichen Purpose anderswo besser erfüllen könnten. Das Geld sollte Starthilfe sein, um den Mut aufzubringen, dem eigenen Sinn zu folgen. Auch wenn er Gefahr lief, damit seine besten Leute zu verlieren, wagte Shieh diesen Purpose-Call. Er wollte sichergehen, dass alle, die da waren, sich mit dem Purpose verbinden konnten.

Grund für die wachsende Bedeutung von Sinn in Unternehmen ist auch jenes Phänomen, was mit VUCA (volatil, uncertain, complex, ambiguous) beschrieben wird. Ein zunehmend volatiles, unsicheres, komplexes und widersprüchliches Umfeld in Politik, Weltwirtschaft, Ökologie, Religionen macht es Organisationen immer schwerer, die traditionellen Mittel der Unternehmenssteuerung anzuwenden. Zukunftsbilder, Strategien, Meilensteinpläne erfahren eine dramatische Verkürzung ihrer Halbwertszeit. In disruptiven Umfeldern ist es Unternehmen zum Teil gar nicht mehr möglich, langfristig zu planen ohne den Anschluss an die sich ständig verändernde Gegenwart zu verlieren. Die Ausrichtung am Purpose ermöglicht der Organisation agile Steuerung, ohne den Seinszweck aus dem Blick zu verlieren, und sichert zugleich ab, dass alle Entscheidungen und Handlungen auf diesen höchsten Seinszweck der Organisation einzahlen.


Moderne Steuerungsmodelle wie Holacracy organisieren sich rund um den Purpose, der für jeden Kreis und für jede Rolle definiert ist (nachzulesen in personal manager 6/2016).

Am Abend lehnt Roxanne grinsend an der Wand, während wir ein Abschiedsfoto mit ihren Kollegen vor dem bunten Zappos-Logo aus Legosteinen machen. Sie hat den Bus bereits vor der Tür geparkt und spielt uns beim Einsteigen das neue Lied der Band vor, die in Las Vegas gerade angesagt ist. Roxanne gondelt uns über den Strip und freut sich, dass wir das erste Mal in der Stadt sind und sie alles erklären kann. Als wir zum Abschied vor dem Hotel eine Riesenpackung Mannerschnitten für ihre Kinder aus dem Rucksack ziehen, sagt sie verblüfft: „Wow!“ Geschafft! Purpose steckt an ...

Ausblick
Lesen Sie in Ausgabe 2/2017 der Zeitschrift personal manager: „Meeting Mastery“ – die Kunst meisterhafter Besprechungen. Unternehmen lieben Besprechungen (deshalb machen sie so viele) und Unternehmen hassen Besprechungen (weil sie so lang dauern, so zäh sind und so wenig Ergebnisse produzieren). Zeit für neue Besprechungen! Wir verraten, wie’s geht.


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Quelle: personal manager - Zeitschrift für Human Resources | Ausgabe 1  Jänner/ Februar 2017.

Der Begriff „purpose-driven“ wird vor allem in den USA immer häufiger genannt. Erste Studien erheben, dass 28 Prozent der US-amerikanischen Arbeitnehmer „purpose-driven“ sind. Das trifft auf jene Menschen zu, die ihren Job als absolut sinnhaft verbreitenund wirkungsvoll erleben, die sich darin persönlich weiterentwickeln können und die in ihrer Arbeit persönliche Beziehungen zu Kollegen oder Kunden pflegen. Auch die Wirkung dieser Sinnorientierung auf Mitarbeiter ist bereits erforscht. Im Unterschied zu jenen Mitarbeitern, die Arbeit nur als notwendiges Mittel sehen, um den Lebensunterhalt zu verdienen, bleiben die sinngetriebenen Arbeitnehmer länger bei einer Firma, sie pflegen stärkere Beziehungen im Job, sie zeigen bessere Leistung als ihre Kollegen. Sinngetriebene Arbeitskräfte handeln unternehmerischer, erleben sich erfüllter im Job, sind seltener krank und promoten ihre Firma intensiver nach außen.

Auch Martin hat die Sehnsucht nach Sinn dazu gebracht seinen Führungsposten in einem internationalen Konzern in Wien an den Nagel zu hängen. Der Top-Manager erlitt, was viele Arbeitnehmer in geldgetriebenen Systemen erleben. Irgendwann ließ sich die innere Leere nicht mehr mit Prämienzahlungen oder teuren Urlaubsreisen stopfen. Der Wunsch, etwas sinnstiftendes zu gestalten, war laut genug, dass der 44-jährige Familienvater den Mut fasste, zu kündigen, noch ohne zu wissen, wie es finanziell weitergehen würde. Heute, nur zwei Jahre später, hat er seinen Traum verwirklicht. Als Gründer und COO eines Start-ups arbeitet er mit seinen drei Gründerkollegen voller Begeisterung daran, ihre Idee in die Welt zu bringen. Der Purpose der Qidenus Group ist „Unlocking Knowledge“. Die Firma will Geschichte suchbar machen. Mit einer Technologie zur Digitalisierung alter Handschriften wollen sie Kirchenarchive weltweit zugänglich machen, damit jeder Mensch seine eigene Genealogie erforschen kann. „Sinn ist ein faszinierender Motor für mich! Ich arbeite heute mehr und verdiene weniger, aber ich habe viel mehr Spaß und Erfüllung im Job. Das ist unbezahlbar!“

Der Forscher und Autor Aaron Hurst prophezeit, dass in den nächsten Jahren viele Menschen Martins Weg gehen werden. In seinem Buch „Purpose Economy“ beschreibt er eine Zeitenwende. Nach dem Übergang der Industriegesellschaft in die Wissens- und Informationsgesellschaft (ab 1960) läutet Hurst nun bereits das Ende dieser Ära ein und beobachtet, wie im Wirtschaftssystem genauso wie bei Einzelnen die Suche nach Sinn das wirtschaftliche Handeln und Organisieren bestimmt.