Führung braucht Rückschritt – wenn er klug gesetzt ist
In einer Arbeitswelt, die auf Geschwindigkeit getrimmt ist, wird Selbststeuerung oft mit Disziplin verwechselt. Doch wer sich nur im Griff hat, hat sich oft nicht mehr im Blick.
Führung braucht heute mehr als Tools, Formate oder Purpose-Karten. Sie braucht eine neue Haltung zur Pausenkultur – nicht im Sinne von Auszeit, sondern im Sinne von gezieltem Rückschritt.
Ich nenne das: Mentales-BoxenstoppPrinzip®
Vom ständigen Reagieren zur bewussten Selbstführung
Viele Führungskräfte, mit denen ich arbeite, bewegen sich im Dauermodus: Entscheidungen, Termine, Mikrosteuerung. Sie sind in Bewegung – aber oft nicht mehr in Verbindung mit sich selbst. Dabei spüren sie genau, dass etwas fehlt: ein Ort, an dem Denken wieder Tiefe hat. Ein Moment, in dem Führung nicht Funktion, sondern Bewusstsein ist.
Mentale Boxenstopps schaffen genau diesen Raum.
Es geht nicht um Erholung. Es geht um Reflexion in Echtzeit. Um innehalten, justieren, wieder losgehen – aber anders.

Rückschritt als Führungskompetenz
Ja – der Boxenstopp ist ein Rückschritt. Aber er ist bewusst gesetzt, zielgerichtet, strategisch intelligent.
Nicht, um langsamer zu werden, sondern um danach gezielter zu beschleunigen. Führung bedeutet heute nicht, mehr zu wissen – sondern den Moment zu erkennen, an dem ein Stop sinnvoller ist als ein Push.
In meinem Ansatz sind mentale Boxenstopps systemisch eingebettet – als Teil einer Führungspraxis, die nicht reagiert, sondern reguliert. Sie entstehen in Gesprächen, in Resonanzräumen, in Formaten, die Spannung nicht überdecken, sondern nutzbar machen.
Aus der Praxis: Wenn Stillstand zum Wendepunkt wird
Ein erfahrener Vertriebsleiter eines mittelständischen Industrieunternehmens schilderte mir kürzlich, wie sehr er sich selbst aus dem Blick verloren hatte: „Ich war ständig am Optimieren, am Steuern, am Entscheiden – aber irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ich nur noch auf Autopilot lief.“
In einem gemeinsamen mentalen Boxenstopp-Gespräch wurde deutlich: Er hatte keinen echten Denkraum mehr. Keine bewusste Unterbrechung, kein Innehalten. Nur operative Reaktion.
Er entschied sich für wöchentliche Boxenstopps – und bereits nach sechs Terminen, nach nur einem Monat, änderten sich seine Wahrnehmung und seine Wirkung spürbar. Statt ständiger Kontrolle begann er, sein Team wieder zu lesen, zuzuhören, Entscheidungen klarer zu priorisieren. Der Stillstand war der eigentliche Startpunkt.
Aus Neugier buchte er daraufhin einen vertiefenden 1:1-Boxenstopp mit neuronalbasierten Effektivitäts-Check. Dort identifizierten wir in wenigen Minuten eine innere, unbewusste Bremse: ein starker, innerer Antreiber, der ihn unbewusst drängte, übermäßige Verantwortung zu übernehmen und keine Schwäche zuzulassen. Dieser innere Antreiber war die eigentliche Ursache für seine chronische Überlastung.
Nachdem diese innere Bremse bewusst gemacht und „umgelegt“ war, konnte er sich erlauben, Verantwortung zu teilen – und Vertrauen ins Team zu entwickeln. Heute führt er leichter, mit mehr Klarheit und Präsenz. Und vor allem: Er gönnt sich selbst wieder kleine Pausen, ohne schlechtes Gewissen.

Führung neu denken heißt: Innenräume schaffen
Wer führen will, braucht Innenräume – nicht nur Meetingräume. In Zeiten hoher Komplexität ist nicht das Tempo entscheidend, sondern der Rhythmus.
Und der Rhythmus entsteht nicht aus Aktivität, sondern aus klugem Wechselspiel zwischen Impuls und Pause.
Der mentale Boxenstopp ist kein Coachingformat – sondern eine Kulturtechnik. Er ist ein Instrument zur Selbststeuerung, das aus Reflex eine Entscheidung macht. Aus Reaktion eine Richtung.
Einladung zum bewussten Rückschritt
Wir brauchen keine Führungsheld:innen, die alles wissen. Wir brauchen Menschen, die den Mut haben, sich selbst für einen Moment zurückzunehmen – um dann klarer, verbundener, menschlicher zu wirken.
Führung braucht Rückschritt. Aber nur, wenn er klug gesetzt ist.
Dann ist er kein Rückzug. Sondern ein Anfang.

Astrid Göschel M.A. ist Strategieberaterin und Implementierungspartnerin für moderne Führung. Mit ihrem Mentale-Boxenstopp-Prinzip® begleitet sie Unternehmen auf dem Weg zu mehr Klarheit, Verbindung und Entscheidungsstärke.
Sie wurde bereits 2009 von der Europäischen Kommission als „EU-Unternehmensbotschafterin“ ausgezeichnet. Sie arbeitet seit über 20 Jahren mit Führungskräften an der Schnittstelle von Intelligenz, Intuition und Umsetzung. Mehr Information finden Sie unter: https://www.astridgoeschel.com