Ein Kreis voller Stühle, in der Mitte stehen Blumen – und jeder darf nach Herzenslust berichten, was ihm auf den Nägeln brennt: Die quasselnde Runde erinnert an Gruppentherapie. Doch es geht nicht um Alkoholsucht, Trennungsschmerz oder andere Leiden. Die Teilnehmer reden sich berufliche Angelegenheiten von der Seele. Ob dieses und jenes Projekt optimiert werden kann und mit welchen Innovationen das Unternehmen demnächst glänzen könnte. Die Atmosphäre ist locker, mal wird auch hitzig debattiert – Langeweile kommt nicht auf.

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Foto von John Schnobrich

Open Space nennt sich die alternative Unternehmenskultur, die auf steife Konferenzen und ermüdende Referate am Flipchart verzichtet.

Stattdessen kann sich jeder Mitarbeiter einbringen, wann und wie er möchte. Auch Vorgesetzte gibt es bei der sogenannten betrieblichen Selbstorganisation nicht. Die Mitarbeiter verwalten sich quasi selbst. Die Idee wird derzeit heftig diskutiert. Schließlich bedeutet betriebliche Selbstorganisation mehr Eigenverantwortung und mehr Mitbestimmung. Sie ist damit ein Gegenentwurf zum Turbokapitalismus mit seinen strengen Hierarchien. Kein Wunder, dass diese alternative Management-Idee derzeit angesagt ist. Unter dem Titel Weg mit den Managern! berichtete im Januar das Magazin Harvard  Business Manager, wie Mitarbeiter ohne Führungsleute in Selbstorganisation und mit Eigenverantwortung erfolgreich wirtschaften können.

Manager braucht es nicht

Vordenker von Open Space ist der amerikanische Ökonom Gary Hamel. Er rief das Projekt Management Innovation eXchange (MIX) ins Leben, das die konventionellen Unternehmensstrukturen ändern will. “Die heutigen Management-Praktiken setzen vor allem auf Disziplin und Effizienz – und das ist ein Problem”, mahnen Hamel und seine Strategen auf ihrer Projekthomepage. MIX richte sich an alle “inspirierten Denker und radikalen Macher”, die noch an Alternativen zu den bürokratischen und entmachtenden Management-Praktiken glaubten. Davon seien die meisten modernen Unternehmen geprägt. Für Gegner des stark in Verruf geratenen Raubtierkapitalismus sind solche Sätze Balsam.

Dabei muss einem Unternehmen die Effizienz nicht verloren gehen, wenn es seine Manager-Kaste auflöst und betriebliche Selbstorganisation einführt. Ein Beispiel ist das US-Unternehmen Morning Star, das Theoretiker Gary Hamel beeindruckte.

Die Firma aus dem kalifornischen Woodland ist einer der größten Tomatenverarbeiter der Welt – Umsätze und Gewinne sollen im zweistelligen Bereich liegen. Vorgesetzte gibt es bei Morning Star nicht. Die Firma setzt auf Selbstmanagement: Jeder Mitarbeiter handelt eigenverantwortlich, ob im Umgang mit Kunden, Lieferanten oder  Kollegen. Die führungslose Selbstorganisation wirkt – der Betrieb wirtschaftet erfolgreich.

Eigentlich ist kollektive Selbstorganisation nicht neu. Schon im Mittelalter schlossen sich Dorfbewohner zu Genossenschaften zusammen, um  mit vereinten Kräften beispielsweise Deiche zu bauen. Im Ruhrgebiet erinnern sich Ältere an die Knappschaften, die Interessenvertretungen der Bergleute. Heute fallen den meisten nur noch die Volksbanken ein, die nach dem Genossenschaftsprinzip wirtschaften. Oder die tageszeitung (taz), die in den siebziger Jahren als linkes, selbstverwaltetes Zeitungsprojekt gegründet wurde. Sogar Redaktionskonferenzen sind bei der Verlagsgenossenschaft öffentlich.

Weil die Hierarchien größtenteils aufgehoben und die Lasten auf viele Schultern verteilt sind, reagieren gerade überforderte Manager erst einmal erleichtert. “Da sagen Führungsleute: Toll, dass ich mich als Chef nicht mehr um alles kümmern muss”, sagt Jo Töpfer von der Boscop eg in Berlin. Offenbar scheint die betriebliche Selbstorganisation zu gesünderer Arbeitsverteilung zu führen – alle kümmern sich. Das entlastet alle.

Die Berliner Kooperative schult seit 1996 Unternehmen, aber auch Nachbarschaften, Schulen oder NGO in Open Space und Selbstorganisation. Klassische Kunden sind laut Töpfer Betriebe oder Verwaltungen, die unter ihren verkrusteten Strukturen leiden. Auch ganze Staaten hätten per Open Space schon einen anderen, offeneren Umgang gelernt. Vertreter der ehemaligen Sowjetrepubliken Tadschikistan, Usbekistan und Kirgisistan besprachen im Stuhlkreis, wie sich in der zentralasiatischen Region dauerhaft Frieden sichern lässt, erzählt Töpfer.

Taugt Open Space also als unternehmerisches Gegenmodell zum ausbeuterischen Status Quo? Sinkt die Zahl der ausgebrannten Führungskräfte, wenn man ihnen die Lasten abnimmt und auf viele Schultern verteilt? “Viele Unternehmen merken jedenfalls, dass sie mit dem alten Verfahren nicht mehr weiter kommen. Sie suchen Alternativen”, sagt Töpfer. Eine davon kann Open Space sein. Die Nachfrage danach habe mit der Krise zugenommen.

Mehr Eigenverantwortung und größerer Spielraum

Und welche Erfahrungen machen Unternehmen, die sich auf das Wagnis einlassen? Davon kann Hans-Georg Wicke erzählen. Der 53-Jährige leitet Jugend für Europa, die deutsche Agentur für das EU-Programm Jugend in Aktion. Das Programm organisiert internationale Freiwilligendienste, Seminare und andere Begegnungen für Jugendliche. Wicke hat 42 Mitarbeiter. Er wollte die Strukturen ändern und ließ sich von Boscop beraten. Herauskam ein Modell, das mehr Selbstorganisation vorsah. Doch nicht alle seiner 42 Mitarbeitern waren anfangs auch davon begeistert, erzählt Wicke. “Das Modell ist auf Widerstände gestoßen.” Schließlich bedeutet Selbstorganisation Arbeit – jeder muss die Belange des Gesamtunternehmens im Blick haben. Das heißt, Verantwortung zu übernehmen, auch für Aufgaben, die gar nicht primär im eigenen Bereich liegen. Das heißt: Mitdenken und Augen offenhalten! Die Perspektive der Kollegen einnehmen und das Gesamtergebnis im Blick haben.

Nach einer Weile seien aber alle im Team von der Selbstorganisation überzeugt gewesen. Denn sie entdeckten die großen Vorteile. Die Mitarbeiter haben direkten Einfluss auf die Gestaltung ihrer Arbeit, der Arbeitsabläufe und auch auf die Arbeitszeiten. So führte das Team von Jugend für Europa ein innovatives Arbeitszeitmodell ein, das den Bedürfnissen der Mitarbeiter Rechnung trägt. “Heute kann jeder kommen und gehen, wann er will”, sagt Wicke. Das Team hat auch die Anwesenheitspflicht bei Sitzungen komplett aufgehoben – durch die veränderten Strukturen ist sicher gestellt, dass trotzdem alle alle Informationen haben und sich einbringen. Und selbst sensible Dinge regeln sich kreativ: Eines Tages schlug ein Mitarbeiter vor, das Raucherbüro in ein Nichtraucherbüro zu verwandeln. Wochenlang verhandelte die Belegschaft untereinander und entschied sich schließlich kooperativ für einen qualmfreien Arbeitsplatz mit separater Raucherecke. “Es war die bislang heftigste Diskussion, an ich mich erinnern kann”, sagt Agenturleiter Wicke. Aber ein Machtwort habe er nicht sprechen müssen, die Einigung kam wie von selbst.

Quelle: zeitonline.de