Frau Neuhoff, inwiefern kann das Mitmachweb auch in Unternehmen eine neue Herangehensweise an Bildungs- und Wissensprozesse bringen?

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Foto von John Schnobrich

Die zentralen Merkmale wie Kommunikation und Kooperation sind nicht unbedingt neue Elemente für Lernprozesse – für viele Experten war das schon immer ein wichtiger Bestandteil von E-Learning und Lernen überhaupt. Das Web 2.0 bringt also nicht erst die Kommunikation ins Spiel, sondern bietet zusätzliche Möglichkeiten des Austauschs. Einen neuen Aspekt bringt eher die Tatsache mit sich, dass der Nutzer zum Autor wird. Die Inhalte werden ihm nicht vorgeben, sondern er kann sie selbst konstruieren. Entscheidend ist aber vor allem, dass sich viele Unternehmen durch das Schlagwort Web 2.0 nun auch über Kommunikation und Kollaboration beim Lernen Gedanken machen.

Welche Lern- und Wissensprozesse lassen sich damit eher fördern als andere?

Der didaktischen Kreativität sind dabei wenig Grenzen gesetzt. Wenn es im Unternehmen nur eine richtige Lösung oder Sprachregelung geben darf, also vorstrukturierte, vorgegebene Lerninhalte gewünscht sind, ist die Methode allerdings nicht geeignet. Das ist wie bei Wikipedia: Es kann natürlich sein, dass ein paar Tage etwas Falsches drinsteht, bis der Nächste es korrigiert hat. Unter Umständen kann eine solche weiterverbreitete Falschaussage ein Unternehmen viel Geld kosten oder gar rechtliche Nachteile bringen. In solchen Fällen werden Sie sich beispielsweise eher für ein klassisches webbasiertes Training entscheiden. Außerdem ist das Ganze auch eine Zeitfrage: Wer möglichst wenig Arbeitszeit für den Lernprozess investieren will, sollte sich eher gegen ein Web-2.0-Szenario entscheiden. Denn es braucht Zeit und Engagement, wenn etwas Wertvolles dabei herauskommen soll.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Sagen wir einmal, Sie schulen ein neues Produkt für Ihre Kundenberater. Wenn es sich dabei um klar festgelegtes Wissen handelt, das sie an Kunden weitergeben, dann wird das sicher etwas sein, das Sie nicht über Web 2.0 schulen. Wenn es aber darum geht, dieses Produkt oder die geeignete Kommunikation dazu erst zu entwickeln und Sie vorher noch nicht genau wissen können, was am Ende herauskommen wird, dann liegen Sie mit Wikis oder Blogs genau richtig.

Haben die Firmen dieses Potenzial schon erkannt?

Meiner Einschätzung nach befinden sich viele Unternehmen was Web 2.0 betrifft noch in der Überlegungsphase. Darüber sollten einzelne prominente Anwendungsbeispiele wie bei IBM oder Ernst & Young, aber auch in kleineren Unternehmen, nicht hinwegtäuschen. Was die Bewertung von tatsächlichem Nutzen sowie die infrastrukturelle Einbettung angeht, fängt bei vielen die Diskussion gerade erst an. Meistens startet die IT, die wegen der Erwartungshaltung aus dem privaten Bereich Vorkehrungen trifft, um Web-2.0-Services sicher und passend zur IT-Strategie bereitstellen zu können. Die Fachbereiche müssen dafür jedoch meistens zunächst noch sinnvolle Konzepte entwickeln.

Welche Fehler können Unternehmen bei der Einführung von Web-2.0-Anwendungen für die Personalentwicklung machen?

Was, wie bei den meisten anderen Prozessen auch, nicht funktioniert ist: bereitstellen und abwarten, was passiert. Unternehmen brauchen definitiv kein Wiki, nur weil viele andere auch eines haben. Außerdem sollten Betriebe bedenken, dass konversationsorientierte Lernszenarien Anleitung, Moderation und Übung erfordern. Ohne einen “Gärtner” wuchert etwa ein Wiki schnell vor sich hin und wird zum Datenfriedhof, der niemanden mehr interessiert. Deshalb muss die Einführung von Web-2.0-Anwendungen “von oben” – vor allem auch vom mittleren Management – gewollt sein. Nur dann werden die Mitarbeiter Zeit damit zubringen. Nicht zuletzt bedarf es einer bestimmten Kultur – beim einzelnen, der sein Wissen aufgeschlossen und verantwortungsbewusst einbringt und Feedback gibt, aber natürlich auch im Unternehmen als Ganzes. Hier müssen sich erst langsam Werte wie das Teilen von Wissen sowie Fehler- und Feedbacktoleranz entwickeln.

Wie können Unternehmen am einfachsten in das Thema einsteigen?

Gute Einstiegsszenarien sind beispielsweise Wikis in Projektgruppen oder Gruppenarbeiten in anderen Zusammenhängen wie etwa Konzeptionsgruppen oder Communities of Practice. Auch Blogs als Lerntagebücher, Berichtshefte für Auszubildende oder kommentierte Bildergalerien für Dokumentationen von Arbeitsergebnissen eigenen sich für den Anfang.

Inwiefern gibt es schon genügend Unterstützung für Unternehmen vom Weiterbildungsmarkt?

Die Werkzeuge sind meistens Open-Source-Tools, die frei zugänglich sind. Außerdem tummeln sich auch immer mehr Berater in diesem Bereich. Der Dreh- und Angelpunkt besteht aber darin, für ein bestimmtes Unternehmen das richtige Szenario zu finden – in didaktischer Hinsicht sowie mit Hinblick auf die IT-Infrastruktur.

Betriebe brauchen also eher die Beratungsleistung und können sich die Anwendung selbst bauen?

Es kommt grundsätzlich darauf an, ob eine Firma die IT-Ressourcen im Haus hat. Web 2.0 erfordert zwar keine High-End-Programmierung – hinter den meisten Anwendungen steckt PHP –, aber ganz so trivial ist es auch wieder nicht. Wir haben unsere Anwendung so gebaut, dass die IT einmalig verschiedene Elemente wie Wikis und Blogs integriert und dann der Kursverantwortliche selbst bestimmen kann, welche Elemente er davon für verschiedene Lernszenarien einsetzen möchte. Das hält natürlich dann den technischen Aufwand sehr gering. Wer das nicht über so einen Weg löst und alles von Hand anpasst, braucht schon etwas Zeit für Installation und Pflege.

Inwiefern haben Unternehmen in punkto Qualität Einflussmöglichkeiten?

Eine gewisse Qualitätskontrolle erreichen sie durch das Lesen und Kommentieren der Gruppe – also “peer review” und “peer validation”. Das kann mithilfe von Rankings oder inhaltlich passieren. Auch „expert reviews“ können die Qualität deutlich nach vorne bringen.

Was ist genau der Unterschied zwischen peer review und expert review?

Das sind im Grunde zwei Wege, wie man solche Inhalte bewerten und durch einen Qualitätsprozess schleusen kann. Peer review bedeutet, dass die Gruppe Inhalte unter sich bewertet, gegenliest und kommentiert. Beim Expert review hingegen gibt es je nach Thema andere Experten, die zum Paten der Inhalte werden. Sie lesen die Artikel gegen und wenn da etwas Falsches drinsteht, dann verändern sie das entsprechend. Beide Methoden können Unternehmen auch in Kombination einsetzen.

Inwiefern sind Personalentwicklung und Wissensmanagement dabei noch getrennte Prozesse?

Es geht sowohl beim Wissensmanagement als auch bei der Personalentwicklung darum, dass die Mitarbeiter ihr Wissen zum Nutzen der Organisation entfalten. Dennoch sind beiden Gebiete häufig an unterschiedlichen Stellen im Unternehmen verortet – und wissen manchmal gar nichts voneinander. Insofern ist es doch zu begrüßen, wenn hier – zum Beispiel bei der Suche nach gleichen Tools – Kollegen aus diesen Bereichen stärker zusammenarbeiten und merken, dass ihre Ziele gar nicht so verschieden sind.

Verwenden Unternehmen Ihrem Eindruck nach auch Tools, die über das firmeneigene Netzwerk hinausgehen – wenn ja, welche?

Das wird sicherlich sehr unterschiedlich gehandhabt. In vielen Unternehmen ist der Zugriff auf Netzwerke wie Facebook oder LinkedIn nicht gestattet oder technisch unterbunden, während Xing in Deutschland relativ häufig zur Nutzung zugelassen wird. Welchen Nutzen das für die Arbeitsproduktivität und für die Lösung von Problemen hat, das bleibt noch mit gesunder Skepsis abzuwarten. Oft ist es vielleicht doch nur ein erweitertes Adressbuch.

Es gibt natürlich auch Projekte, bei denen verschiedene Unternehmen einer bestimmten Branche sich in Netzwerken austauschen. Das ist in der Praxis aber häufig schwierig. Zum einen hängt das stark von der Bereitschaft der Unternehmen ab, ihr Wissen zu teilen. Sie müssen sich vorher gut überlegen, ob sie davon profitieren. Außerdem kommt die Infrastruktur erschwerend hinzu: Gibt es überhaupt eine Zone im Unternehmen, in der es zulässig ist, von innen und außen auf Inhalte zuzugreifen? Die Beantwortung dieser Frage gestaltet sich in Unternehmen in aller Regel eben nicht so leicht wie im privaten oder universitären Umfeld.

Wenn Sie in die Zukunft blicken: Was wird im Zusammenhang mit Web 2.0 für die Wissens- und Lernprozesse in Unternehmen aus Ihrer Sicht in den nächsten Jahren passieren?

Das Thema wird sicherlich erwachsen. Ob und wie viele sinnvolle Anwendungsszenarien es gibt, muss sich noch zeigen. Da wird sich schon die Spreu vom Weizen trennen, denn im Moment ist vieles noch im Experimentierstadium. Vielleicht wird sich auch irgendwann herausstellen, dass Web 2.0 in Lernprozessen nur eine „didaktische Durchgangsstation“ gewesen ist: Möglicherweise gibt es dann ganz andere Werkzeuge und Bedienparadigmen. Das hängt vermutlich auch davon ab, welchen Stellenwert konstruktivistisch orientierte Lern- und Wissensszenarien in Unternehmen tatsächlich einnehmen werden.

Interview: Stefanie Hornung

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