Dr. Carole Rentsch, Leiterin der Mitarbeitendenentwicklung bei der Schweizerischen Post. Zu ihrem Verantwortungsbereich gehören Kompetenzmanagement, Learning und Performance Management.

Carole Rentsch, Verantwortung für das eigene Lernen
Carole Rentsch

Carole Rentsch verfügt über ein Lizentiat in Psychologie, einen Masterabschluss in Betriebswirtschaftslehre und ein PhD in Management of Technology. Als Mutter zweier Kinder lernt sie immer wieder Neues über sich und die Welt. Bei der Schweizerischen Post leitet sie die Mitarbeitendenentwicklung. Zu ihrem Verantwortungsbereich gehören Kompetenzmanagement, Learning und Performance Management. Die Post befindet sich in einer Transformation, deren Erfolg ganz wesentlich von den Kompetenzen der Mitarbeitenden abhängt. Gemeinsam mit ihrem Team begleitet sie den notwendigen Skill Change bei der Post.

Was verstehen Sie unter dem Begriff «Learning Innovation» oder Innovation im Bereich Lernen?

Der Begriff «Learning Innovation» fasst für mich Entwicklungsmassnahmen und Lernmethoden zusammen, die den Menschen und seine ganz persönlichen (Lern-)Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen. Dies ist in Form klassischer Frontalschulungen nur beschränkt möglich. Für mich heisst «Learning Innovation» also: weg von den Standardangeboten und der Anhäufung von unnützem Vorratswissen, hin zu individuellen, adaptiven Lernpfaden und Lernen in konkreten Arbeitssituationen.

Ein weiterer wichtiger Bestandteil von Learning Innovation ist für mich die Kollaboration über Organisations-, Hierarchie- und Abteilungsgrenzen hinweg. Idealerweise findet diese sogar selbstorganisiert, mit Hilfe neuer Lernformate wie zum Beispiel «Working out Loud» statt. Bei der Post unterstützen wir das informelle Lernen, indem wir zum Beispiel den Zugang zu Quellen wie TedX oder Udemy und die Arbeit auf der postinternen Enterprise-2.0-Plattform ermöglichen. Formate wie dieses setzen natürlich voraus, dass sich Mitarbeitende eigenverantwortlich weiterentwickeln wollen. In der Eigenverantwortung für die Weiterentwicklung sehe ich übrigens den grössten Change – und auch ein immenses Potenzial. Wir sind seit dem Eintritt in die Schule gewohnt, zu lernen, was uns vorgelegt wird. Dieses Verständnis ist überholt: Heute muss die Verantwortung fürs eigene Lernen bei jeder Person selber liegen. Die Weiterentwicklung macht so auch viel mehr Spass. Zum Thema Learning Innovation gehört für mich übrigens auch der Aspekt des lebenslangen Lernens.

Zur Zeit werden viele Schlagwörter verwendet, die durchaus ihre Berechtigung haben, aber immer auch spezifisch und auf eine Organisation hin definiert werden müssen. In diesem Sinne interessiert es mich, wie bei der Post ganz konkret «adaptive Lernpfade» umgesetzt werden. Haben Sie dazu ein Beispiel?

Bei der Umsetzung adaptiver Lernpfade sind wir noch nicht so weit, wie wir es uns eigentlich wünschten. Um wirklich die Qualität an adaptiven Lernangeboten bieten zu können, die wir uns vorstellen, ist heute noch ein sehr hoher Aufwand in deren technischer Umsetzung notwendig. Ich erhoffe mir, dass sich die Erstellung individueller Lernprogramme durch die Weiterentwicklung von KI in naher Zukunft vereinfachen wird.

Was wir bereits heute machen, ist Lernprogramme auf unterschiedliche Zielgruppen auszurichten. Hierfür haben wir zum Beispiel verschiedene Personas entwickelt, die repräsentativ für die unterschiedlichen Lerntypen in unseren Unternehmen stehen. Sie helfen bei der Konzeption passender Angebote pro Zielgruppe. JedeR MitarbeitendeR kann frei wählen, welchen Pfad er oder sie innerhalb des Lernprogramms einschlagen möchte. Je nachdem, welche Wahl getroffen wurde, werden unterschiedliche Lerninhalte bzw. ein unterschiedlicher Detaillierungsgrad der Lerninhalte zur Verfügung gestellt.

Eine weitere Form der Adaption setzen wir um, in dem wir zu Beginn eines Lernprogramms Einstiegstests einbinden. Basierend auf dem Resultat des Tests, erhalten die Mitarbeitenden jeweils Lerninhalte mit unterschiedlichen Schwierigkeitsniveaus.

Die Personalisierung und das Anbieten adaptiver Lernprogramme ist sicher ein wichtiges Thema, das uns heute und morgen beschäftigen wird. Darüber hinaus, was sind für Sie ganz generell Herausforderungen und Ziele – Strategien / Projekte und Programme im Bereich Lernen und Arbeiten?

Eine grosse Herausforderung ist, dass wir heute nicht mehr die gleiche Planungssicherheit haben wie noch vor ein paar Jahren. Es lässt sich kaum verlässlich voraussagen, wie sich das Marktumfeld der Post und die verschiedenen Berufsfelder innerhalb unseres Unternehmens entwickeln werden. Dennoch ist es erfolgsentscheidend, dass wir – als Personalverantwortliche – alle Mitarbeitenden auf die Zukunft vorbereiten und sie darin unterstützen, neue Kompetenzen zu entwickeln. Welche Berufsgruppe welche neuen oder zusätzlichen Fähigkeiten und Kompetenzen benötigen wird – genau das ist aktuell Gegenstand unseres Programms «FutureSkills», in dem wir systematisch Job-Cluster identifizieren, die vom Skill-Change besonders stark betroffen sind bzw. sein werden. Die Herausforderung besteht darin, ganze Berufsgruppen in die «richtige Richtung» weiterzuentwickeln.

Bei der Post sind die Unterschiede zwischen den sogenannten White und Blue Collar Workern stark ausgeprägt. Beinahe 50 % der Belegschaft besteht aus Mitarbeitenden im Betrieb, die über keinen Online-Zugang zum Post-System verfügen. Moderne, innovative Trainingskonzepte enthalten jedoch mehrheitlich Online-Elemente – und seien es nur elektronische Factsheets oder ein Austauschforum. Mit diesem Beispiel möchte ich veranschaulichen, wie divers unsere Zielgruppe «Mitarbeitende bei der Post» ist. Auf der einen Seite gibt es KollegInnen, etwa aus der Innovationsabteilung, die Drohnentransporte zwischen Spitälern realisieren. Auf der anderen Seite haben wir (grösstenteils geringer qualifizierte) Betriebsmitarbeitende, die (beruflich) offline sind. Dass der Unterschied zwischen den Arbeitsmethoden sowie den bevorzugten Schulungsmethoden zwischen diesen beiden Berufsgruppen grösser kaum sein könnte, können Sie sich sicher vorstellen. Für unser Geschäftsmodell sind beide Populationen von elementarer Bedeutung. Das heisst für uns: Wir müssen in Zukunft noch besser abwägen, in welchem Fall ein klassisches zentrales Angebot wie ein Präsenzunterricht (der von den Bereichen aktuell noch bevorzugt wird) tatsächlich Sinn macht, und in welchem Fall wir dezentrale Angebote einsetzen, die der Idee der Agilität entsprechen.

Eine weitere Herausforderung besteht darin, Wissen fürs ganze Unternehmen nutzbar zu machen. Durch die Grösse der Post mit rund 62‘000 Mitarbeitenden ist zwar eine enorme Menge an Wissen vorhanden, jedoch nicht immer für alle zugänglich. Wissensmanagement gewinnt in der schnelllebigen, dezentral organisierten Arbeitswelt an Bedeutung – und Komplexität.

Ich verstehe, dass Präsenzunterricht immer noch gewünscht und nachgefragt wird. Wie verändert sich aber dieser Präsenzunterricht durch den Einsatz neuer digitaler Lernformen? Ist es noch der gleiche Präsenzunterricht oder versuchen Sie auch da, neue Formen umzusetzen? Zum Beispiel in dem die Wissensvermittlung konsequent online stattfindet und die Wissensvertiefung und -anwendung dafür im Präsenzunterricht?

Ja, genau. Wir versuchen konsequent, weg von reinen Präsenz- und hin zu Blended-Learning-Angeboten zu kommen. Und in diesem Zusammenhang setzen wir natürlich auch auf die Vorteile des «Flipped-Classroom»-Ansatzes – was übrigens sehr gut ankommt.

Interessant! Es braucht immer wieder erstaunlich viele Jahre, bis Konzepte, die an Universitäten oder innovativen Bildungsinstitutionen entwickelt werden, akzeptiert werden und Eingang finden in die Personalentwicklung. In diesem Sinne möchte ich gerne mit einer Folgefrage anschliessen: Was müssen Betriebe, Organisationen, Bildungsinstitutionen tun, um Lerninnovationen umzusetzen?

Die erste Hürde besteht in der Auswahl passender Lerninnovationen. Uns erreichen täglich Anfragen und Angebote von Bildungsanbietern, die wir bei der Post prüfen und umsetzen könnten. Eine Lernumgebung für 62‘000 Mitarbeitende umzugestalten, muss gut überlegt sein. Wir versuchen bei der Post, Bewährtes beizubehalten, gleichzeitig überzeugende Innovationen zu pilotieren. Überzeugt uns ein Produkt wirklich, setzen wir es relativ rasch ein. Die Herausforderung besteht dann darin, es mit der bestehenden Lernumgebung zu verknüpfen. Was die Umsetzung von Lerninnovationen sicher fördert, ist eine geteilte Verantwortung fürs Lernen: beim Unternehmen, bei den Führungspersonen, in den Teams und bei den Mitarbeitenden. So entsteht eine sehr kräftige Nachfrage nach unterschiedlichen Tools und Inhalten. Das erzeugt eine Dynamik beim Ausprobieren und Implementieren neuer Formen.

Wichtig für den Erfolg von Lerninnovationen ist auch, dass eventuelle technische Hürden abgebaut werden. Zum Beispiel sollten Kollaborationsplattformen auch am Arbeitsplatz offen aufruf- und nutzbar sein. Last but not least ist bei digitalen Lernangeboten die User Experience matchentscheidend. Ist eine Benutzeroberfläche nicht selbsterklärend, intuitiv und optisch ansprechend gestaltet, macht die Arbeit mit dem besten Learning-Tool keinen Spass, und die Akzeptanz und der erhoffte Lernerfolg bleiben aus.

Digitales Lernen wurde und wird ja immer noch oft mit einem Learning Management System und digitalen Lerninhalten gleichgesetzt, die abgearbeitet werden müssen. Was Sie ansprechen, geht Richtung soziales und kollaboratives Lernen. Gibt es in der Post Ansätze für Learning Communities und digitales soziales Lernen? Können Sie dies ggf. an einem Beispiel illustrieren?

Digitales und soziales Lernen findet bei der Post in unterschiedlicher Art und Weise auf unserer internen Kollaborationsplattform «PostConnect» statt. Jeder Mitarbeitende erhält dort automatisch ein Profil, das entsprechend der eigenen Wünsche und Vorstellungen gestaltet und um Informationen über sich, Aufgaben innerhalb des Unternehmens, aber auch mit Kompetenzen und Interessen ausserhalb des Jobs oder der aktuellen Funktion erweitert werden kann. Insofern bietet die Präsenz auf PostConnect eine optimale Vernetzungsmöglichkeit, die auch gerne und regelmässig genutzt wird. Neben der Vernetzung und der Gründung verschiedener (Interessens-)Gruppen, können Mitarbeiten auf PostConnect auch das gesamte Wissen der Post für Fragestellungen jeder Art konsultieren – ganz einfach, indem sie den Hashtag #whoknows verwenden.

Ausserhalb der digitalen Welt gibt es bei uns natürlich auch Learning Communities. Unter dem Motto «Bleib nicht auf deinem Wissen sitzen, teile es!» veranstalten wir bereits seit langem regelmässig einen Erfahrungsaustausch für Projektleitende verschiedener Bereiche. Und im Rahmen unserer TechTalk und FinTalk-Formate erhalten Post-Mitarbeitende nicht nur Informationen zu neusten Trends und Methoden, sondern können diese direkt in lockerer Atmosphäre bei Brezel und Bier evaluieren und diskutieren.

Auch die aktuell viel diskutierten Social-Learning-Formate «Working out Loud» und «BarCamp» sind bei uns nicht unbekannt, sondern finden in Form erster Graswurzelbewegungen statt.

Was fordert Sie aktuell heraus? Mit was wollen Sie sich in den nächsten Jahren beschäftigen?

Ein zentrales Thema aktuell und in Zukunft ist, unsere Mitarbeitenden arbeitsmarktfähig zu erhalten bzw. zu machen. Hierzu haben wir – wie bereits erwähnt – unter anderem das Projekt «Future Skills» ins Leben gerufen. Wir begleiten die Kompetenzentwicklung in der digitalen Transformation. Dies auf den Ebenen der Tools, der Zusammenarbeit und der Kultur.

Ein weiteres Thema, das wir sehr aufmerksam verfolgen ist die Entwicklung von KI (Künstlicher Intelligenz) sowie die Möglichkeiten, die sich darauf für das Lernen ergeben: Stichwort Lernpfade.

Gibt es da schon KI-Ansätze, die Sie im Bereich Lernen umsetzen? Zum Beispiel im Bereich adaptives Lernen oder Empfehlungsmanagement (Recommendation Systems)?

«Umsetzen» wäre zu viel gesagt. Wir suchen noch …

Daniel Stoller-Schai:
Viel Erfolg bei Suche und Umsetzung und danke für das interessante Gespräch.

Dr. Carole Rentsch, Keynote LEARNING INNOVATION Conference 2019

Interview: Daniel Stoller-Schai

Quelle:
Dieses Interview erschien zuerst in dem Sammelband “10 Jahre Learning Innovation Conference – 22 Interviews”. Hrsg. von Alexander Petsch und Dr. Daniel Stoller Schai, HRM Research Institute 2019.

Lesen Sie mehr Interviews zum Thema “Learning Innovation”:
Wir müssen weg von Rankings!