Die Schweiz muss aktuell mit fünf Herausforderungen jonglieren, um den Galopp ihrer Volksökonomie im Geflecht internationaler Geschäftsbeziehungen zu steuern.
Stichwort „Masseneinwanderungsinitiative“: Mehr als die Hälfte des stimmberechtigten Volkes hatte ihren Unmut über Zuwanderer bekundet, sie trägt die weitere Öffnung ihres Landes nicht mit. Die Zuwanderung nimmt nicht nur in gefühlter Weise zu. Sie ist statistisch gesehen derzeit höher als in allen anderen OECD-Ländern (OECD, 2014). Laut KOF-Bericht kamen aus den EU-27/EFTA-Staaten bislang jährlich bis zu 25.300 Personen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren in die Republik. Nach aktueller BFS-Meldung vom 22.01.2015 hat ein Drittel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund.
Stichwort „Überbewertung des Frankens“: Die Schweizer Nationalbank hat am 19. März 2015 entschieden, nichts gegen die starke Überbewertung des Frankens zu tun. Wie der Schweizerische Gewerkschaftsbund, aber auch arbeitgebernahe Organisationen berichten, bedeutet diese Situation, dass Euro-Kurse um 1,05 bis 1,07 Franken Löhne und Gehälter erheblich unter Druck setzen. Dadurch reagieren betroffene Firmen und Betriebe mit Entlassungen, Auslagerungen, Arbeitszeitverlängerungen, Zahlungen von Euro-Löhnen oder Entgeltsenkungen.
Stichwort „Fachkräftemangel“: Durch die europaweit vollzogene Wende der Gesellschaften hin zur digitalen Industrie und Dienstleistung verlieren bislang traditionelle Berufssparten und Branchen ihre Wirtschaftsgrundlage und müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern sie ihr Business umstellen. Indem die Schweiz in EU-Ländern ihre wichtigsten Handelspartner findet, müssen Schweizer Unternehmen den Wandel vieler ihrer Handelspartner ebenfalls vollziehen.
Die Altersstruktur in der Schweiz gibt aktuell noch keinen Anlass zur grossen Sorge. Allerdings erwarten Forscher in den nächsten 50 Jahren eine Entwicklung wie in Deutschland. Wie grosse Beratungshäuser – zum Beispiel Roland Berger und McKinsey – mitteilen, zieht der Wandel die Um- und Weiterqualifizierung von Arbeitskräften nach sich, erfordert aber auch die Gewinnung entsprechend qualifizierter Personen. Die KOF legt in ihrem Bericht der Schweizer Wirtschaft nahe, sich dieses Punktes weiterhin bewusst zu bleiben. Eine Abschottung sei volkswirtschaftlich bedenklich. Migration und Arbeitsteilung machten eine zunehmende weltwirtschaftliche Integration der Schweiz unausweichlich.
Stichwort „Arbeitsplätze“: Laut Information des Bundesamtes für Statistik (BFS) ist die Erwerbslosenquote gemäss ILO bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund deutlich höher als bei der einheimischen Bevölkerung. Im Jahr 2013 betrug die totale Erwerbslosenquote in der Schweiz 4,4%. Die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund weist eine 2,6-mal tiefere Quote auf als die Bevölkerung mit Migrationshintergrund (2,7% gegenüber 7,2%). Damit haben sich die Verhältnisse am Schweizer Arbeitsmarkt seit 2008 in Relation nicht nennenswert verändert.
Stichwort „Investitionen“: Wie der KOF-Bericht konstatiert, hat die Schweizerische Wirtschaft in 2014 nicht wie erwartet einmütig mit einem grossen Investitionsstopp auf das Ergebnis der Masseneinwanderungsinitiative reagiert. Allerdings planen viele Unternehmen bis 2017 weniger Geld in die Hand zu nehmen (z.B. über 8% im Herbst 2017). Investitionen sind ein zentraler Indikator für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft, denn ihr Produktiv-, Sozial- und Humankapital muss quantitativ sowie qualitativ laufend verbessert werden, um sie zumindest erhalten zu können. Investitionen sind zum Teil stark gekoppelt mit der Schaffung neuer oder anderer Arbeitsplätze. Laut BFS-Information aus 2014 betrugen die Investitionen am BIP im Jahr 2013 über 24%. Das BFS stellt fest, dass die Investitionsquote damit seit 1995 relativ stabil ist.
Theoretisch mögliche Chancen der Zuwanderung
Diese arbeitsmarktrelevanten Chancen sieht die KOF in ihrem Bericht:
1 | „Statt auf die Kapitalakkumulation innerhalb der Firma, könnte sich die Zuwanderung von Arbeitskräften aber auch auf die Allokation von Kapital zwischen Firmen auswirken. So könnte sich als Folge der Zuwanderung die lokale Zusammensetzung der produzierten Güter oder die Industriezusammensetzung verändern.“
2 | Die Verfügbarkeit von hoch und tief qualifizierten Arbeitskräften könnte einen Einfluss darauf haben, welche Technologien die Firmen adoptieren oder wie sie ihre Technologien weiterentwickeln.
3 | Die Zuwanderung könnte die Produktivitätsentwicklung in vielerlei Hinsicht beeinflussen.
- Erstens könnten (hoch qualifizierte) Zuwanderer durch ihr Humankapital das Produktivitätswachstum erhöhen, indem sie zum Beispiel die Diffusion von Wissen, Technologien und Ideen befördern, wovon nicht nur das Unternehmen, das den Zugewanderten beschäftigt, sondern über Lern- und Spillovereffekte auch andere Unternehmen im lokalen Markt profitieren könnten.
- Zweitens liefere laut KOF eine Reihe von neueren Studien Evidenz, dass auch die herkunftsspezifische Diversität der Arbeitskräfte innerhalb einer Firma positive Auswirkungen auf ihre Produktivität hat.
- Drittens könnte die Zuwanderung positive Agglomerationseffekte auf die Produktivität verstärken.
- Viertens könnte die Zuwanderung dazu führen, dass sich das «Matching» auf dem Arbeitsmarkt verbessert, indem die Firmen für die offenen Stellen passendere Arbeitskräfte anstellen können, woraus Effizienzgewinne entstünden.
4 | Gerade international tätige Firmen wandern zu oder verlagern Teile ihrer Produktion in die Schweiz. So sei gemäss einer Umfrage unter zugewanderten Unternehmen in der Schweiz die Verfügbarkeit von qualifiziertem Personal ein Hauptgrund für ihre Standortwahl.
5 | Die Personenfreizügigkeit führte dazu, dass die Ausweitung der Arbeitsnachfrage nicht zu einer Verknappung am Arbeitsmarkt führte, sondern zu tieferen Kosten für die Firmen. Sie zog also wohl nach sich, dass in der Schweiz mehr Stellen für weniger Entgelt geschaffen wurden als in einer Situation ohne Personenfreizügigkeit.
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(sh) | Copyrights Fotos:
(1) Rainer Sturm | www.pixelio.de
(2) Emanuel Keller | www.pixelio.de
Zuwanderung – was bringt der bilaterale Weg?
Durch den letztjährigen Volksentscheid vom 9. Februar sind ab 2017 in Zuwanderungsfragen zwingende Einwanderungskontingente geplant. Welche Massnahmen Unternehmen und Politik im Detail bis 2017 ergreifen werden, ist heute noch nicht eindeutig abzusehen. Dennoch möchten alle Interessensparteien die Zukunft in ihrem Sinne gestalten. Die KOF hat auf der Grundlage einer Simulation versucht zu ergründen, was volkswirtschaftlich passiert, wenn das Erwerbspersonenpotenzial zwischen 2014 und 2019 kontinuierlich sinken würde. Dazu setzte die Forschungsstelle die Quote der jährlich ausbleibenden Zuwanderer unter anderem bei 10.000 an.
Zu diesem Szenario kommen die Forscher: Die Beschäftigung reduziere sich im gleichen Masse wie das Erwerbspersonenpotenzial. Da aber theoretisch zu erwartende Reaktionen auf ein geringeres Arbeitsangebot schwer modellierbar seien, könnten Auswirkungen auf den inländischen Arbeitsmarkt kaum geschätzt werden. Die KOF merkt an, dass Arbeit – als homogener Produktionsfaktor im Modell angenommen – die Resultate der Simulation verzerren würden. Die grösste Schwierigkeit liege darin, ausreichend lange Zeitreihen für das Arbeitsangebot sowie die Arbeitsnachfrage mit den jeweils zugehörigen Lohnsätzen aufzubereiten.
Sicherer beurteilt die KOF hingegen die weiteren ökonomischen Effekte: Da anzunehmen sei, dass sich die Einnahmen der öffentlichen Hand reduzieren, erhöhen sich die Steuerbelastung der Haushalte sowie die Staatsausgaben. Die Anpassung der Staatsausgaben betreffe sowohl die staatlichen Konsumausgaben, als auch die öffentlichen Bauinvestitionen. Die Sozialabgaben der Haushalte werden hauptsächlich mit Hilfe von arbeitseinkommensabhängigen Beitragssätzen determiniert und blieben laut KOF unverändert. Bei den nicht einkommensabhängigen Beiträgen – vor allem den Krankenkassenprämien – seien die Beiträge aufgrund der gesunkenen Grösse der Bevölkerung geringer ausgefallen.
ZITAT | KURZFRISTIGE EFFEKTE
Von der Zuwanderung …
profitieren in der kurzen Frist auf dem Arbeitsmarkt in erster Linie die Zuwandernden, die Arbeitgeber
und Unternehmensbesitzer (Shareholder). Die heimischen Lohnbezüger dürften kurzfristig von
der Zuwanderung nur in geringerem Ausmass profitiert und einige von ihnen könnten durch die
Zuwanderung gar verloren haben. Das ist aus politischer Sicht umso gewichtiger, da die konkurrierten
ansässigen Arbeitskräfte den Druck auf dem Arbeitsmarkt direkt und im Voraus zu spüren bekommen,
während die allfälligen Gewinne durch die Zuwanderung auf dem Arbeitsmarkt weniger schnell anfallen
und weniger wahrnehmbar sind. (KOF | Februar 2015)
Der bilaterale Weg aus Sicht der Vergangenheit
Die KOF macht keinen Hehl daraus, dass belastbare Erkenntnisse anders aussehen. Auch zur Vergangenheit des bilateralen Wegs äussert sie sich vorsichtig: Dass das bemerkenswerte Wachstum der Schweizer Wirtschaft in den letzten zehn Jahren zeitlich mit der Einführung der Personenfreizügigkeit zusammenfällt, dürfe nicht zum Schluss führen, das eine hänge zwingend mit dem anderen zusammen. Um dies zu prüfen, reiche die Datenbasis nicht aus. Andererseits könne die Personenfreizügigkeit die Potenzialwachstumsrate des Schweizer BIP kaum vermindert haben.
Eindeutig äussert sich die KOF jedoch dazu, welche ansässigen Arbeitskräfte durch die eingeführte Personenfreizügigkeit Nachteile haben. Dazu nahmen die Forscher an, dass es eine vollständige Konkurrenz im Güter- sowie Arbeitsmarkt gebe und dass in der Volkswirtschaft nur ein Gut produziert werde. Arbeit als auch Kapital wurden als homogene Produktionsfaktoren gewichtet.
Die Zuwanderung führe unter diesen Bedingungen – ähnlich wie internationaler Handel im Allgemeinen – über eine veränderte Verfügbarkeit von Produktionsfaktoren zu Umverteilung, so die KOF. Dabei seien die einheimischen Arbeitskräfte, die mit Zuwanderern direkt konkurrieren, tendenziell die Verlierer. Mit der Arbeitsnachfrage sinke nämlich das Entgelt.
Die KOF zieht zur weiteren Betrachtung eine Theorie von Ottaviano und Peri (2012) heran. Nach dieser spielt es eine grosse Rolle bei der Beurteilung von Zuwanderung, inwieweit sich die jeweiligen Qualifikationen von ansässigen und zuwandernden Arbeitskräften gleichen. Angenommen, Zuwandernde und Ansässige mit gleichen Qualifikationen würden sich nicht vollständig ersetzen, so beträfen die negativen Effekte von Zuwanderung vor allem vorher Zugewanderte; die Arbeitsmarkteffekte auf die Ansässigen wären hingegen bedeutend geringer oder gar positiv, meinen die Forscher. Studien unter anderem in den USA hätten gezeigt, dass jedoch Zuwandernde und Ansässige insgesamt gesehen keine perfekten Substitute seien. Für die Schweiz vermutet die KOF den Grund dafür in der Tatsache, dass Schweizer Firmen gemäss eigenen Aussagen vor allem in jenen Berufen und Branchen im Ausland rekrutieren, in welchen sie keine passenden Arbeitskräfte im Inland finden (vgl. u. a. B,S,S, 2013 und BAK 2013). Studien für andere Länder zeigten zudem, dass sich zuwandernde und ansässige Arbeitskräfte aufgrund unterschiedlicher «komparativer Vorteile» (z. B. aufgrund unterschiedlicher sprachlicher Fähigkeiten) in unterschiedliche Berufe spezialisieren und innerhalb des Berufes unterschiedliche Tätigkeiten ausüben. Die Ansässigen könnten durch diese berufliche Spezialisierung den Zuwandernden ausweichen.
Um zu ermitteln, welche Gruppe von Arbeitskräften zu den Verlierern gehört, bezieht sich die KOF auf Arbeiten anderer Forscher (Müller et al. (2013)). Diese stellten fest, dass Zuwandernde mit tiefem formalen Bildungsabschluss gleichqualifizierte Ansässige nur unvollständig ersetzen. Das gelte auch für die Gruppe der Hochqualifizierten. Hingegen seien die mittel qualifizierten Zuwandernden und Ansässigen perfekte Substitute. Negative Effekte machen sich bei jenen Arbeitskräften bemerkbar, die …
(1) durch Immigranten vollständig ersetzt werden.
(2) in den letzten Jahren in ihrer Skillgruppe einen besonders grossen Zuwachs an Immigranten erlebt haben. Das betraf laut KOF in der Schweiz zumindest zwischen 2002 und 2010 die hoch Qualifizierten mit relativ geringer Berufserfahrung (0–20 Jahre).
INFO | ZUWANDERER
Studien zeigen unter anderem,
.. dass die Zuwandernden, wenn man ihren höchsten
Bildungsabschluss heranzieht, seit ungefähr der Jahrtausendwende
im Schnitt immer höher qualifiziert sind;
… dass viele der neu aus den EU-/EFTA-Staaten zugewanderten
Erwerbstätigen spezialisierte und gut bezahlte Tätigkeiten übernahmen;
… dass Zuwandernde aus der EU Arbeitsmigranten sind,
die zum Zuwanderungszeitpunkt in vielen Fällen bereits eine Stelle besitzen.
(Basten und Siegenthaler 2013; Favre et al. 2013; Müller et al. 2013; SECO et al. 2014)
Quelle: KOF | Februar 2015