Ein Beitrag aus dem Wall Street Journal vom 19. Juli 2012 über Nokias Krise brachte zu Tage, dass es dem finnischen Unternehmen nicht an neuen Ideen oder Technologien fehlte. Vielmehr sorgten interne Konflikte dafür, dass das Management Entscheidungen über Monate hinweg  verzögerte und vielversprechende neue Möglichkeiten nicht nutzte. Offenbar führten unterschiedliche Erwartungen in Bezug auf Technologiepotenziale oder Marktpositionierungsoptionen zu den Konflikten, die das Unternehmen lähmten.

Die Wahrscheinlichkeit, dass hinter einer schwierigen Führungssituation Konflikte stehen, die aus einer Diversität an Erwartungen resultieren, ist hoch. Der Organisationsalltag bietet eine Vielzahl an Paradoxien, die konfliktäre Erwartungen fördern (Smith/Tushman 2005), wie zum Beispiel Effizienz versus Innovativität, kurzfristige Optimierung versus langfristiges Überleben oder Nutzung bestehender Kernkompetenzen versus Aufbau neuer Potenziale.

Worauf konfliktäre Erwartungen beruhen

Solche Konfliktäre Erwartungen ergeben sich entweder aus unterschiedlichen Einschätzungen der Situation oder aus divergierenden Handlungspräferenzen zwischen Führungskraft, Teammitglied oder Team.

Dass wir die Welt sehr individuell wahrnehmen, sollte nicht überraschen. Die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie (Cyert/March 1963/2003) weist darauf hin, dass unsere Informationsverarbeitungskapazitäten begrenzt sind. Wir handeln immer nur beschränkt rational (bounded rationality), da wir nie in der Lage sind, Informationen vollumfänglich zu verarbeiten. Das gilt nicht nur für die Zukunft, die wir noch nicht kennen. Auch vergangene Ereignisse nehmen wir subjektiv wahr und belegen sie retrospektiv mit Sinn. Im Laufe der Zeit entwickeln wir daher einen ganz spezifischen Bezugsrahmen, der beeinflusst, wie wir die Welt wahrnehmen und in bestimmten Situationen handeln.

Da wir keinen Zugang zu einer objektiven Realität gewinnen können, bleibt die Frage nach einem Leistungsoptimum ebenso interpretationsoffen wie die nach einer korrekten Zuschreibung von Ursachen-Wirkungsketten im Unternehmen beziehungsweise zwischen Organisation und Umwelt. Um dennoch in einer komplexen und sich dynamisch entwickelnden Welt entscheidungs- und handlungsfähig zu bleiben, entwickeln Individuen und Organisationen Daumenregeln, wie bestimmte Situationen einzuschätzen sind und wie Mitarbeiter in diesen Situationen handeln sollen.

Spielregeln für Verhaltenserwartungen und Anspruchsniveau verstehen

Diese Regeln sind generalisierte Verhaltenserwartungen, in denen ein organisationsspezifisches Anspruchsniveau eingebettet ist. Führung als sozialer Interaktionsprozess nimmt eine Schlüsselstellung in der Entwicklung und Aufrechterhaltung der Erwartungen und des Anspruchsniveaus ein. Aktuelle Führungstheorien wie die Leader-Member-Exchange-Theorie (LMX-Theory) fokussieren entsprechend auf Aushandlungsprozesse zwischen Führungskraft und Geführten, in denen sich die wechselseitigen Erwartungen und Rollen verfestigen (Liden/Sparrowe/Wayne 1997).

Die Erwartungen – oder auch Werte und Normen – einer Organisation definieren, welche Mitarbeiterperformance zu erreichen ist, welche Kundenorientierung erwartet wird oder wo Qualitätsstandards liegen. Während Mitarbeiter von Beratungsunternehmen selbstverständlich eine Arbeitszeit von 9 bis 22 Uhr oder später akzeptieren, werden die Beschäftigten anderer Organisationen schon unruhig, wenn sich ihr 9-to-5-Job um wenige Minuten verlängert.

Schwierige Führungssituationen: Erwartungen divergieren

Alle schwierigen Führungssituationen haben eines gemeinsam: die Ursachen liegen in einer Diversität der Erwartungen, die zu Konflikten im Beziehungsdreieck Führungskraft, Teammitglied und Team führen. Die unterschiedlichen Erwartungen können aus der Strategie (zum Beispiel turbulente Veränderungen in der Umwelt des Unternehmens), der Organisation (zum Beispiel  Restrukturierungen, Matrix-Organisationen, Unterschiede zwischen disziplinärem und fachlichem Vorgesetzten), dem Team oder aus der Beziehung zwischen Führungskraft und Geführten resultieren.

Dabei ist Diversität jedoch nicht per se schlecht; ganz im Gegenteil: Studien, zeigen, dass eine moderate Diversität ausgesprochen funktionale Wirkungen in Bezug auf die Leistungsfähigkeit, Innovativität, Flexibilität oder Lernfähigkeit hat (zum Beispiel Edmondson/Bohmer/Pisano 2001). Problematisch wird es nur dann, wenn die Diversität zwischen den Anspruchsniveaus von Führungskraft, Teammitglied oder Team dauerhaft zu groß ist. Wiederkehrende Konflikte beeinträchtigen dann die Entscheidungsfähigkeit der Führungskraft – wie im Nokia-Beispiel – und können auf Dauer zu Burn-out-Syndromen führen, wenn Beteiligte keine Lösungsmöglichkeiten sehen.

Lösungsstrategien

In schwierigen Führungssituationen sind die Vorgesetzten gefordert die unterschiedlichen Vorstellungen zu balancieren und Veränderungen zur Überwindung der belastenden Situation zu initiieren. Eine Veränderung der Erwartungen lässt sich entweder dadurch erreichen, dass Mitarbeiter die Situation anders wahrnehmen als zuvor oder dass sie andere Handlungsalternativen entwickeln. Führungskräften stehen drei Stellhebel zur Verfügung, um einen Ausweg aus schwierigen Führungssituationen zu finden: Sinnstiftung, Sanktionierung und die Definition von (Handlungs-)Spielräumen

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Foto von Tetiana SHYSHKINA
  1. Sinn stiften Führungskräfte primär durch ihre Kommunikation und ihr Handeln. Sie reduzieren Komplexität und geben Orientierung in Bezug auf die Entwicklung eines Bereichs. Gerade dann, wenn Situationen unübersichtlich und mehrdeutig sind, wie in der aktuellen europäischen Wirtschaftskrise, ist Kommunikation gefragt. Ein Commitment zu den Zielen des Teams wird nur möglich, wenn Führungskräfte ein konsistentes Gesamtbild vermitteln.

    Ein gemeinsames Grundverständnis (Mind-set) innerhalb des Teams entsteht durch Kommunikation und Teamentwicklung. Führungskräfte sollten ihre Erwartungen und ihre Sicht der Situation in Arbeitsbesprechungen, Zielvereinbarungsgesprächen und Strategieklausuren klar kommunizieren, mit Mitarbeitern und Team diskutieren und im Idealfall zu einer gemeinsamen Sichtweise kommen.

    Vorgesetzte können Leistungserwartungen präzisieren, Umwelteinschätzungen mittels Szenariotechniken im Team generalisieren oder den Umgang mit unterschiedlichen strategischen Vorgaben durch das Unternehmen klären. Letztlich bestimmt jedoch immer der Empfänger, ob und wie er eine Botschaft aufnimmt. Divergieren daher die Bezugsrahmen zwischen Führungskraft und Mitarbeiter zu stark, lohnt es sich, in eine gemeinsame Teamentwicklung zu investieren.

  2. Sanktionen – sowohl formelle als auch informelle – sind ein weiteres Mittel, mit schwierigen Situationen umzugehen. Die Basis dazu legen Arbeitsvertrag und Zielvereinbarungen. Einer klaren Kommunikation der Sanktionen bei Regelverstößen müssen dann konsequente Handlungen folgen, um die Kraft der Vereinbarungen auch mit anderen Teammitgliedern nicht zu schwächen. Dies kann bei wiederholtem Regelverstoß bis zum Ausschluss des Mitarbeiters aus der Organisation führen.

    Doch bevor Führungskräfte einen Minderleister aus dem Team nehmen können, müssen sie sehr genau den Hintergrund  analysieren, denn Verhalten hängt immer von individuellen Faktoren und von den Charakteristika einer Situation ab. Liegt es aber tatsächlich an der Person, sollten Führungskräfte auch außerhalb des jährlichen Zielvereinbarungsgesprächs klare Vorgaben machen und die nachfolgenden Aktivitäten genau beobachten, bevor sie eine Trennung aussprechen (entsprechend einer Eskalationstreppe).

    Informell kann die Führungskraft das Sanktionspotenzial des Teams ansprechen, indem es Leistungsbeiträge in Jour-fixes sichtbar macht. Eine zu große Abweichung von den kollektiven Erwartungen bzw. vom Anspruchsniveau spricht die Konformitätsbestrebungen in Gruppen an und Teammitglieder werden darauf achten, dass die Leistungsbeiträge der einzelnen Mitarbeiter den kollektiven Erwartungen entsprechend ausfallen. Führungskräfte müssen allerdings Teammitglieder bei Bedarf vor den Sanktionen der Gruppe schützen, beispielsweise um Querdenker, Innovatoren oder Mehrleister nicht zu verlieren.

  3. Spielraum – Sanktionen sind nur möglich, wenn Führungskräfte vorab klare Spielregeln  vereinbaren, die den Spielraum für Handlungen aufzeigen. Die Größe dieser Handlungsspielräume und die dadurch wahrgenommene Autonomie in Arbeitsgestaltung und Entscheidungsfindung wirken sich auf die intrinsische Motivation der Mitarbeiter aus und beeinflussen dadurch deren Performance. Wenn Mitarbeiter über ausreichende Kompetenzen verfügen, ihre Aufgaben zu erledigen, und eine Bindung zum Unternehmen aufgebaut haben, kann Autonomie ihre intrinsische Motivation fördern. Voraussetzung ist eine entsprechende Persönlichkeitsstruktur.

    Führungskräfte können auch situativ und individuell unterschiedliche Handlungsspielräume vereinbaren, etwa um altersgerechte Arbeitssituationen zu schaffen, abwechselnde Tätigkeiten sicherzustellen, punktuellen Kundenkontakt zu ermöglichen oder Neuerungsideen einzelner Mitarbeiter zu fördern.


Conclusio

„When routine bites hard, and ambitions are low. And resentment rides high, but emotions won't grow. And we're changing our ways, taking different roads“. Diese Textzeilen von Joy Division aus dem Jahr1980 beschreiben einen Entfremdungsprozess, der auch im beruflichen Kontext viele schwierige Führungssituationen kennzeichnet.  Schwierige Situationen gehören zum Alltag von Führungskräften. Mithilfe von Sinnstiftung, Sanktionierung und der Definition von (Handlungs-)Spielräumen stehen ihr aber drei Stellhebel zur Verfügung, mit denen sie ihre Teams erfolgreich durch schwierige Führungssituation navigieren können.

Ergänzende Arbeithilfe auf HRM.de:
Problemen und Lösungsmöglichkeiten schwieriger Situationen


Literaturtipps

Managing Strategic Contradictions: A Top-Management Model for Managing Innovation Streams. Von Wendy K. Smith und Michael L. Tushman, in: Organization Science, Vol. 16, 2005, S. 522-536.

A Behavioral Theory of the Firm. Von Richard M. Cyert und James G. March, Wiley-Blackwell, 1963/2003.

Leader-Member Exchange Theory: The Past and Potential for the Future.  Von Robert C. Liden, Raymond T. Sparrowe und Sandy Wayne, in: Research in Personnel and Human Resources Management, Vol. 15, 1997, S. 47–119.

Disrupted Routines: Team Learning and New Technology Implementation in Hospitals. Von Amy C. Edmondson, Richard M. Bohmer und Gary P. Pisano, in: Administrative Science Quarterly, Nr. 46, 2001, S. 685-716.

Quelle: personal manager - 5/2012