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Corporate Health Convention
Messe Basel

Vortrag „Muss Stress krank machen?“ von Dr. Milan Kalabic
 

Mittwoch, 17. November 2010,
14.45 – 15.30 Uhr,
Praxisforum 3

www.corporate-health-convention.com

Herr Dr. Kalabic, der Begriff Stress ist eindeutig negativ belegt. In Ihrem Vortrag unterstreichen Sie jedoch auch seine positiven Seiten. Inwiefern ist Stress gut für uns?

Man kann sagen, dass der Mensch ohne Stress oder Stressreaktionen grundsätzlich nicht lebensfähig oder überlebensfähig wäre. Unsere Reaktion auf Stress hilft uns, die täglichen Herausforderungen zu meistern – sowohl auf der körperlichen als auch auf der geistig-mentalen Ebene. Ohne diese Veranlagung hätte sich der Mensch wohl kaum in der uns bekannten Art und Weise entwickelt. Ohne Stresshormone und Stressreaktionen könnten wir morgens nicht einmal aufstehen.

Gibt es folglich auch Krankheiten, die auf einen Mangel an Stress zurückzuführen sind?

Eine Unterforderung ist im Prinzip auch Stress (lacht). Noch einmal: Stress, per se, ist eine ganz gesunde Reaktion. Erst wenn Stressreaktionen nach, sagen wir, realen Bedrohungssituationen anhalten, ist das bedenklich. Der Mensch gerät dann aus seinem natürlichen Zyklus: Unter Belastung werden Stresshormone freigesetzt, nachts kommt es zur Entspannung, morgens steigen sie wieder. Krankheiten entstehen nur, wenn diese Erholungsphase fehlt.

Ist Stressempfinden auch eine Frage der Sichtweise, der eigenen Herangehensweise?

Stress ist im Prinzip wertneutral. Wie wir auf Stress reagieren, ist abhängig von unseren genetischen und individuellen Prädispositionen. Hinzu kommen persönliche Wertmaßstäbe, die sich zum Beispiel auf Grund unserer Lebenserfahrung entwickeln, sowie positive oder negative Erlebnisse. Es gibt Menschen, die sehr locker mit Belastungssituationen umgehen, während andere große Schwierigkeiten damit haben – jeweils abhängig von ihren individuellen Charakter- oder Persönlichkeitsmerkmalen.

Kann man in dieser Hinsicht an sich arbeiten? Also etwas dafür tun, dass man mit Stress besser fertig wird?

Absolut. Vor allem sollte jeder von uns wissen, dass nach einer Belastung Erholung notwendig ist. Der Mensch muss in dieser Hinsicht wirklich zur Vernunft kommen. In meinen Vorträgen betone ich auch immer, dass Burn-out keine Grenzüberschreitung ist, sondern eine Frage, wo die Grenze der Grenzüberschreitung verläuft. Man legt die Messlatte immer höher und höher und anstatt zu genießen, was man erreicht hat, sucht man sich immer neue Herausforderungen, die dann irgendwann, mit der Zeit, zu Belastungen werden.

Ist es möglich, die eigenen Stressreaktionen besser in den Griff zu bekommen? Etwa durch eine Art Training?

Der Mensch hat drei Ebenen, eine körperliche, eine seelische und eine geistige. Körperliche Fitness lässt sich trainieren. Auch die psychische Belastbarkeit ist trainierbar. Nicht nur durch Lernen im Beruf, sondern auch, zum Beispiel, durch das Aneignen von Entspannungstechniken. Denn die Seele braucht Ruhe, um gespürt zu werden, und wir können Stresshormone nur dann abbauen, wenn wir uns dafür ausreichend Raum und Zeit nehmen. Das ist die Ebene, die sehr häufig vernachlässigt wird und die dann zu andauernden Stresszuständen oder –situationen und anschließend zu Stressfolgeerkrankungen führt. Und die dritte, die mentale Ebene, können wir ebenfalls durch geeignetes Training als Steuerungsmittel einsetzen, um den Umgang mit Stress gesundheitsfördernd zu gestalten.

Es gibt Leute, die sich zwar dringend Erholung verordnen, aber trotzdem nicht loslassen können – nicht einmal im Urlaub.

Das ist dann schon ein Zeichen dafür, dass die Grenze weitgehend überschritten ist. Wenn eine Woche in einem schönen Hotel oder Wellness-Hotel nicht mehr ausreicht, um zur Ruhe zu kommen, sollte man professionelle Hilfe in Erwägung ziehen. So ließe sich herausfinden, wo das Problem liegt.

Gilt das auch, wenn man bemerkt, dass man kurz vor einem Burn-out steht?

Ja. Ich denke, dass in diesem Fall professionelle Hilfe nötig ist. Es gibt sicherlich Situationen, in denen ein Abstand vom Alltag, zum Beispiel ein Tapetenwechsel oder ein verlängertes Wochenende, auch behilflich sein können – in den ersten Phasen, in denen der Mensch noch spontan selbst reflexionsfähig ist. Zum Burn-out gehört jedoch eine Art von Selbstwahrnehmungsstörung: Betroffene empfinden sich viel fähiger als sie effektiv sind. Dann ist die geforderte Selbstreflexion ohne fremde Hilfe kaum möglich. Wenn man spürt, dass man nicht mehr zur Ruhe kommt, dass der Antrieb zur Spitzenleistung keine positiven Gefühle mehr sind, sondern nur noch Ängstlichkeit, Zwanghaftigkeit, Flucht aus der Einsamkeit, dann muss man die Handbremse ziehen und fachliche Hilfe in Anspruch nehmen.

Wie können Außenstehende helfen? Ist es sinnvoll, einen Burn-out-Gefährdeten oder Betroffenen direkt auf das Problem anzusprechen?

Burn-out ist eine Entwicklung, die über zehn, zwanzig Jahre dauern kann. Es gibt Menschen, die sich in der ersten, zweiten oder dritten Burn-out-Phase befinden und dann wieder symptomfrei sind. Es gibt jedoch eine Ebene beim Burn-out, die selbst von Experten oft vernachlässigt wird: die soziale Beziehungsebene. Denn Burn-out-Betroffene, gestresste Menschen, haben nicht nur Probleme am Arbeitsplatz, sie haben auch Probleme in der Freizeit, mit ihrem Lebenspartner, mit ihren Kollegen, den Eltern, ihrem gesamten persönlichen Umfeld. Die Beziehungsebene ist stark beeinträchtigt, das heißt, die Menschen fühlen sich zunehmend einsam und isoliert, sie sind kaum emotional zugänglich. In solchen Situationen ist es natürlich sehr schwierig, sie darauf anzusprechen. Sie fühlen sich übrigens häufig – das ist für mich auch ein typisches Burn-out-Symptom – von allen ausgenutzt. Sie sind gefangen in dieser leichten bis mittelschweren Opferrolle, die dann wieder nur destruktive Gedanken oder Bedrohungsgefühle auslöst – ein Teufelskreislauf.

Wenn wir merken, dass ein Betroffener mit deutlicher Abwehr auf Gesprächsangebote reagiert, empfehle ich einen kleinen therapeutischen Trick: Statt ihn auf seine Probleme anzusprechen, sollte man es einmal mit dem Gegenteil versuchen. Zum Beispiel konsequent bei jedem Treffen sagen „Schön, dass es dir so gut geht“. Häufig antwortet die betroffene Person dann nach ein oder zwei Wochen „Es geht mir aber nicht gut!“ Dann ist der Weg vielleicht frei. Diesen Trick nutzen wir auch in therapeutischen Settings, wenn jemand auf Empfehlung von Kollegen, des Chefs oder seiner Partnerin – meistens sind es besorgte Ehefrauen, die für ihre Männer einen Termin organisieren – zu uns kommt. Dann steige ich auch gern mit positiven Formulierungen ein „Sie haben ja keine Probleme…“. Nach einer bestimmten Zeit räumen dann viele ein, dass sie doch welche haben.

Angesichts der heutigen Lebens- und Arbeitsbedingungen fällt es immer schwerer abzuschalten. Das Tempo, die Anforderungen steigen. Kann ich mich dem überhaupt entziehen?

Ich empfehle meinen Klienten, möglichst schnell die eigene Position zu analysieren. Es ist heute fast zu einer Krankheit geworden, dass wir gern die Verantwortung abgeben. Wir sind alle sehr, sehr gut „versichert“. Wir stimmen ab für gute, für bessere Gesetze. Aber wir lösen unsere eigenen Probleme nicht. Wir werden bombardiert von tausenden sinnlosen und zusammenhanglosen Informationen aus aller Welt. Wir wissen, was in Fernost passiert, haben aber keine Ahnung, wie es unseren Nachbarn geht. Und die Situation in den Betrieben ist letztlich auch nicht gänzlich inhuman, sondern ein jeder sollte sich fragen, wo er sich selbst die Eigentore geschossen hat.

Die allgemeine Krankheit der modernen Zeit besteht auch darin, dass wir verlernt haben, mit der Freizeit und überhaupt mit der Zeit konstruktiv umzugehen. Wenn ich nur, zum Beispiel, an den PC denke: Der Computer ist eigentlich dazu da, unsere Arbeit zu erleichtern. Aber in der Praxis machen viele Menschen kaum noch das, wofür sie bezahlt werden, weil sie das Internet bedienen, weil sie nach sinnlosen Informationen suchen. Der Mensch hat in seiner ganzen Geschichte noch nie so viel kommuniziert, quantitativ, zugleich noch nie so schlecht, qualitativ. Mitarbeiter im selben Büro schreiben sich Witze per Mail, sprechen und lachen aber überhaupt nicht miteinander. Es sind oft Kleinigkeiten, die uns daran hindern, uns zu entlasten und darauf beruht wohl auch der Begriff Life-Domain-Balance: Work ist auch Life, aber dazu müssen wir unsere Arbeitsplatzsituation so gestalten, dass wir Freude an Kleinigkeiten, Freude am Austausch mit den Kollegen haben. Noch einmal: Ich will nicht sagen, dass man auf organisatorischer Firmenebene, auf politischer Ebene, nichts tun kann, aber ich denke, dass unsere persönliche Ebene von uns allen gern vernachlässigt wird. Wir erwarten, dass andere unsere Probleme lösen. Das ist auch der Grund dafür, warum Versicherungen in unsicherer Zeit Top-Geschäfte machen. Wir müssen uns versichern, weil wir eigentlich unsicher sind, weil wir uns entwurzelt haben aus unserer Umgebung. Dabei gibt es keine bessere Sicherheit als die emotionale Sicherheit, die wir von unseren Mitmenschen bekommen.

Aber für die heranwachsende Generation, die nun ganz selbstverständlich mit dem PC und den modernen Technologien aufwächst, hat sich die Kommunikation ja bereits verändert. Das lässt sich wohl nicht zurückdrehen.

Nein, aber die jungen Leute sind jetzt einigermaßen adaptiert, weil sie bereits als Kind damit begonnen haben. Ich bin die erste oder zweite Generation, die vor dem Bildschirm steht, und natürlich gibt es bei mir, in meiner Generation, eine gewisse Anpassungsproblematik. Es ist ebenso natürlich, dass die nachfolgenden Generationen weniger darunter leiden, weil sie mit anderen Menschen kaum noch mitfühlen. Es ist effektiv alles eine Frage der Anpassung. Deswegen versteht man das Burn-out-Syndrom auch teilweise als Anpassungsproblem auf die Beschleunigung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozesse.

Aber der Prozess ist längst nicht beendet, der technische Fortschritt schreitet weiter voran. Kommen wir da vielleicht irgendwann wirklich nicht mehr mit?

Sie haben es schon gesagt: Wir können das Rad der Zivilisation nicht zurückdrehen. Umso wichtiger ist, dass der Mensch für sich selbst bestimmt, was er machen und was er nicht machen kann, auf der persönlichen Ebene. Jemand ist als Lehrer top, aber als Versicherungsberater eine Katastrophe. Wenn man etwas macht, für das man nicht geeignet ist, kommt man schnell in eine Überforderungsposition. Es ist heute ein weitverbreitetes Problem in den Firmen, dass die Menschen nicht an Arbeitsplätzen angestellt sind, die ihren Alter- und Charaktermerkmalen entsprechen.

Angesichts des demografischen Wandels müssen wir aber länger arbeiten.

Der Zeitfaktor wird generell unterschätzt. Jeder von uns will jetzt eine steile Karriere machen. Das ist legitim, aber dann muss man auch mit gewissen Konsequenzen rechnen. Wenn Sie mit ihrem neuen Mercedes in einem Jahr 500.000 Kilometer machen, müssen Sie viel schneller zum Garaschist als jemand, der nur 30.000 Kilometer zurückgelegt hat. Das hat nichts mit der Gesellschaft zu tun. Das ist ein Naturgesetz, das wir respektieren müssen.

Viele Menschen fahren heute nicht mehr ohne Laptop und Handy in den Urlaub. Was sagen Sie dazu?

Also, ich würde diesen Menschen empfehlen, auch noch einige ihrer Mitarbeiter mitzunehmen. Dann können sie richtig arbeiten und sich richtig erholen! Paradox formuliert: Am besten packen Sie einfach die Mitarbeiter, ihren PC und alle Probleme in den Koffer. Dann haben sie alles, was sie im Urlaub brauchen (lacht).

Die Wurzel des Problems liegt natürlich schon weit vor dem Urlaub. Der Mensch muss irgendwann abends mit seiner Arbeit abschließen. Und diejenigen, die täglich bis 22 oder 23 Uhr zu Hause weiter arbeiten, haben die Fähigkeit verlernt, sich von ihren Verpflichtungen abzugrenzen und zu sagen „Jetzt bin ich fertig, jetzt will ich genießen“. Diese Menschen haben auch Probleme, ohne Laptop und Geschäftsgespräche in den Urlaub zu fahren. Beim Burn-out definiert man auch eine Arbeitssuchtphase. Sie lässt sich tatsächlich bei vielen Menschen beobachten, bevor Stressfolgeerkrankungen auftreten. Diese Workaholic-Phase ist effektiv mit einer Alkohol-Sucht zu vergleichen: Wenn ich Suchtmittel zur Verfügung habe, bin ich euphorisch. Wenn ich aber übers Wochenende mein Laptop vergessen habe oder wenig zu tun bleibt, dann bin ich apathisch. Das ist sozusagen eine pathologische Situation. Denn eine Sucht ist nicht gefährlich, weil sie eine Sucht ist, sondern weil der Mensch nicht mehr frei ist. Er handelt nicht mehr aus eigenem Willen, aus Freude, sondern nur, um seine Sucht zu befriedigen. Das trifft auch auf die Menschen zu, die ihre Arbeit in die Ferien mitnehmen. Sie sind wirklich arbeitssüchtig.

Und Sie selber sind tatsächlich „off“ im Urlaub?

Ich bin etwas häufiger in den Ferien – also nach zwei, drei Monaten mache ich gern spontan eine Woche oder zehn Tage Urlaub. Von da habe ich in den letzten Jahren wirklich kaum in die Klinik telefoniert. Wenn man sich in seiner Abwesenheit nicht auf seine Mitarbeiter verlassen kann, dann sollte man entweder alle entlassen oder sich selber. Dann macht das Unternehmen einfach keinen Sinn.

Interview: Petra Jauch, Pressereferentin spring Expositions SA

Über Dr. Milan Kalabic

Dr. med. Milan Kalabic ist ein ausgewiesener Fachmann im Bereich der Prävention, Diagnostik und Therapierung von Burn-out sowie in der Nachbetreuung von betroffenen Patienten.

Nach dem Medizinstudium in Sarajevo durchlief er eine Ausbildung zum Facharzt in den kantonalen psychiatrischen Kliniken (KPK) in Wil, Herisau und am Bürgerspital St. Gallen. Von 1998 an arbeitete er als leitender Oberarzt (Psychosomatik) in der Klinik Gais, ab 2005 als Chefarzt. Dort konnte er sein Wissen und seine Erfahrungen im Umgang mit Burn-out-Betroffenen umsetzen und weiter vertiefen. Im Januar 2007 wechselte er als Verwaltungsratspräsident und Chefarzt an die Klinik Teufen für ambulante psychosomatische Rehabilitation. Dr. med. Milan Kalabic ist zudem Kuratoriumsmitglied bei Swiss Burnout.