Herr Walle, die Bedeutung von Gesundheit, Ernährung und Sport wird in unserer Gesellschaft immer häufiger hervorgehoben. Hat in den letzten Jahren ein Umdenken hin zu mehr Gesundheitsbewusstsein stattgefunden?

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Foto von Bram Naus

Oliver Walle: In der Tat hat ein Umdenken stattgefunden hin zu mehr Bewusstsein für gesunde Ernährung, gerade auch im Hinblick auf den Fleischkonsum und die Tierhaltung. In Supermärkten sind beispielsweise mehr vegetarische oder vegane Angebote zu finden als früher. Während man dies in der Öffentlichkeit wahrnimmt, zeichnen Statistiken jedoch ein anderes Bild. Der letzte große Report des Robert-Koch-Institutes zur Gesundheit in Deutschland aus dem Jahr 2015 zeigt auf, dass wir nach wie vor unter dem Schnitt an empfohlener Bewegung pro Woche bleiben, zu übergewichtig sind und Adipositas zunimmt. Auch wenn Deutschland nicht gesünder geworden ist, werden wir älter, weil die Medizin dafür sorgt und nicht, weil Menschen gesünder leben.

 

Wieso sollte ein Arbeitgeber Zeit und Geld in das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) investieren? Welche Vorteile ergeben sich dadurch für Unternehmen?

Oliver Walle: Es gibt zum einen die gesetzliche Verpflichtung für die Arbeitgeber, im Arbeitsschutz tätig zu werden und damit auch in die Gesunderhaltung der Beschäftigten zu investieren. Hierbei geht es aber vielmehr um die Vermeidung von gesundheitsgefährdenden Belastungen sowie von Unfällen. Für eine betriebliche Gesundheitsförderung besteht keine gesetzliche Pflicht. Dennoch lohnt sich auch dieser Invest, da im Falle eines krankheitsbedingten Ausfalls zuerst einmal der Arbeitgeber das Nachsehen hat auf Grund der zu leistenden Lohnfortzahlung. Selbst wenn die Ursachen der Erkrankung beim Arbeitnehmer zu finden sind, da dieser beispielsweise auf Grund seines Gesundheitsverhaltens nicht selbst aktiv dazu beiträgt, fit bis zur Rente zu bleiben, kann es für das Unternehmen lohnend sein, in ein BGM zu investieren. Hierbei muss die Gestaltung aber dazu führen, dass der Nutzen höher ist als die Kosten. Das muss die Rechnung sein.

 

Welche Schritte muss ein Unternehmen gehen, um ein erfolgreiches BGM einzuführen?

Oliver Walle: BGM ist ein „Managementsystem“, ähnlich dem Qualitäts-, Arbeitsschutz- und Umweltmanagement. Auch hier gilt: Einmalige Aktionen sind „nice to have“, aber schaffen langfristig keine Veränderung. BGM muss prozessorientiert sein. Jedes Unternehmen sollte für sich Ziele definieren, was dann wiederum die Festlegung von Zuständigkeiten, Ressourcen und Budget nach sich zieht. Außerdem müssen Maßnahmen sowohl auf der Verhaltens- als auch auf der Verhältnisebene stattfinden. Also nicht nur das Angebot eines Gesundheitstags oder einer Rückenschule, was eher verhaltensorientierte Maßnahmen sind, sondern auch die Schaffung von gesundheitsförderlichen Rahmenbedingungen, Strukturen und Prozessen. Das bedeutet: Das BGM muss im Unternehmen verankert sein – dann ist es in der Regel auch erfolgreich. Einzelne Kurzzeitmaßnahmen, das zeigen auch die Studien, haben keinen langfristigen Erfolg.

 

Wie beziehungsweise woran lässt sich messen, ob das BGM erfolgreich ist?

Oliver Walle: Das hängt von den Zielen ab, die in zwei grundlegende Gruppen unterteilt werden können. Einerseits eher die problemorientierten Ziele auf Grund zu hoher Krankenstände, Fluktuation der Mitarbeiter, die sich im Unternehmen nicht mehr wohlfühlen, zu viele Langzeiterkrankte oder auch Fälle für das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM). Hieraus lassen sich Ziele wie Arbeitsfähigkeit bis zur Rente, leistungsfähige und -bereite Mitarbeiter sowie sichere und gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen ableiten, welche insbesondere für Industrieunternehmen zutreffen. Das Erreichen dieser muss durch regelmäßige Überprüfung relevanter Kennzahlen wie z.B. Krankenstand gesamt und nach Alter, BEM-Fälle, oder auch spezifische Indikatoren wie den Arbeitsfähigkeitsindex, welcher durch Befragung ermittelt werden kann, erfolgen. Die zweite Zielgruppe bezieht sich vielmehr auf die Arbeitgeberattraktivität, welche zunehmend durch den Fachkräftemangel an Bedeutung gewinnt. Hier gilt es, von Mitarbeitern und Bewerbern gewünschte und z.T. auch geforderte Maßnahmen, wie z.B. zur Work-Life-Balance, das Angebot flexiblerer Arbeitszeitmodelle, welche zur jeweiligen Lebensphase passen, anzubieten. Gleichzeitig spielen hierbei auch gesunde Führung, Wertschätzung und der Einbezug der Beschäftigten eine wesentliche Rolle. Auch hierbei muss mit Kennzahlen zur Erfolgsmessung gearbeitet werden. All diese Kennzahlen sowie weitere, die das BGM als System messen, müssen in einem für das Unternehmen geeigneten Kennzahlensystem ansprechend visualisiert werden. Nur so gelingt eine Steuerung und Erfolgsmessung für das BGM.

 

Messbares BGM setzt eine entsprechende Datenerhebung voraus. Welchen Einfluss hatte denn die DSGVO auf die BGM-Praxis?

Oliver Walle: Datenschutz gab es ja schon vor der DSGVO. In meiner Arbeit mit größeren Unternehmen gab es schon seit jeher Auftragsdatenvereinbarungen bei der Analyse von Gesundheitsdaten, welche den heutigen Anforderungen der DSGVO entsprechen. Eine Mitarbeiterbefragung beispielsweise, in der man vielleicht eine Bewertung der Unternehmenskultur, der Führung oder der eigenen Gesundheit abgibt, ist hoch sensibel bezüglich persönlicher Daten. Dadurch, dass die Teilnahme freiwillig ist, die erhobenen Daten anonymisiert werden und die Auswertungslogik so festgelegt ist, dass kein Rückschluss auf einzelne Mitarbeiter gezogen werden kann, wird den Forderungen des Datenschutzes Rechnung getragen. Diese Regeln sind einzuhalten.

 

Welche Themen stehen aktuell im BGM besonders im Fokus?

Oliver Walle: Das sind letztlich die bereits genannten Themen wie Senkung des Krankenstands, Erhalt der Arbeitsfähigkeit bis zur Rente und die Erhöhung der Arbeitgeberattraktivität durch spannende Angebote der Betrieblichen Gesundheitsförderung sowie der Schaffung gesundheitsförderlicher Arbeitsbedingungen. Hierbei stellt sich die Frage, wie das Unternehmen bei Fach- und Führungskräften, aber auch bei Auszubildenden interessanter werden kann. Beispielsweise im Hinblick auf das Thema Work-Life-Balance gilt es zu prüfen, wie Home-Office-Lösungen und flexiblere Arbeitszeiten passend zur Mitarbeitersituation geschaffen werden können und eine Abkehr von starren Regelungen erfolgen kann. Wieso sollte man an einem guten Tag nicht im Home Office 11 bis 12 Stunden arbeiten und dafür am nächsten Tag entsprechend weniger? Das Arbeiten länger als 10 Stunden wäre aktuell noch Verstoß gegen das Arbeitszeitgesetz. Zwar sind dies klassische Personalthemen, die aber zunehmend im Rahmen des BGM diskutiert und angegangen werden.

 

Stichwort „Arbeit 4.0“. Unternehmen sehen darin vor allem Potenziale, viele Arbeitnehmer verspüren durch die schnellen Veränderungen und die zunehmende Informationsflut aber oft Unsicherheit oder gar Angst. Welche Rolle spielt BGM bei der Weichenstellung für die Zukunft der Arbeitswelt?

Oliver Walle: Neben den positiven Effekten für Unternehmen erleben die Mitarbeiter die zunehmende Digitalisierung, Technisierung und Prozessbeschleunigung durch die „Arbeitswelt 4.0“ eine Zunahme der mentalen Belastungen. Zudem führt diese Entwicklung bei manchen auch zu Ängsten, bei diesen Veränderungen nicht mithalten zu können und langfristig durch Maschinen und Algorithmen ersetzt zu werden. Welche Auswirkungen die Arbeitswelt 4.0 auf die Gesundheit der Beschäftigten tatsächlich haben wird, kann Stand heute noch nicht hundertprozentig beantwortet werden. Hierzu gibt es noch weiteren Forschungsbedarf. Grundsätzlich gilt es aber, die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen auch tatsächlich durchzuführen, da mit dieser bereits vorhandene Belastungen erfasst und beurteilt werden können. Viele Unternehmen hängen bei der Umsetzung dieser gesetzlichen Anforderung noch hinterher, auch größere Firmen. Geht es um die Beurteilung neuer und veränderter Belastungen auf Grund der Arbeitswelt 4.0, so müssen diese erst einmal beobachtet und erfasst werden. Hierbei gilt es, mit den Akteuren im Betrieb, die in die Gefährdungsbeurteilung eingebunden sind, aber auch den Führungskräften und Mitarbeitern gemeinsam die Veränderungen zu diskutieren und praktikable Lösungen zu finden.

Aus heutiger Sicht werden insbesondere Themen wie das mobile und multilokale Arbeiten hinterfragt. Wenn ich im Flieger, in der Bahn oder im Straßencafé arbeite – wie ist hier die Ergonomie zu beurteilen? Natürlich gab es das auch schon früher, aber da waren es doch eher einzelne Führungskräfte, bei denen man gesagt hat: „Die finden Lösungen.“ Heute sind zunehmend Arbeitnehmer solchen Situationen ausgesetzt, hinzu kommt noch der Technikstress sowie ständige Erreichbarkeit durch Smartphone, Tablet oder Laptop, um der erhöhten Prozessgeschwindigkeit nachkommen zu können. Während der Arbeitgeber in erster Linie die Vorteile der Beschleunigung sieht, führt dies bei Arbeitnehmern nicht selten zur Arbeitsverdichtung und Reizüberflutung. Aber auch für die Mitarbeiter ergeben sich durch die „Arbeitswelt 4.0“ Potenziale, so z.B. durch die Nutzung von Assistenzsystemen zur Reduzierung körperlicher Belastungen. Derzeit wird der Einsatz von Exoskeletten getestet, die am Körper getragen werden und das Heben und Tragen von schweren Gegenständen aktiv unterstützen und somit zur Rückenentlastung beitragen. Hier darf man weiter gespannt sein.

 

Welche Chancen kann denn die fortschreitende Digitalisierung für das BGM bedeuten?

Oliver Walle: Sinnvoll eingesetzt, können digitale Lösungen auch helfen, Technikstress zu reduzieren und Work-Life-Balance-Maßnahmen, wie beispielsweise das Home Office, ermöglichen. Auf Grund besserer Datenverbindungen ist das Andocken an die Unternehmens-IT bereits deutlich besser und bezahlbarer geworden. Das eröffnet neue Potenziale. Des Weiteren kann durch intelligente Steuerung von E-Mails eine Reizüberflutung vermieden werden, so dass lästige Routinearbeiten für den Mitarbeiter entfallen und mehr Raum für kreative Arbeit geschaffen wird – genau hier liegen die Potenziale der künstlichen Intelligenz.

 

Haben die unterschiedlichen Generationen an Arbeitnehmern auch unterschiedliche Erwartungen an BGM?

Oliver Walle: Dieser Frage sind wir an der DHfPG (Oliver Walle ist Dozent an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement/BSA-Akademie, d. Red.) in einer Untersuchung nachgegangen. Anhand von Interviews mit Führungskräften und Personalern dreier Industrieunternehmen wollten wir untersuchen, wie sich die vier Generationen führen lassen und welche Anforderungen an ein Gesundheitsmanagement gestellt werden. Dazu haben wir zwei Gruppen eingeteilt. Auf der einen Seite die „Babyboomer“ und die „Generation X“ – für uns bis zum Jahrgang 1985 – und auf der anderen Seite die „Generationen Y“ und „Z“, also die sogenannten „Digital Natives“. Es zeigten sich deutliche Unterschiede in der Nutzung der Kommunikationsmedien: die „Generationen Y und Z“ bedienen sich verstärkt der sozialen Netzwerke wie Instagram, Facebook oder WhatsApp, während die „Babyboomer und die Generation X“ E-Mail oder die persönliche Ansprache bevorzugen. Beide Gruppen haben auch unterschiedlich Vorstellungen davon, wie Maßnahmen der Gesundheitsförderung ablaufen sollten. Hierbei spielt insbesondere der Einsatz digitaler Lösungen eine größere Rolle, zudem bedarf es modernerer Maßnahmen als der altgedienten Rückenschule. Gerade ältere Arbeitnehmer wünschen sich Angebote zur Reduktion spezifischer Gesundheitsprobleme, so z.B. der Einsatz von Physiotherapie im betrieblichen Umfeld. Für die jüngeren hingegen steht eher der Spaßfaktor und Eventcharakter im Vordergrund, beispielsweise durch Teilnahme an einer Laufveranstaltung.

 

Wie schätzen Sie die Entwicklung des BGM in den nächsten Jahren ein?

Oliver Walle: Die Bandbreite hat in den letzten Jahren massiv zugenommen da immer mehr Personalthemen dem BGM zugeordnet werden. Die BGM-Manager und -Dienstleister müssen sich immer breiter aufstellen und ein größeres Spektrum anbieten: neben der Betrieblichen Gesundheitsförderung auch Arbeitsschutzthemen bedienen, Betriebliches Eingliederungsmanagement umsetzen und in Personalmanagementfeldern unterstützen. Ich gehe davon aus, dass BGM künftig stärker mit der Schaffung einer Unternehmenskultur, innerhalb derer Themen wie gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen, Wertschätzung, Kommunikation und Generationenmanagement ihren Platz finden, in Verbindung gebracht wird. Auch in den kommenden Jahren werden wir uns darüber hinaus weiter mit den gesundheitlichen Konsequenzen der „Arbeitswelt 4.0“ befassen müssen, vor allem mit der Beurteilung psychischer Belastungen.

Was den Einsatz digitaler Lösungen im Rahmen der Gesundheitsförderung, so z.B. Apps in Kombination mit tragbaren Sensoren, angeht, muss das Vertrauen in den Datenschutz gestärkt und der Nutzen für das Unternehmen besser dargestellt werden. Dass digitale Lösungen grundsätzlich an Bedeutung gewinnen werden, zeigt sich in Befragungen der DHfPG bei Personalern.

 

Weitere Informationen zu den Themen in der Veranstaltungsreihe Praxiswissen BGM: www.gesundheitimbetrieb.de/praxiswissen-bgm

Oliver Walle ist Dozent an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement und BSA-Akademie, Geschäftsführer der Health 4 Business GmbH und Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes BGM (BBGM).