„Genial“: In sieben Sätze serviert und ohne Probleme bitte

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Foto von Christina @ wocintechchat.com

Nun verspricht uns der niederländische Professor Ger Driesen von der HAN University of Applied Science Arnhem and Nijmegen, dass wir von Vincent lernen können, ohne dass wir uns durch seine Briefe mühen, uns mit seinem schweren Leben beschäftigen müssen oder gar sein künstlerisches Oevre kennen. 

Was der Professor auf der Zukunft Personal präsentiert, zeugt allerdings von Reduktionismus in Verbindung mit name droping – im Zeichen des digitalen Zeitalters. Die Messe titelt zum Vortrag: „Wie wir van Goghs des digitalen Zeitalters werden“. Der Ankündigungstext wirbt: „Der CEO der Challenge Leadership Development Academy hat die mehr als 900 erhaltenen Briefe van Goghs studiert und daraus sieben Prinzipien abgeleitet. Wie diese auch heute noch eine hohe Arbeitskunst und Kreativität garantieren, erklärt er in einem Vortrag am ersten Messetag der Zukunft Personal (15. September).“ 

Faktisch ringt der Professor den 900 Dokumenten, die der psychisch schwer bedrückte und existentiell angeschlagene Maler unter anderem zu seinem Überleben verfasste, sieben Erfolgsrezepte für das Business ab; darunter „Entdecke das Außergewöhnliche am Gewöhnlichen“, „Praktiziere und übe, was Du können willst“ und „Reflektiere mit vielen anderen, was Du tust“. Auf die weiteren, aufregenden Prinzipien dürfen wir gespannt sein. Damit uns eine hohe Arbeitskunst garantiert ist; gut dotiert versteht sich.  

Sicher ist heute: Bei der zitierten Kunst werden uns künftig unter anderem künstliche Intelligenz, Nanotechnik und Co. unter die Arme greifen. Dies wird viele von uns herausfordern. Wäre es da nicht besser, dass wir nach dem im Werk von van Gogh suchten, das uns am Boden hält? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir kreativ sein. Indem wir selbst die Briefe lesen und uns mit der Person beschäftigen, die uns selbst beeindruckt. 

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Foto: Leonardo da Vinci  | pixelio.de  

Produktivität muss anders zu gewährleisten sein

Wahnsinnige haben Systeme immer in Frage gestellt. Sie gerieten zum Teil aus dem Gleichgewicht, weil sie von Mitmenschen nicht angenommen wurden und schlussendlich gelang es einigen von ihnen, ihrerseits die Gesellschaft aus ihrem Gleichschritt zu bringen. Wahnsinn ist dem modernen Zeitgenossen heute kaum noch ein Begriff. In der öffentlichen Debatte um seelische und geistige Erkrankungen geht es jetzt vor allem um Manie, Depression und Psychosen. Medizin und Gesellschaft haben ihre Begriffe weiterentwickelt. Es gilt in Psychatrien nicht als wünschenswert, das Kreative manisch schöpferisch tätig sei sollen, weil es sie gesundheitlich gefährdet. Produktivität muss anders zu gewährleisten sein. Heute sollte uns nicht mehr der Wahnsinnige die Tür öffnen müssen.

Die Zeiten haben sich tatsächlich beträchtlich gewandelt, der niederländische Maler musste sich noch unter anderen Umständen entwickeln. Und weil Vincent van Gogh lebte, wie er es tat, wurde er derjenige, der er war. Seine Produktivität ist nur angesichts seines Gesamtlebens zu verstehen.

Wahnsinn wurzelt in seelischer Überfrachtung durch nicht verarbeitete Erlebnisse und wird begünstigt durch schwere Existenzängste. Kommen chronischer Hunger, monate- oder jahrelange Schlaflosigkeit dazu, gerät der Körper endgültig aus dem Gleichgewicht. Der Betroffene verknüpft Bilder, Informationen und Erinnerungen miteinander, wie er das unter für ihn harmonischen Umständen nicht tun würde. Sein Unterbewusstes schäumt quasi über. Viele Wahnsinnige gleiten in Trancezustände, die sie erst in ihrem Tun und Denken befeuern, dann aber völlig ausbrennen.

Die bürgerliche Debatte um Wahnsinnige, Melancholiker und Schizophrene in Literatur, Musik und Malerei blendete Schaffensgründe gern aus, die als abnorm galten. Viele Interpreten des 19. und 20. Jahrhunderts wollten ihre geliebten und bewunderten Genies nicht in Verruf bringen; Wahnsinn und Co. galten als asozial, krank oder kriminell. Ein Wahnsinniger als Vorbild auf dem Olymp der Gesellschaft verstieß gegen die Logik des Systems: Gesunde, vernünftige Kultur für gesunde, vernünftige Menschen. Selbst wenn das Werk wie bei Kafka oder Nietzsche offenkundig das seelische Ungleichgewicht ausdrückte – in der Interpretation hatte das nicht zur Sprache zu kommen. Selbst in der Zeit nach dem dritten Reich nicht, welches diese Künstler auszulöschen versucht hatte, weil sie ihm allzu krank vorkamen.