three people sitting in front of table laughing together
Foto von Brooke Cagle

Das erste Kapitel des Buches gibt einen Überblick über die Entwicklungsstufen des menschlichen Bewusstseins, mit denen sich eine große Anzahl von Historikern, Anthropologen, Philosophen, Mystikern, Psychologen und Neurowissenschaftlern beschäftigt haben – darunter Abraham Maslow, Clare Graves, Jean Gebser, Jean Piaget, Lawrence Kohlberg, Carol Gilligan, Jane Loevinger, James Fowler, Susanne Cook-Greuter, Robert Kegan, Bill Torbert. Die jeweils höhere Stufe ist dabei laut Laloux nicht besser als die früheren, sondern sie ist „komplexer“ in ihrem Umgang mit der Welt. Jede Stufe umfasst und transzendiert die vorhergehenden und jede Stufe ist für bestimmte Kontexte angemessen.

Der Autor bezieht sich auf die Menschheitsgeschichte und die Entwicklungspsychologie. Vor diesem Hintergrund führt er aus, dass wir Menschen die Art und Weise, wie wir  zusammenkommen, um gemeinsam zu arbeiten, immer wieder neu erfunden haben. So entstanden neue, überlegenere und wirkungsvollere  Organisationsformen, die mit der vorherrschenden Weltsicht und dem bestimmenden Bewusstsein verbunden waren. Jedes Mal, wenn wir als Spezies unser Denken über die Welt verändert haben, entwickelten wir laut Laloux wirkungsvollere Organisationsformen. Der Autor beschreibt insgesamt sieben Entwicklungsstufen.

1. Das reaktive Paradigma (Instinkt)

Dies ist die früheste Entwicklungsstufe der Menschheit, die etwa die Zeit von 100.000 bis 50.000 v. Chr. umfasst, als wir in kleinen Familiengruppen lebten. In einigen abgelegenen Teilen der Welt gibt es solche Gruppen heute noch, woher unser Wissen über diese Stufe stammt. Es gibt keine Arbeitsteilung, kein Organisationsmodell, keine Hierarchie und keinen Ältesten oder Häuptling, der eine Führungsrolle übernimmt. Die Grundlage des Überlebens ist die Nahrungssuche.

2. Das magische Paradigma (Magie)

Vor etwa 15.000 Jahren schlossen sich die kleinen Familiengruppen allmählich zu Stämmen zusammen. Es ist anzunehmen, dass die Menschen auf dieser Entwicklungsstufe Ursache und Wirkung nur begrenzt nachvollziehen konnten. Deshalb war die Welt voller Geister und Magie. Die Menschen leben meist in der Gegenwart, mit einigen Elementen aus der Vergangenheit, aber es gab vermutlich kaum Projektionen in die Zukunft. Im kognitiven Bereich gab es mutmaßlich noch keine Abstraktion, keine Klassifizierung und kein Konzept von großen Mengen.

3. Das tribale impulsive Paradigma (Macht)

Vor ungefähr 10.000 Jahren entstanden die ersten Stammesfürstentümer, anfänglichen Imperien und Organisationsformen. Die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse hängt davon ab, dass man stark und widerstandsfähig ist. Die Währung in dieser Welt ist Macht. Zu dieser Zeit begann in großem Ausmaß die Sklaverei.

4. Das traditionelle konformistische Paradigma (Regeln)

Als das traditionelle konformistische Bewusstsein vor etwa 4.000 Jahre v. Chr. entstand, bewegte sich die Welt rasant von einer Stammeswelt, die auf Gartenbau beruhte, in das Zeitalter der Landwirtschaft, Staaten, Zivilisationen, Institutionen, Bürokratien und organisierten Religionen. Laut Entwicklungspsychologen leben viele Teile der erwachsenen Bevölkerung in den entwickelten Gesellschaften aus diesem Paradigma. Auf dieser Stufe wird die Wirklichkeit aus einer Newton´schen Perspektive wahrgenommen. Ursache und Wirkung werden verstanden, Menschen können die lineare Zeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) nachvollziehen und Ereignisse in die Zukunft projizieren. Konformistische Gesellschaften haben einfache moralische Regeln, die auf dem einen akzeptierten Verhaltenskodex beruhen. Dinge sind entweder richtig oder falsch. Wenn man das Richtige tut, wird man belohnt. Wenn man das Falsche sagt oder tut, wird man bestraft oder gar aus der Gruppe ausgeschlossen. Menschen verinnerlichen diese Gruppennormen und empfinden Schuld und Scham, wenn sie davon abweichen.

In traditionellen Organisationen geschieht das Denken oben, das Tun unten. Es wird ein ganzer Katalog von Regeln formuliert. Die darunterliegende Weltsicht besagt, dass Arbeiter meist faul und unehrlich sind und deshalb klare Vorgaben brauchen. Sie müssen kontrolliert werden und man muss ihnen sagen, was von ihnen erwartet wird. Innovation, kritisches Denken und Selbstausdruck sind nicht wichtig (und werden oft als hinderlich gesehen). Wenn sich der Kontext verändert und die Art und Weise, wie wir es hier schon immer gemacht haben, nicht mehr funktioniert, dann fällt es traditionellen Organisationen schwer, die Notwendigkeit von Veränderung zu akzeptieren. Die Menschen suchen nach Ordnung und Vorhersehbarkeit, Veränderung wird mit Argwohn betrachtet.

5. Das moderne leistungsorientierte Paradigma (Maschine)

Das moderne leistungsorientierte Paradigma ersetzt die absolute Wahrheit von richtig und falsch der traditionellen Weltsicht mit einem neuen Standard: was funktioniert und was nicht funktioniert. Effektivität ersetzt die Moral. Die moderne leistungsorientierte Weltsicht sieht Organisationen als Maschinen. Menschen sind Ressourcen, die sorgfältig mit dem Organigramm in Übereinstimmung gebracht werden müssen, in etwa so wie Zahnräder in einer Maschine. Das Ziel im Leben besteht darin, besser als andere zu sein. Für den Autor ist die moderne leistungsorientierte Weltsicht wahrscheinlich die dominierende Perspektive bei den meisten Führungskräften in Wirtschaft und Politik. In einer Zeitspanne von nur zwei Jahrhunderten hat uns dieses Paradigma ein nie da gewesenes Ausmaß an Wohlstand gebracht.

Für den Autor kann man die dunkle Seite des modernen leistungsorientierten Maschinen-Paradigmas nur schwer ignorieren: die Gier der Unternehmen, eine Wirtschaft, die auf künstlichen Bedürfnissen basiert und aus finanzieller und ökologischer Perspektive nicht nachhaltig ist, kurzfristige Politik, Überschuldung, übermäßiger Konsum und die schonungslose Ausbeutung der Ressourcen und Ökosysteme des Planeten. Diese Weltsicht ist durch und durch materialistisch und misstraut jeder Spiritualität und Transzendenz. Unser Ego erreicht hier den Gipfel seiner Dominanz. Mehr wird meist als besser verstanden. Wir leben im Grunde in der Zukunft, vollkommen beschäftigt mit Selbstgesprächen über die Dinge, die wir noch tun müssen, um unsere Ziele zu erreichen. Es wird eine ganze Anzahl von finanziellen Anreizen geschaffen, um die Mitarbeiter zum Erreichen festgesetzter Ziele zu motivieren und die Personalentwicklung wird ins Leben gerufen. Die Menschen tragen nun eine professionelle Maske (rational, egogesteuert, maskulin) und wechseln alle paar Jahre die Position.

Der Autor meint, dass die dunkle Seite nicht die enorme Befreiung verdecken sollte, die uns diese Stufe gebracht hat. Durch sie konnten wir die Vorstellung hinter uns lassen, dass eine Autorität die richtige Antwort hat, sondern Expertenwissen uns Einsichten in die komplexen Mechanismen der Welt schenkt. Und sie brachte eine gesunde Dosis Skepsis gegenüber offenbarten Wahrheiten mit sich. Zum ersten Mal wurden wir in die Lage versetzt, die Dinge zu hinterfragen und aus den Bedingungen, in die wir geboren wurden, herauszutreten.

6. Das postmoderne pluralistische Paradigma (Familie)

Die postmoderne pluralistische Weltsicht hat eine hohe Sensibilität für die Gefühle der Menschen. Sie sucht nach Fairness, Gleichheit, Harmonie, Gemeinschaft, Kooperation und Konsens. Das Selbst, das aus dieser Perspektive lebt, strebt nach Zugehörigkeit und möchte enge und harmonische Beziehungen mit allen Menschen bilden.

In den industrialisierten Ländern begannen im späten 18. und 19. Jahrhundert kleine Kreise von Menschen, die die Abschaffung der Sklaverei, die Befreiung der Frauen aus den ihr zugedachten Rollen, die Trennung von Staat und Kirche, die Religionsfreiheit und Demokratie voranzutreiben. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurde das postmoderne Paradigma gerade in der Hippiebewegung intensiv gelebt.

Pluralistische Führungskräfte sollten dienende Führungskräfte sein, die ihren Mitarbeitern zuhören, sie ermutigen, motivieren und entwickeln. In postmodernen Organisationen folgen Führungskräfte gemeinsamen Werten und Mitarbeiter fühlen sich wertgeschätzt und ermutigt, ihren Teil beizutragen. Die Ergebnisse sind oft spektakulär. In vielen Fällen setzen postmoderne Organisationen eine inspirierende Sinnausrichtung ins Zentrum allen Handelns. Geschäftsführer postmoderner Organisationen sagen, dass die Förderung der Kultur und der gemeinsamen Werte ihre wichtigste Aufgabe ist. Für postmoderne Organisationen ist die Sozialverantwortung ein integraler Teil des Wirtschaftens.

7. Das integrale evolutionäre Paradigma (Integral)

Die nächste Stufe korrespondiert mit der Ebene der „Selbstverwirklichung“ im Modell von Abraham Maslow. Psychologen bezeichnen diesen Übergang als den Wandel von einem Paradigma des Mangels zu einem Paradigma, das auf unseren Stärken basiert. Hindernisse werden als Botschaften des Lebens gesehen, durch die es uns etwas über uns selbst und die Welt lehrt. Das Denken in Paradoxien, das Sowohl-als auch-Denken löst das Entweder-oder-Denken ab.

Auf der integralen Ebene ist die innere Stimmigkeit die Grundlage der Entscheidungsfindung, die uns zu einer Seelenreise, einer Reise der Entfaltung bringt, auf der wir uns fragen, wer wir sind, was unser Sinn in diesem Leben und unsere Berufung sein könnte.

Es macht sich eine tiefe Sehnsucht nach Ganzheit bemerkbar, die jedoch im  Widerspruch zur Trennung (siehe auch der Begriff der Work-Life-Balance) steht, welche die meisten Arbeitsplätze oft unbewusst fördern. Menschen setzen sich eine professionelle Maske auf, um sich sicher und besser anerkannt zu fühlen. Das bedeutet dann meist, eine maskuline Entschlossenheit zu zeigen, die Zielausrichtung und Stärke demonstriert, wobei Zweifel und Verletzlichkeit versteckt werden müssen. Der feminine Aspekt des Selbst – fürsorgliche, hinterfragende, einladende Aspekte – werden oft geleugnet und vermieden. Der Rationalität wird mehr als alle anderen Formen der Intelligenz wertgeschätzt und spirituelle Anteile des Selbst sind nicht erwünscht und fehl am Platz. Organisationen sind oft leblos und im wahrsten Sinne des Wortes Orte ohne Seele.

Für Menschen, die sich in die integrale Stufe hineinentwickeln, wird diese Trennung am Arbeitsplatz so schmerzhaft, dass sie lieber in irgendeiner Form selbstständig arbeiten, um in sich selbst und in Beziehung zum Leben und der Natur und in Beziehung zu anderen Ganzheit zu finden. Es entsteht eine neue Qualität in Beziehungen, wenn unser Zuhören nicht länger darauf begrenzt wird, Informationen zu sammeln, um besser überzeugen, belehren und ablehnen zu können. Wir können einen gemeinsamen Raum schaffen, in dem es keine Beurteilung gibt, sodass unser tiefes Zuhören anderen hilft, ihre Stimme und ihre Wahrheit zu finden.

In evolutionären Organisationen, die weniger vom Ego angetrieben werden, können wir darauf hoffen, dass wir einige der dunklen Seiten der vorangegangenen Stufen hinter uns lassen. Die Beziehung zur Macht ließe sich in grundlegender Weise transformieren. Wir können erwarten, dass Sinn mehr als Profitabilität, Wachstum oder Markanteile das Leitprinzip der Entscheidungsfindung sein wird. Vermutlich sind es Orte, an denen Menschen bei der Arbeit vollkommen sie selbst sein können und in nährenden Beziehungen leben.

Fazit: Ein Buch, das Wirtschaft und Spiritualität verbindet

Dieses Buch empfinde ich als einzigartig. Es ist ein sehr wertvolles, wegweisendes und bahnbrechendes Buch, das die Veränderungen in Bewusstsein, Kultur und sozialen Systemen thematisiert, die sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der menschlichen und kosmischen Evolution in zunehmendem Maße ereignen. Ich bin davon überzeugt: Wenn wir zukünftige Herausforderungen meistern wollen, wird die wichtigste Aufgabe darin bestehen, ein neues Welt- und Menschenbild zu entwickeln.

Es ist ein Buch, das inspiriert, Lust macht und einlädt, die Zukunft selbst zu gestalten. Es ist ein Leitfaden für Menschen, für die das gegenwärtige Paradigma im Management zutiefst einschränkend ist, ein Leitfaden und eine Pflichtlektüre für Menschen, die Unternehmen, Schulen, Krankenhäuser oder gemeinnützige Organisationen entwickeln möchten. Ich verstehe dieses Buch auch als eine Einladung zur Selbstreflexion. Der Leser und die Leserin dürfen sich eingeladen fühlen, zu reflektieren, aus welchem Paradigma oder Paradigmen er oder sie überwiegend heraus denkt, agiert und lebt.

Mir gefällt die neue, tiefgründige, tiefgreifende, ganzheitliche, praktische, globale und integrale Sichtweise von Laloux. Endlich mal ein Buch, das Wirtschaft mit Spiritualität verbindet! 

Wie funktionieren evolutionäre Organisationen?

In Kapitel 2 stellt der Autor Organisationen und deren Strukturen, Praktiken und Kulturen vor, die bereits erfolgreich und teilweise schon über 30 Jahre das integrale Paradigma leben. Der Autor konnte drei Charakteristika erkennen: Selbstführung, Ganzheit und  evolutionärer Sinn.

Evolutionäre Organisationen sind „lebende Organismen mit Seele“. Sie überwinden die ungleiche Machtverteilung, lauschen nach innen, richten sich nach ihrem evolutionären Sinn aus, konzentrieren sich auf das, was getan werden muss und nicht auf die Profitabilität. Paradoxerweise sind sie dennoch sehr profitabel. Sie suchen nach einer praktikablen Lösung, die sich schnell implementieren lässt und nicht nach der bestmöglichen Lösung. Dabei nähern sie sich sehr stark einer Wirtschaft mit geschlossenen Kreisläufen ohne Müll und Gift und hundert Prozent Recycling an.

Laut dem Autor unterstützen evolutionäre Organisationen Menschen dabei, ihre Ganzheit wiederzuerlangen und ihr vollständiges Selbst in die Arbeit einzubringen. Wenn Mitarbeiter eingeladen werden, auf den Sinn der Organisation zu hören, dann werden sie auch nach ihrer eigenen Berufung fragen. In Bewerbungsgesprächen geht es um die einfache und grundlegende Frage „Haben wir das Gefühl, dass wir für einen gemeinsamen Weg bestimmt sind“? Evolutionäre Organisationen bieten Beratungen und individuelles Coaching nicht nur Führungskräften, sondern allen Mitarbeitern und teilweise auch deren Familienmitgliedern an.

In evolutionären Organisationen sind Menschen intrinsisch motiviert und haben die Freiheit, auf Notwendigkeiten, die sie spüren, zu reagieren. Veränderung ist allgegenwärtig, sie geschieht natürlich, überall, ständig und meist ohne Schmerz und Anstrengung.

Wie entwickeln wir evolutionäre Organisationen?

In Kapitel 3 beschreibt der Autor die Bedingungen, die wir erfüllen müssen, um evolutionäre Organisationen zu gründen oder zu entwickeln: Das leitende Management (Gründer, Leiter, Geschäftsführer) und die  Eigentümer müssen die integrale evolutionäre Weltsicht verstehen und leben. Denn:

„Die größte Gefahr in Zeiten des Umbruchs ist nicht der Umbruch selbst – es ist das Handeln mit der Logik von gestern.“ (Peter Drucker)