Deutschland im Spätherbst 2009. Die Schweinegrippe hat das Land fest im Griff. Auch Anna T.* bleibt nicht verschont. Ihre Tochter Sara* hat sich im Kindergarten angesteckt und beide müssen in Quarantäne. Was früher die alleinerziehende Mutter zwang ihrer Arbeit fern zu bleiben, hindert sie heute nicht mehr ihren beruflichen Aufgaben nachzugehen. Die Mitarbeiterin von Microsoft genießt – wie alle ihre Kollegen – die Freiheit, jederzeit auch im Homeoffice arbeiten zu können, wenn sie es für sinnvoll erachtet.

photography of people inside room during daytime
Foto von Christina @ wocintechchat.com

„In der Regel arbeiten unsere Mitarbeiter einmal die Woche oder auch alle zwei Wochen einmal von zuhause“, erzählt Brigitte Hirl-Höfer, Director Human Resources bei Mircosoft Deutschland. Das müsse der Beschäftigte vorab lediglich mit dem Vorgesetzten kurz abstimmen. „Durch den Einsatz von Handy, Livemeetings und weiteren Technologien können die Mitarbeiter viele Aufgaben erledigen, ohne dass eine persönliche Anwesenheit im Büro unbedingt erforderlich ist“, so die Personalchefin weiter.

Doch nicht nur räumlich genießt die Belegschaft von Microsoft viele Freiheiten. Eine Stechuhr sucht man vergebens. Bei dem Softwareriesen arbeiten die Mitarbeiter nach Zielvereinbarungen, die für zwölf Monate fixiert werden. „Innerhalb dessen haben wir eine sehr starke Vertrauensarbeitszeit. Der Mitarbeiter entscheidet im Grunde selbst, wie er seine Bürozeiten gestaltet.“ Es könne vorkommen, dass jemand am Mittag bereits den Arbeitsplatz verlasse, um privat etwas zu erledigen, am Abend jedoch noch einmal weiterarbeite.

Brigitte Hirl-Höfer,

Director Human Resources Microsoft Deutschland:

„Wenn der Mitarbeiter morgens nicht am Flughafen sein muss, kann er sich währenddessen anderen Aufgaben widmen und länger bei seiner Familie sein“.

Work-Life-Balance trotz Krise

Mit diesen zeitlichen und örtlichen Möglichkeiten der Selbstbestimmung für die Belegschaft hat Microsoft die

Not zur Tugend gemacht. Denn ganz spurlos zog die Krise nicht an dem Softwaregiganten vorüber. Es galt, Einsparpotenziale auszuloten. Zeitarbeit und Interimsmanagement setzt das Unternehmen nur zu einem geringen Teil ein – entsprechend wenig Spielräume gab es, damit Kosten zu reduzieren. Auch Kurzarbeit und ein größerer Anteil von befristeten Mitarbeitern kamen für Microsoft aufgrund der Herausforderungen am Markt nicht in Frage. „Wir sind auf jedes Talent angewiesen“,

begründet Hirl-Höfer diese Entscheidung.

Deshalb lag es nahe, die Einsparmöglichkeiten innerhalb der Organisation – und dabei vor allem die technologischen Möglichkeiten – zu prüfen. „Wir haben dann die Flexibilisierung des Arbeitsortes bewusst vorangetrieben“, berichtet die Personalerin. Viele Meetings in den sechs regionalen Standorten halte das Unternehmen nun virtuell ab. Das spare Kosten und Zeit. „Wenn der Mitarbeiter morgens nicht am Flughafen sein muss, kann er sich währenddessen anderen Aufgaben widmen und länger bei seiner Familie sein“.

Gerade in der IT-Branche sei es im Hinblick auf den Fachkräftemangel vonnöten, die besten Mitarbeiter zu gewinnen. „Die Vereinbarung von Beruf und Familie macht uns als Arbeitgeber insbesondere für Frauen attraktiver“, so Hirl-Höfer. Das Unternehmen handle dabei gemäß seiner Überzeugung, dass gemischte Teams erfolgreicher arbeiten – und dazu gehöre eben ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis.

Leistungsträger an Bord holen

Auch andere Unternehmen richten im Hinblick auf Fach- und Führungskräftemangel flexible Arbeitsplätze ein – wie das Logistikunternehmen TNT Express. Beschäftigte aus dem Management genießen dort die Freiheit von zuhause zu arbeiten, wenn sie sich einmal „ungestört“ auf ein Thema konzentrieren möchten.

Das erwarteten immer mehr Führungskräfte von ihrem Arbeitgeber, so Jürgen Seifert, Geschäftsführer Human Resources, Corporate Services und Information & Communication Services der TNT Express GmbH. „Es ist natürlich ein hehres Ziel, Manager einsetzen zu wollen, die grundsätzlich mobil sind“, sagt Seifert. „Wenn Sie in Gesprächen genau auf die Antworten von Führungskräften hören, werden sie feststellen, dass viele eigentlich ganz gern jeden Abend bei ihrer Familie zu Hause sind und im eigenen Bett schlafen möchten.“

Niemals werde ein Unternehmen die ganze Arbeitskraft von einem Mitarbeiter bekommen, der im Grunde seines Herzens in seinem Job ständig Zugeständnisse mache. „Wenn jemand die ganze Woche bei Ihnen im Office verbringt, aber dort eigentlich nicht wohnt und nicht lebt, nur am Wochenende wieder zu seiner Familie zurückfährt, dann haben Sie hier unter Umständen einen schlechten Kompromiss erzielt“, ist Seifert überzeugt. Dass die eigene Freizeit eine immer größere Rolle spiele, erfahre der Personalverantwortliche vor allem in Interviews mit jungen Menschen.

Jürgen Seifert,

Geschäftsführer Human Resources, TNT Express

„Es sollte jedem Unternehmen nicht um die Zeit gehen, die ein Arbeitnehmer im Büro verbringt, sondern um die Leistung und die Ergebnisse“

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

Mit den neuen Möglichkeiten von jedem Ort zu jeder Zeit

zu arbeiten, ergeben sich allerdings auch neue Schwierigkeiten für die Beschäftigten. Es kommt darauf an, abzuschätzen, welche Aufgaben mehr Ruhe erfordern, wie etwa konzeptionelle Tätigkeiten, und welche eher im Team besser aufgehoben sind. „Die Mitarbeiter müssen lernen, sich zu disziplinieren, aber auch abzugrenzen“, so Hirl-Höfer. Denn Arbeit sei immer da, auch wenn ein Mitarbeiter mit der Zielerfüllung schon über Soll liege.

Vor allem bei Einstellungsfragen erkennt der Geschäftsführer Human Resources von TNT Express noch

Verbesserungsbedarf. „Wir tragen alle bestimmte Bilder mit uns herum, die sagen, wenn man etwas von einem Chef oder Mitarbeiter möchte, muss man zu ihm gehen können. Diese tradierten Bilder müssen wir verändern“, fordert Jürgen Seifert.

Physische Präsenz allein könne nicht mehr das Verhältnis von Vorgesetztem und Mitarbeiter bestimmen. Die klassische Kontrolle durch Anwesenheit verliere an Bedeutung. Während Mitarbeiter in diesem neuen System selbständiger agieren müssen, sollten Chefs Seifert zufolge mehr vertrauen: darauf, dass jemand auch arbeitet, wenn er nicht im Büro ist, oder darauf, dass der Mitarbeiter seine Zeit sinnvoll einsetzt.

„Es sollte jedem Unternehmen nicht um die Zeit gehen, die ein Arbeitnehmer im Büro verbringt, sondern um die Leistung und die Ergebnisse“, meint Seifert. Für wirkliche Vertrauensarbeitszeit sei es aber nötig, dass vor allem das Management eine neue Haltung vorlebe. „Denn wer geht heute, bevor die Kernarbeitszeit zu Ende ist, tatsächlich nach Hause?“, fragt der Geschäftsführer von TNT.

Freiheit ja, aber…

So hat die Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort auch ihre Grenzen. Mehr als ein Tag in der Woche können etwa die Microsoft-Mitarbeiter, insbesondere Führungskräfte, dem Büro nur in Ausnahmefällen fernbleiben. Permanentes Homeoffice ist lediglich Beschäftigten erlaubt, die ohnehin auf ständige Reisetätigkeit angewiesen sind: Mitarbeitern in Service und Vertrieb.

Bei TNT Express sind es wiederum nur die Manager, die flexibler agieren können, denn der größte Teil der Belegschaft ist im operativen Transportgeschäft tätig. „Das erfordert grundsätzlich eine lokale Anwesenheit“, so Seifert. „Wir müssen die Standorte in Deutschland personell flächendeckend besetzen, damit wir Transportzeiten entsprechend minimieren oder auch optimieren können – und zwar vom Kunden bis zu uns in den Umschlag, in den Weitertransport und dann wieder zum Empfänger.“ Zur Flexibilisierung – etwa um saisonale Spitzen abzudecken – ist dabei vor wie nach der Krise Zeitarbeit das Instrument der Wahl.

Unternehmen werden sich folglich gut überlegen müssen, für welche Mitarbeiter und welche Aufgaben Vertrauensarbeitszeit und Homeoffice passen. Doch langfristig wird der Fachkräftemangel die meisten stärker mit diesen Arbeitsformen konfrontieren.

* Namen von der Redaktion geändert