Prof. Dr. Pierre Dillenbourg, Professor für digitale Lerntechnologien, künstliche Intelligenz und Initiator des Startup-Incubators «Swiss EdTech Collider» an der EPFL in Lausanne.

Pierre Dillenbourg, Beyond Innovation
Pierre Dillenbourg

Pierre Dillenbourg ist ehemaliger Grundschullehrer und hat einen Master-Abschluss in Erziehungswissenschaften (Universität Mons, Belgien). Er begann seine Forschung über Trainingstechnologien 1984 in Mons und erhielt dann eine Dissertation in Informatik von der University of Lancaster (UK) auf dem Gebiet der pädagogischen Anwendungen der künstlichen Intelligenz. Er war Master of Teaching and Research an der Universität Genf. Er kam 2012 zur EPFL und war akademischer Direktor des Centre for Digital Era Education (CEDE), das die MOOC-Strategie der EPFL umsetzt (mehr als 2 Millionen Registrierungen). Derzeit ist er ordentlicher Professor für Trainingstechnologien an der Fakultät für Informatik und Kommunikation und leitet das Laboratory of Educational Ergonomics (CHILE). Sein Buch «Orchestration Graphs» bietet eine semi-formale Sprache für didaktisches Design. Er ist Direktor von DUAL-T, dem führenden Haus für Technologien zur Förderung dualer Berufsbildungssysteme. Im Jahr 2017 gründete er mit seinen Kollegen den «Swiss EdTech Collider», einen Inkubator, der 70 Start-ups im Bereich der Bildungstechnologien zusammenführt. Im Jahr 2018 gründeten sie LEARN, das EPFL-Zentrum für Lernwissenschaften, das lokale Initiativen zur Bildungsinnovation zusammenführt.

Was heisst für Sie «Learning Innovation»?

Ehrlich gesagt verwende ich den Begriff «Innovation» nicht. Ist alles Neue automatisch auch innovativ und nützlich? Ich spreche lieber von Problemen und Lösungen. Einmal kontaktierte mich eine Bank für eine Beratung, sie wollten eLearning einführen. Ich fragte sie warum eLearning? Die Bank meinte, weil es innovativ ist. Ich fragte, welches Problem sie damit lösen wollen. Die Bank antwortete, wir haben kein Problem. Also brauchen sich auch keine Beratung, war meine Antwort.

Für mich beginnt Innovation also immer mit einem Problem. Es gibt alte und neue Probleme, für beides braucht es Lösungen. Ein altes Problem beim Lernen ist z. B. der Transfer des Gelernten in die tägliche Praxis des Unternehmens. Dafür gibt es alte und neue Lösungen. Vor einem neuen Problem stehen z. B. die Garagisten: Autos sind heute Computer auf 4 Rädern, d. h., die Anforderungen und die Skills für einen Garagisten verändern sich komplett. Er muss ein Basiswissen zu Informatik und Sensoren haben, um Reparaturen richtig durchführen zu können. Oder der Bäcker, der überrascht ist, dass so viele Leute beim ihm am Sonntagmorgen Schlange stehen für Croissants: Er weiss, wie das Wetter ist, was er letzten Sonntag verkauft hat und ob gerade eine Abstimmung ist und die Leute unterwegs sind. Alle können mit Daten bessere Entscheidungen treffen. Daraus entstehen neue Trainingsbedürfnisse bezüglich Data Science. Aber nicht, weil etwas «digital» ist, ist es auch innovativ: Die neuen Lerntechnologien gibt es seit mehr als 30 Jahren. In wie vielen Jahren werden wir sagen, dass diese nicht mehr neu sind?

Was sind für Sie Herausforderungen und Ziele / Strategien / Projekte und Programme im Bereich Lernen und Arbeiten?

Wir müssen die Menschen ausbilden in denjenigen Themen, die nicht von der Artificial Intelligence übernommen werden können. D. h. in den Sozialkompetenzen wie Empathie, Überzeugungskraft, Fähigkeit zur Zusammenarbeit und auch Leadership. Gleichzeitig braucht es aber auch ein Verständnis darüber, wie Algorithmen eigentlich ticken. Dies braucht der Garagist und der Bäcker. An der EPFL wird im 1. Semester in allen Studiengängen «Computational Thinking» gelehrt, egal ob Architektur oder Chemie. Alle müssen die Algorithmen verstehen, schliesslich wollen wir sie sinnvoll und zu unserem Wohl einsetzen. Bereits in der Vor- und Primarschule kann dieses Denken anschaulich vermittelt werden, wenn Kinder Kugeln mit Nummern und einer bestimmten Aufgabe bekommen. Wir haben seitens EPFL mit einigen Schulen in den Kantonen Waadt, Wallis und Bern schon entsprechende Projekte durchgeführt. Neben den Sozialkompetenzen wird «Computional Thinking» eine transversale Anforderung für alle Bürger, Studierenden und Mitarbeitenden in den Unternehmen.

Was müssen Betriebe /Organisationen/ Bildungsinstitutionen tun, um Lerninnovationen umzusetzen? Was sind die Erfolgsfaktoren?

Innovation heisst ein Problem lösen. Am Anfang steht also die Suche nach der Ursache, um das Problem besser zu verstehen: Wie wird was und wo gelernt, wie kann es angewendet werden? Es braucht Evaluation und Analyse, um Erkenntnisse daraus zu gewinnen.

Dann braucht es beim Lehren und Lernen vor allem eine Kultur des Ausprobierens, des Testens und Experimentierens. Viele unserer Professoren an der EPFL sind risikofreudig in der Forschung, aber in der Lehre sind sie es nicht so. Und ich sage ihnen, Lehren heisst forschen. Es braucht auch Unternehmer, Manager und Produktentwickler, die in diesen Bereichen experimentieren wollen und Learning & Training nicht einfach als reguläres Metier betrachten. Mit dem «Swiss EdTech Collider» auf dem EPFL-Campus bieten wir Zusammenarbeit und Inkubation für ambitionierte Startups und Unternehmen an, die Education und Lernen durch Technologie transformieren wollen.

Was fordert Sie aktuell heraus? Mit was wollen Sie sich in den nächsten Jahren beschäftigen?

Im Moment sehe ich 3 Achsen in den nächsten Jahren: Learning Analytics und die Anwendungen von Big Data in der Erziehung. Alle Startups sagen, sie machen das, aber es ist sehr anspruchsvoll. Wir haben zwar sehr viele Daten, aber die Nützlichkeit ist noch bescheiden. Projekte zu «Online detection of training needs» sind sehr anspruchsvoll, es gibt noch wenig Fortschritte dazu. Zweitens haben wir viele Projekte zu «Augmented Learning Reality». Z. B. für Gärtner haben wir ein Programm entwickelt, mit dem virtuell Bäume und Pflanzen gesetzt werden können. Und mit der Brille kann mit einem Klick der Garten im Herbst, im Frühling oder das Wachstum in 2 Jahren angezeigt werden. Das wird sehr interessant, wenn in der Ausbildung Alternativen ausprobiert und simuliert werden können, was so in der Realität gar nicht möglich ist. Klar ist die Qualität in der Realität sehr wichtig, aber mit einem Sprung in die simulierte Virtualität können Konsequenzen des Handelns in der Realität besser vermittelt werden. Hier liegen viele Innovationen mit der «Escape from Reality». Und drittens wird «Tracking» sehr wichtig werden, vor allem das «Eye Tracking». Bald werden alle Laptops sowie heute schon einige Smartphones die Augenbewegungen mitverfolgen und Anzeigen in Echtzeit zu optimieren. Aber die Frage dabei bleibt, was wird nützlich sein und was nicht.

Was ist Ihr aktuelles «Leuchtturmprojekt», das mit Learning Innovation zu tun hat?

Ein Projekt, das mir sehr am Herzen liegt, ist der Einsatz von Robotern, um Kinder mit einer Schreib- und Leseschwäche zu identifizieren. Wir haben mit einem grossen Datenset und Machine Learning einen Algorithmus trainiert, der innert 20 Sekunden über eine graphische Analyse solche Schwächen bei Kindern ausfindig machen kann. Das spart viel Zeit im Vergleich zu den heutigen notwendigen Abklärungen, die man dazu machen muss. Denn im Gegensatz zur Form der Buchstaben auf dem Papier erfassen die Sensoren auf einem Tablet auch den Druck, die Beschleunigung und den Winkel des Stiftes, wenn das Kind schreiben lernt. Über 100 Personen haben uns bisher kontaktiert, um diesen Test einsetzen zu können. Wir werden einen Verband gründen, der diesen Test allen Interessierten gratis zur Verfügung stellen wird. Je mehr er eingesetzt wird, desto besser wird somit der Test. Und er kann dann auch für andere Fälle eingesetzt werden. Wir haben z. B. damit einen Roboter entwickelt, der die Rehabilitation von Erwachsenen und Kindern mit Hirnschäden unterstützt.

Prof. Dr. Pierre Dillenbourg, EPFL Lausanne, Rolex Learning Center, Keynote LEARNING INNOVATION Conference 2019

Interview: Emmerich Stoffel

Quelle:
Dieses Interview erschien zuerst in dem Sammelband “10 Jahre Learning Innovation Conference – 22 Interviews”. Hrsg. von Alexander Petsch und Dr. Daniel Stoller Schai, HRM Research Institute 2019.

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