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Foto von William Iven

Von Business Schools und beruflichen Weiterbildungsinstitutionen fordern Gesellschaft und Politik seit 2008, dass sie quasi im laufenden Betrieb ihre Programme umstellen sollen, weil sie offenbar Eliten heranbilden, die den weiteren Ausverkauf von Bevölkerung, Umwelt und Wirtschaft betreiben. Dabei sind die Bildungsakteure durchaus Getriebene ihrer Kunden – der Unternehmen. Wo also soll die Bewegung zum Besseren herkommen? Und wenn sie erfolgt, wie soll diese inszeniert werden? Einfach zum Anderen übergehen? Jörg Schweigard und seine neun Autoren aus Lehre und Forschung zeigen, dass Bewegung aus dem Lehrsystem heraus möglich ist und dass es immer erst einer Auseinandersetzung mit dem bedarf, das schief läuft. Nur wenn der Fehler im System erkannt wird, kann er künftig vermieden werden.

Der gewählte akademische Stil des vorliegenden Werkes dürfte für viele Praktiker schwere Kost sein. Doch wären viele Leser wünschenswert, weil die Autoren Mut beweisen: Lehrkörper sezieren öffentlich, was sie selbst bislang lehrten. Wissenschaftler beleuchten kritisch populäre Humanfaktor-Theorien. Es geht das Sprichwort um, dass erst mit dem Abtritt von Experten Irrtümer sich auflösen lassen. Herausgeber Jörg Schweigard führt den Gegenbeweis.

„Der unberechenbare Faktor Mensch“ leistet zweierlei:

Das Buch unterzieht das klassische und neoklassische Weltbild der Ökonomie (und damit des Managements und aus diesem folgend des Personalmanagements) sinnfällig einer kritischen Analyse. Es schockiert, indem es Einblicke in das Formelgetriebe des Wissenschaftsbetriebes gibt. Dazu ein beispielhaftes Zitat aus einem Beitrag, der wahrscheinliche Verhaltenspräferenzen von Personen erörtert, die für sich Vorteile suchen („Der homo oeconomicus ist krank“ | Autor: Rainer Berkemer): „Das strikte Nash-Gleichgewicht ist zugleich auch ein S(1)-Gleichgewicht. Für m > 2 existiert noch ein weiteres S(1)-Gleichgewicht in gemischten Strategien.“

Die rund 26 Seiten des Beitrags sind beste Einführung in mathematische Denkwelten für alle, die solches noch nie gesehen haben. Und sie werden verstehen können: Wer jahrelang so über Soll und Sein sinniert, dem wird es in der eigenen Firma immer schwerer fallen, einfachste Entscheidungen in Sachen Personal und Personalpolitik zu treffen. Die Lektüre zeigt auch, wie absurd die landläufige Forderung ist, dass HR-Manager gefälligst die Sprache und Denke ihrer Manager lernen und auch anwenden sollen. Kein Wunder, dass Kommunikationstrainer auf Kongressen und in den Medien verzweifelt referieren: Mehr Empathie, mehr Menschenverstand in der Chefetage. Doch wo der Glaube an Zahlen wie eine Religion (neurologisch gesehen: Glaubenssätze!) zelebriert wird, bewirkt ein bisschen Kommunikationstraining nichts. Das weiß jeder Psychologe.

Übrigens, wir haben es noch nicht gesagt: Berkemers Beitrag zeigt, in welchen ökonomischen Situationen der Einsatz von Berechnungsmodellen geboten ist, und in welchen nicht, weil Menschen im positiven Sinne kaum berechnet werden können. Der Autor schreibt: „Modelle sind zweckgerichtete Vereinfachungen der Realität. Es muss also meist nicht entschieden werden, dass ein bestimmtes Modell, etwa der homo oeconomicus, entweder komplett untauglich ist oder immer brauchbare Ergebnisse liefert. Meist sind Modelle für gewisse Zwecke geeignet – für andere aber nicht.“

 

Der thematische Bogen

Rainer Berkemers Text ist der Auftakt zu diesen weiteren:

– Warum machen Menschen Fehler?
– Erklärungsansätze für das Ein­treten von Schadensereignissen
– Wir sind netter als wir denken
– Entrepreneurial Spirit – Was macht einen Unternehmer aus?
– Das Phänomen Panik. Die Dynamik von Menschenmassen
– Strategien für Bildungsanbieter in Zeiten von Social Media

Der thematische Bogen wird weit gespannt, überzieht aber letztlich all jene Themen, die eng mit der Theorie des homo oeconomicus verknüpft sind.

Der Beitrag „Entrepreneurial Spirit – Was macht einen Unternehmer aus?“ zeigt detailreich und auf Grundlage einer Studie, dass eine schlussendliche Schubladisierung von Menschen als Unternehmern an der Realität scheitert. Damit wird eine Parole der Zeit aufgegriffen und ins Licht kritische Analyse gestellt, die für unsere Zeit prägend ist: Erstens: Es braucht mehr Entrepreneure. Und zweitens: Jeder Bürger sollte ein solcher sein. Schließlich gilt der Unternehmer als Vorbild des wirtschaftlich agierenden Entscheidungsträgers.

Der Autor Daniel Markgraf kommt in seiner Untersuchung zu dem Schluss, dass Gründungsneigungen – aufgrund seiner vorliegenden Studiendaten – nur zu einem Teil wirklich zu erklären sind. Weitere Einflussfaktoren sind die Verschiedenartigkeit von Persönlichkeiten (beobachtete Aspekte: Extraversion, Intellekt & Vorstellungskraft, Emotionale Stabilität, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit) sowie die verschiedenen Gründe zur Gründung. Unternehmerpersönlichkeiten finden, sicher ausbilden und installieren – so einfach ist die Rechnung dann wohl doch nicht. Daniel Markgraf zeigt´s.


Unter Trittbrettfahrern

Ein anderer, an dieser Stelle zuletzt zu besprechender Beitrag („Strategien von Bildungsanbietern in Zeiten von Social Media“) handelt davon, wie viele seriöse Bildungsanbieter Social Media gegenüber stehen: Sollen sie als Repräsentanten einer Kontrollinstanz, die Qualität und passgenaue Entwicklung garantieren muss, sich mit Marktplayern gemein machen, die im Bildungsbetrieb als Trittbrettfahrer unterwegs sind und wohlfeil mit großen Titel hantieren, ohne jeglichen Bildungshintergrund dazu? Social Media öffnet Tür und Tor für den großen Einheitsbrei. Im Internet der Menschen und Dinge stehen Leberwurstangebote, Urlaubsberichten, Polnisch-Lexika und Äußerungen der Kanzlerin Merkel wahllos nebeneinander. Und wie gehen die Bildungsakteure mit der Frage der Finanzierung um? Diese und weitere Fragen beantwortet der Grundsatzartikel von Michael Klebl. Gegenüber den Arbeiten der Learntec (Ideeler Träger: UNESCO) zum Thema Bildung und Technologie ist Klebls Beitrag sicher keine Innovation, aber er ist mit der Brille von Anwendern geschrieben. Er ist also keine wirtschaftsgefällige Trend-Literatur, sondern basiert auf problematischen Erfahrungswerten der Praxis, die jeden Tag von Anbietern diskutiert werden.    

Interessant am besprochenen Band ist, dass die Autoren darin vor ihren Werken dadurch in den Hintergrund treten, dass ihre beruflichen Funktionen ganz zum Schluss hinter dem Sachregister aufgeführt werden, und eben nicht prominent und wie sonst üblich unterhalb der jeweiligen Titel stehen.

In dieser Auflistungen erscheinen:

Prof. Rainer Berkemer – AKAD University – Lehre der Allgemeinen BWL

Dipl.-Wirtschaftspsychologin (FH) Ricarda Gades-Büttich – LüneLab der Leuphana Universität Lünebürg – wissenschaftliche Mitarbeiterin

Professor Dr. Michael Klebl – Wissenschaftliche Hochschule Lahr WHL – Lehrstuhlinhaber Wirtschaftspädagogik | Leiter Institut zum Fernstudium in der Weiterbildung (IFW)

Prof. Dr. Daniel Markgraf – AKAD University – Professur für BWL | Unternehmens- und Gründungsberater

Prof. Dr. Nicki Marquardt – Hochschule Rhein-Waal im Kamp-Lintfort – Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie

Prof. Dr. Bernd Remmele – Wissenschaftliche Hochschule Lahr WHL – Professor für Ökonomische Bildung am Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik und Bildungsmanagement

Klaus Schöning – Oberst a.D. und Generalstabsoffizier der Bundesluftwaffe a.D. | Aufklärung von Flugunfällen und Entwicklung von Sicherheitsbestimmungen (auch a.D.)

Prof. Dr. Stephan Schöning – Wissenschaftliche Hochschule Lahr WHL – Inhaber des Lehrstuhls für ABWL | Finance und Banking

Prof. Dr. Michael Schreckenberg – Universität Duisburg-Essen – Dekan der Fakultät für Physik | Lehrstuhlleitung Physik in Transport und Verkehr

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SERVICE

Dr. Jörg Schweigard (Hrsg.)
Der unberechenbare Faktor Mensch

Kritische Beiträge
zum Modell des homo oeconomicus

2014, 128 Seiten,
28,80 €, 48,90 CHF
(AKAD Forum, 6)
ISBN 978-3-8169-3230-7

Direktlink zum Buch: Reinblättern und
bestellen unter
www.expertverlag.de/3230

LEXIKON >> homo oeconimicus (h.o.) >>

Modell, das den Menschen als rein wirtschaftlich denkendes Individuum idealisiert. In der ökonomischen Praxis bezeichnet der homo oeconomicus den Entscheidungsträger, der uneingeschränkt rational agiert. Das Verhalten aller relevanten Entscheidungsträger wird damit kontrollier-, weil berechenbar („Zahlen lügen nicht.“). Im Rahmen wirtschaftsethischer Debatten gerät dieses propagierte Modell zunehmend unter Beschuss, weil seine konstruierten Parameter eklatant von der gelebten Realität abweichen. Mit dieser Kritik wackelt auch die bislang als gesichert geltende, weil von der Gesellschaft angenommene Theorie, dass alle Menschen diesem homo-Modell entsprechen, weil sie in letzter Konsequenz nach Nutzenmaximierung für sich streben.