1. Vom Microsoft-Office zur Google-Galaxie

two pens near MacBook Air
Foto von Daniel Fazio

In den vergangenen Jahren hat sich die Umwelt des Wissens- und Informationsarbeiters grundlegend gewandelt. Zwar richtet sich die Informations-, Kommunikations- und Wissensvermittlung im digitalen Büro immer noch vorwiegend nach dem Modell der alten Papier-Medien – also nach Ordnern, Dokumenten und elektronischer Post. Doch das ändert sich zunehmend in einer Arbeitsumgebung, die direkt und indirekt durch das Web geprägt ist. Dieses Web ist immer weniger ein Publikationsort für zusammenhängende Webseiten, sondern wird zum Medium für rasch zirkulierenden „Microcontent“ – also sehr kleine, lose und flüchtig gekoppelte Informationsstückchen, die der Betrachter oder Zuhörer quasi „auf einen Blick“ aufnimmt und weiterverarbeitet. Das kann ein Blog-Post, ein Wiki-Eintrag, ein Newsgroup- Beitrag, ein YouTube-Video oder jedes andere Stückchen digitalen Inhalts mit einer eigenen URL sein.

Aber auch dort, wo das Web derzeit im Arbeitsalltag noch gar keine große Rolle spielt, ist eine ähnliche Entwicklung hin zu kleineren Wissenseinheiten festzustellen. Statische und großteilige Formate scheinen generell immer weniger geeignet zu sein, um mit den beschleunigten Informations- und Wissensprozessen Schritt zu halten. Von vielen mühsam geschriebenen Reports lesen Führungskräfte bestenfalls noch die Executive Summary, in Dokumenten formatiertes Wissen verschwindet in unergründlichen Archiven und kommt nie mehr ins Spiel.

Anstatt große Informationsblöcke zu speichern, lassen Unternehmen verstärkt kleine und kleinste Informationen zirkulieren. In konventionellen Unternehmensumwelten geschieht das bis jetzt per E-Mail und Mobiltelefon. Aber diese Medien sind damit überfordert, alles zugleich sein zu müssen: schnelle und flexible Formen des offiziellen Schriftverkehrs, Instrumente für nachverfolgbare Teamkommunikation, Möglichkeiten zum schnellen Austausch von kurzen Botschaften – und letztlich sogar so etwas wie ein nach außen gespiegeltes Gedächtnis. Genau diese Funktionen übernimmt das „Mikro- Web“.

2. „Meme“ im Mikro-Web

Das sogenannte „Web 2.0“ mit seinen Wikis und Blogs gilt als „soziales Web“, in dem Menschen neue digitale Formen finden, sich auszutauschen und auszudrücken. Die User produzieren, verbreiten und sammeln „Microcontent“, definiert als ein Stück digitale Information, das

als in sich geschlossenes Objekt funktioniert, individuell adressierbar ist, und so formatiert ist, dass es leicht rekombiniert werden kann, um je nach aktuellem Bedarf größere lose Einheiten zu bilden.

Insofern lässt sich das Web 2.0 auch als Mikro-Web bezeichnen, das viele kleine Informationseinheiten verbreitet. Damit sich Microcontent schnell erfassen, aufnehmen und wiederverwenden lässt, muss er eine besondere Struktur haben: Er sollte „auf einen Blick“ erfassbar sein und nicht mehr als „eine Idee“ enthalten. Damit ähnelt er dem „Mem“, wie der Biologe Richard Dawkins „sich selbst reproduzierende Einheiten kultureller Information“ in Entsprechung zum „Gen“ nannte. Das heißt, dieses Stück Information kann von anderen Trägern und in anderen Zusammenhängen leicht aufgenommen und für den jeweiligen Kontext umfunktioniert werden: Genau das geschieht mit Texten, Bildern, Ton und Filmen im „Web 2.0“.

3. Die neue Mikro-Aufmerksamkeitsökonomie

Der digitale Klimawandel hat konkrete Folgen für die Menschen, die in einer solchen Umwelt leben und lernen. Eine neue „Aufmerksamkeitsökonomie“ (Michael Goldhaber) führt zu neuen Formen des Informationserwerbs und Wissensaufbaus. Das typische Intranet wie auch konventionelles E-Learning funktionieren immer noch nach dem alten Muster des „Portals“: Quasi wie ein Informationsschalter, zu dem sich der Lernende hinbemühen muss, um Informationen abzurufen, die für ihn wie in einer systematisch aufgebauten Bibliothek bereit stehen. Doch dieses Modell scheint zunehmend veraltet.

Die Webseite von Google markiert den Übergang zum „Come-to-me-Web“, in dem sich die User aktiv Informationen beschaffen und eine Art „Infocloud“ aufbauen: Sie beginnen immer bei Null, mit einer Leerstelle, und mit jeder Eingabe entsteht augenblicklich eine Wolke von relativ unstrukturierter Mikroinformation. Das neue Web macht die Phrase vom Lernenden, der im Mittelpunkt steht, somit buchstäblich wahr. Zugleich ändert sich die Art der Informationsverarbeitung: Das Ideal der „gesunden, mündigen, produktiven Nutzer“, die sich über einen langen Zeitraum hinweg immer nur auf ein Thema konzentrieren, nur eine Applikation auf einmal öffnen und dann Schritt für Schritt vorgehen, gehört heute schon fast der Vergangenheit an. Immer weniger Menschen können sich diese Arbeitsform noch erlauben. Stattdessen wird Multitasking zum Normalfall. Die Microsoft- Forscherin Linda Stone beschreibt die neue Kulturtechnik, die so entsteht, als „ständig geteilte Aufmerksamkeit” (Continuous Partial Attention): Wir verfolgen und verarbeiten gleichzeitig mehrere Informations- und Kommunikationsstränge, die in kleine Einheiten aufgelöst sind.

4. Mikrolernen: Ein grundlegender Wechsel der Perspektive

„Mikrolernen“ nimmt vor diesem Hintergrund zu. Das Verarbeiten von „Microcontent“ erfordert weit mehr als nur das Bereitstellen von Wikis. Unternehmen können das wildwüchsige, bislang wenig nachhaltige „Google Learning“ ihrer Mitarbeiter durch geeignete, für die jeweilige Situation maßgeschneiderte Lernstrategien und Tools unterstützen, die „Mikrolernen“ erleichtern. In der Praxis funktioniert Mikrolernen sehr häufig über Web-2.0-Praktiken und -Technologien, wie zum Beispiel das Schreiben von Blogs oder Social Tagging, den Austausch von virtuellen Lesezeichen im Internet. Dabei sind die Grenzen zu „Rapid Learning“, „Nanolearning“ und „Mobile Learning“ fließend.

Der Begriff „Rapid Learning“ bezieht sich auf das schnelle Erstellen von Lehrmaterialien, oft per Video oder Onlinepräsentation, die sich ebenso rasch konsumieren lassen. „Nanolearning“ ist der Markenname, unter dem eine US-Firma eine offene Plattform zum schnellen Erstellen von kleinen E-Learning-Objekten anbietet. „Mobile Learning“, insbesondere das Lernen mit mobilen Telefonen, könnte in der Zukunft an Bedeutung gewinnen. Zurzeit beschränkt sich seine Wirkung jedoch noch auf einen relativ kleinen Kreis.

„Integriertes Mikrolernen“, wie es das Research Studio eLearning Environments entwickelt, bedeutet demgegenüber, ganze Felder aus Microcontent-Objekten bereitzustellen, welche die Aufmerksamkeit jeweils nicht länger als zwei, maximal fünf Minuten beanspruchen. Dazu zählen kleine Texte mit oder ohne Bild, aber auch sehr kurze Audio- und Video-Clips. Der Vorteil: Die User können gezielt wichtige Informationen zu ihren Wissensgebieten aufnehmen. Das funktioniert allerdings nur, wenn ein Mikrolern-Tool die Informationen auswählt und gezielt bereit stellt.

Diese Mikrolern-Tools können zum Beispiel in speziell konfigurierten RSS-Feeds bestehen, über die User Texte oder Podcasts (Audio- oder Videodateien) per Internet abonnieren können. Ein weiteres Beispiel ist der „Knowledge Pulse“, ein Mikrolern-Tool, das unser Research Studio gerade entwickelt hat. Der Name „Knowledge Pulse“ leitet sich vom englischen Wort für Herzschrittmacher ab. Es handelt sich um einen „Widget“ (dt. „Wichtel“), ein kleines Internet-Programm, das dem Lernenden komprimierte Inhalte so präsentiert, dass sie sich nachhaltig einprägen: Es konfrontiert die User mit „Mikro-Lernimpulsen“, auf die sie mit einigen schnellen Klicks antworten. Die Klicks entscheiden darüber, ob dieses Stückchen Lernstoff weiter im Fokus bleibt oder allmählich zugunsten von anderen in den Hintergrund tritt. Programme wie diese eignen sich für Prüfungsvorbereitungen, sind aber auch nützlich, um sich Zusammenhänge einzuprägen, die aus vielen kleinen Bausteinen bestehen – etwa die wichtigsten Schritte eines Prozesses oder die zentralen Fachbegriffe eines Wissensgebiets.

Informationen und Wissen im Unternehmen zu transportieren wird künftig immer wichtiger werden. Eine zentrale Herausforderung besteht darin, neue technische und didaktische Formen für Mikrolernen zu finden. Diese Entwicklung hat gerade erst begonnen.

Veranstaltungstipp

Die internationale Konferenz „Microlearning 2008“ bietet vom 25. bis 27. Juni in Innsbruck einen Überblick über die aktuelle Entwicklung im Mikrolernen. Weitere Informationen unter www.microlearning.org.

Quelle: personal manager 1/2008