Prof. Dr. Bernadette Dilger ist Professorin für Wirtschaftspädagogik an der Universität St. Gallen. Sie leitet das Hochschuldidaktische Zentrum und ist Delegierte des Rektorats für Qualitätsentwicklung. Sie entwirft und bringt die didaktische Konzeption in das neue HSG Learning Center ein.
Prof. Dr. Bernadette Dilger, Professorin für Wirtschaftspädagogik, Direktorin des Instituts für Wirtschaftspädagogik – Schule, Hochschule & Berufliche Bildung der Universität St. Gallen. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen in der Gestaltung von wirksamen Learning Designs zur Kompetenzentwicklung und deren Evaluation mit dem Schwerpunkt auf Seamless Learning, der Entwicklung von Bildungsinstitutionen in dynamischen Kontexten und der Entwicklung von zukunftsbefähigenden Lehr- und Bildungsplänen. Aufbauend auf dem Studium der Betriebswirtschaftslehre und der Wirtschaftspädagogik an der FH Augsburg und der LMU München, Promotion in Wirtschaftspädagogik im Bereich des selbstgesteuerten Lernens und der Rolle der Selbstreflexion. Professuren in Konstanz, Köln und St. Gallen in Wirtschaftspädagogik. An der Universität St. Gallen leitet sie das Hochschuldidaktische Zentrum und ist Delegierte des Rektorats für Qualitätsentwicklung. Sie entwirft und bringt die didaktische Konzeption in das neue HSG Learning Center ein.
Frau Prof. Dr. Dilger, was ist für Sie aus einer universitären Perspektive «Learning Innovation»? (= innovatives Lernen, Innovation im Lernbereich ganz allgemein)
Unter Learning Innovation verstehe ich alle Überlegungen, Konzepte, Massnahmen und Werkzeuge, die entwickelt werden, um Menschen in ihren individuellen Lern- und Kompetenzentwicklungsprozessen zu fördern. Dies reicht von Entwicklungen in der Lernpsychologie, die uns helfen besser zu verstehen, wie Lernen vor sich geht und was das individuelle Lernen beeinflusst, über neue Werkzeuge (sei es digitale oder analoge Werkzeuge), die im Lernprozess genutzt werden, um diesen anzureichern bis hin zu didaktischen Prinzipien, die über eine hohe Wirksamkeit verfügen. Das Paradoxe am Feld der Learning Innovation ist, dass das individuelle Lernen als solches nicht direkt von aussen veränderbar oder sogar innovierbar ist, sondern dass über die Interventions- und Kontextgestaltung nur eine indirekte und mittelbare Learning Innovation stattfinden kann.
Können Sie ein paar konkrete Beispiele nennen für innovative, neue Lernformen oder -konzepte in Firmen oder Bildungsinstitutionen – evtl. an der Universität St. Gallen?
Mit weiteren Hochschulen und Unternehmen im Bodenseeraum entwickeln wir «Seamless Learning» Konzepte und implementieren diese in den nächsten Jahren. Zielsetzung dieser neuen Lehr-/Lernkonzepte ist, dass Brüche in den Lernerfahrungen bewusst aufgenommen und adressiert werden. Dabei werden in einem Projekt z. B. eigene Erfahrungen, Bilder, Modelle, Simulationsprogramme, Theorien für Crowd-Management entwickelt und in spiralförmige Lehr-/Lernszenarien sowohl für Studierende des Event-Managements als auch für Weiterbildungen in Eventagenturen aufgebaut. Die Brüche, die in den einzelnen Projekten adressiert werden, sind technologische Brüche, die in Formen von Blended Learning Konzepten weiterentwickelt werden; Brüche zwischen formellen und informellen Lernen, wenn z. B. Materialien und Apps für die Verbindung zwischen mathematischen Grundlagen und Bildverarbeitungsprogrammen erarbeitet werden oder Brüche zwischen verschiedenen Lernmodalitäten, wenn z. B. für das Projektmanagement zwischen auftrags- und fachsystematischen Assignments gewechselt wird.
Im universitären Kontext haben wir ein Lehr-/Lernkonzept entwickelt und erprobt, in dem Studierende unter didaktischer Begleitung für ihren eigenen zukünftigen Kompetenzbedarf Lehr-/Lernkonzepte entwickeln und erproben. Studierende hatten den Auftrag, dass sie die zukünftigen Anforderungen an ihr Kompetenzprofil bestimmen und dies mit den vorhandenen Lerngelegenheiten an der Universität abgleichen und für einen Ausschnitt eine didaktische Konzeption entwickeln. Dabei sind sehr intensive, erfahrungsbasierte Einheiten vor allem in den Bereichen der Selbst- und Sozialkompetenz (z. B. Förderung von Empathiefähigkeit, Förderung von wertbewusstem Denken und Handeln, Förderung von Teamarbeit unter Stresssituationen usw.) pilotiert worden.
Mit dem Konzept des HSG Learning Centers wollen wir eine innovative Entwicklungs-Ökosphäre schaffen, die aus didaktischer Sicht, das formelle und informelle Lernen unter ubiquitärer Technologienutzung verbinden hilft. Dazu erarbeiten wir neben Angeboten auf der curricularen Ebene (z. B. Angebote zur Unterstützung von Arbeits- und Lernprozessen in projektförmigen Veranstaltungen wie z. B. Capstone-Projekten), weitere Programmelemente auf der extra-curricularen Ebene (z. B. in Form von Kompetenzwerkstätten zu Entscheiden und Kommunizieren mit Hilfe von KI-Systemen) insbesondere an den technologiegestützten Angeboten auf der Ebene des informellen Lernens. Studierende, Dozierende, Partner sollen mit Hilfe von KI-Systemen sich in der physischen und digitalen Lernsphäre des Learning Centers navigieren und orientieren können. Ihnen werden Vorschläge von Kontakten oder Lerngelegenheiten gemacht und das Programm soll sich adaptiv entsprechend auf die Nutzer einstellen. Hierzu sind wir noch auf der Ebene der Forschung und Entwicklung.
Was sind für Sie vor dem ausgeführten Hintergrund und den geschilderten Beispielen die Herausforderungen und Ziele im Bereich Lernen und Arbeiten, z. Bsp. für Bildungsinstitutionen?
Geprägt durch Megatrends und Veränderungen sind und werden die Ziele von Bildungsprozessen und die zu befördernden Kompetenzen mehr und mehr unsicher und bis hin zu bisher noch unbekannt. Menschen in ihren Kompetenzen zu unterstützen, dass sie in zunehmenden volatilen, unsicheren und komplexen Kontexten handlungsfähig sind und bleiben, ist eine der grössten Herausforderungen. Dies fordert aus meiner Sicht sowohl die Förderung von Kompetenzen, die sich aktuell inhaltlich neu definieren bzw. verändern (z. B. Kommunikation und Entscheidungsfähigkeit im Umgang mit KI-Systemen), aber auch die originär menschlichen Kompetenzen (z. B. kritisches, reflexives Denken, kreatives Denken, bedeutungsvolles Kommunizieren, verantwortungsvolles Gestalten). Bedeutungsvolle Learning Designs zu gestalten, die genau diese Kompetenzen, die nicht einfach als Inhalte vermittelt werden können, fördern helfen, stellt Didaktikerinnen und Didaktiker vor Forschungs- und Gestaltungsaufgaben. Dabei gilt es mit Hilfe von kritischer Reflexion von grundlegenden Lernverständnissen didaktische Konzepte so zu konzipieren und zu realisieren, dass sie möglichst wirksam die Kompetenzen entwickeln helfen. Kompetenzentwicklung findet mehr und mehr in fragmentierten Kontexten und auf vielen Ebenen statt. Den/Die Einzelne/n dabei zu unterstützen, möglichst auf vielfältige Weise seine eigenen Kompetenzen zu entwickeln und diese verschiedenen Lernerfahrungen zu kohärenten, sinnstiftenden Mustern zu verbinden stellt das Programm dar.
Geht es nicht vornehmlich um die Förderungen und Unterstützung von Selbstlernkompetenz oder noch spezifischer, um eine Selbstlernkompetenz im digital-hybriden Kontext? Ich erlebe es in vielen Projekten in der Wirtschaft, dass die Mitarbeitenden hier oft sich selber überlassen werden – auch darum, weil die Lernprofis oft zu wenig Aufmerksamkeit («attention») für dieses Thema haben. Wie sieht dies an der Universität St. Gallen aus?
Die Bedeutung der individuellen Lernkompetenz bzw. weiter gefasst, einer individuellen Selbst-Entwicklungsfähigkeit nimmt weiterhin stetig zu. Wenn die Zielsetzungen sich stärker dynamisch verändern und bis hin zu nicht mehr vorhersehbar sind, wachsen die Anforderungen an das Individuum, sich selbst weiterzuentwickeln. An der Universität St.Gallen unterstützen wir bisher diese Fähigkeit auf unterschiedlichen Ebenen. Einzelne Studienprogramme zielen spezifisch auf diese Fähigkeiten in den Programmzielen. In weiteren Studienprogrammen sind Lernangebote im Rahmen des sogenannten Kontextstudiums hierzu wählbar. Wir sehen hier aber einen noch weitergehenden Bedarf und so ist ein Element in der Konzeption des neuen HSG Learning Centers, dass diese zukunftsbefähigenden Kompetenzen durch extra-curriculare Angebote und über die Förderung informellen Lernens weitergehend unterstützt wird.
Was müssen Betriebe, Organisationen, Bildungsinstitutionen tun, um Lerninnovationen umzusetzen?
Aus meiner Sicht müssen Institutionen, die Bildungsarbeit leisten, sich mehr und mehr der Aufgabe stellen, dass die Kompetenzentwicklung von Menschen, nicht «nur» in formellen, zielgerichteten Kontexten und Massnahmen stattfindet, sondern sich öffnen zu den verschiedenen Ebenen von non-formellen und insbesondere informellen Lernen. Weiterhin muss eher mehr auf die Verbindung zwischen einzelnen Lernepisoden und -einheiten und deren Gestaltung Augenmerk gelegt werden, damit die Zusammenhänge und Vernetzungen gestärkt werden können. Darüber hinaus müssen mehr kontextsteuernde und indirekte Lernangebote gestaltet werden, die eine Veränderung der Lernkulturen ermöglichen.
Gilt dies auch für eine Universität? Ich kann mir nicht so recht vorstellen, wie an einer Uni informelles Lernen gefördert und gestaltet werden soll – da folgt man ja einem Lehrplan. Und im Anschluss: Wenn Zusammenhänge und Vernetzungen zentral sind, dann müsste ja auch die Hochschuldidaktik diese Bereiche verstärkt ausbilden?
Aus meiner Sicht gilt dies zukünftig insbesondere auch für die universitäre Ausbildung. An den Universitäten gibt es traditionell die Förderung non-formellen und informellen Lernens über z. B. studentische Initiativen oder auch über andere akademische Traditionen wie z. B. Ringvorlesungen. Die erforderlichen Absolventenprofile der Zukunft zeigen die zukünftige Bedeutung von Kompetenzen, die nicht über Studieninhalte vermittelt werden können, sondern die über Erfahrungen und deren systematischen Reflexion entwickelt werden. Aktuelle Studienreformprogramme integrieren Kompetenzentwicklungsformate wie z. B. Capstone-Projekte, in denen solche erfahrungsbasierten Entwicklungsprozesse aufgenommen werden. In Innovationsmodellen von universitärer Ausbildung (z. B. Minerva School at Keck Graduate Institut, USA) stellen informelle, erfahrungsbasierte und in diverse Kontexte immersive Elemente einen grossen Teil der Lernangebote dar.
In Bezug auf die Hochschuldidaktik ergeben sich hieraus ebenso neue Herausforderungen. Zum einen wird dies aufgegriffen in der Beschäftigung und in der Förderung von «high impact pedagogies» Diese Ansätze sind und werden entwickelt, um insbesondere das „student engagement“, d. h. die intensive Auseinandersetzung mit Lerngelegenheiten, die Identifikationsmöglichkeiten mit Programm- und Lernzielen, die Motivierung und die Aktivierung von Studierenden zu fördern. Zum anderen werden geänderte Formen von hochschuldidaktischen Formaten bedeutsamer: z. B. die stärker prozessorientierte Begleitung von innovativen Lehrprojekten oder Lehrinnovationen und stärker community- und individuell reflexiv ausgerichtete Formate wie Mentorenschaften und Innovations- und Entwicklungsforen. Ebenso werden Ansätze wie Scholarship of Teaching bedeutsamer, indem Dozierende ihre eigene Lehre erforschen und evidenzbasiert weiterentwickeln.
Es gibt also substantielle und wissenschaftlich-fundierte Ansätze, die informelles, immersives und prozessorientiertes Lernen fördern – ganz anders als die klassische Hörsaal-Didaktik. Nun gibt es ja im betrieblichen Bereich ebenfalls einige Konzepte, die in letzter Zeit rezipiert und umgesetzt wurden: z. B. 5 Moments of Needs (Mosher), das 70-20-10 Modell (Jennings), Working out Loud (Stepper), Konnektivismus (Siemens/Downes) oder – etwas älter – «Communities of Practice» (Wenger), die fünfte Disziplin (Senge) etc. Findet da ein wechselseitiger Austausch statt oder orientiert sich eine Universität nicht an solchen Konzepten?
Aus meiner Sicht gibt es diesen Austausch, weniger aber in einem direkten Transfer von Ansätzen 1:1 aus der beruflichen oder betrieblichen Praxis in die hochschulische Praxis, aber auf der Ebene der didaktischen Prinzipien-Ebene und grundlegenden Modellebene. So liegen hinter den Ansätzen von z. B. Communities of Practice, die Grundvorstellungen des situierten Lernens bzw. der situierten Kognition die für hochschuldidaktische Ansätze von z. B. research based learning oder project based learning zentral sind. An einem anderen Beispiel kann man Verbindungen auch deutlich machen: so liegt z. B. dem Konzept von Mosher in seinen 5 Moments of Needs die Grundvorstellung von transformativem Lernen zu Grunde wie sie z. B. von Illeris (2009) formuliert wurde und die in Ansätzen des wie z. B. von Gibbs oder Mezirow auch für die universitäre Bildung relevant sind. Hinter vielen Konzepten der high impact pedagogies im akademischen Kontext liegt das Grundmodell des erfahrungsbasierten Lernens. Diese Beispiele zeigen, dass es schon einen Austausch gibt, jedoch die jeweiligen Grundvorstellungen hier je kontextspezifisch und auch sehr disziplinspezifisch (z. B. in der Medizinausbildung das Primat von problem-based learning, in den MINT-Disziplinen, die starke Orientierung an experimentellem Lernen oder in den Sozialwissenschaften, die Relevanz von kritischer Reflexion) ausgeformt wird.
Was fordert Sie aktuell heraus? Mit was wollen Sie sich in den nächsten Jahren beschäftigen?
Bildungsinstitutionsübergreifend sehe ich in den folgenden Fragen die Entwicklungsarbeit in den nächsten Jahren:
- Ansätze und Werkzeuge zur Förderung vonanspruchsvollen Kompetenzen wie ethisch-reflexives Denken, verantwortungsvolle Gestaltungskompetenz.
- Unterstützung von informellem Lernen und die Verbindung zwischen formellen Lernphasen und informellem Lernen.
- Die Nutzung und Integration von KI-Systemen zur Navigation und Orientierungshilfe von Lernenden in offenen Lernumgebungen.
Das Thema KI-Systeme würde ich gerne abschliessend noch etwas vertiefen. Auch da würde es mich interessieren, ob es dazu bereits Ansätze oder Kooperationen gibt, die eingesetzt werden, um offene Lernumgebungen zu gestalten.
Die Integration und die Verbindung von KI-Systemen und Lehr-/Lernprozessen ist sicherlich ein Themenfeld, das noch zu Beginn in der Entwicklung ist. In Bezug auf das HSG Learning Center entwickeln wir derzeit einen forschungs- und entwicklungsorientierten Ansatz. In einer Kooperation zwischen Forschenden aus der Informatik zu KI-Systemen, Hochschuldidaktikerinnen und -didaktiker und wirtschaftspädagogischen Forschenden werden Potentiale, Prozesse und Pilotanwendungen aber auch eine kritische Reflexion und Grenzen erörtert und entwickelt. Im neuen HSG Learning Center wird dann voraussichtlich, mit Eröffnung 2022, die ersten Prototypen und Pilotanwendungen im Feld getestet.
Die Herausforderungen und der Forschungsbedarf ergeben sich hierzu, da die bestehenden Ansätze von Learning Analytics oder auch bereits Expertensysteme im Bereich Lehre und Lernen sich v.a. auf das formalisierte und standardisierte Lehren und Lernen beziehen und wenig bis keine Konzepte zur Nutzung in informellen Lernkontexten und offenen Lernumgebungen vorhanden sind.
Liebe Frau Dilger, ganz herzlichen Dank für die spannenden Einsichten. Wir wünschen Ihnen mit dem neuen Learning Center der Universität St. Gallen viel Erfolg.
Interview: Daniel Stoller-Schai
Quelle:
Dieses Interview erschien zuerst in dem Sammelband “10 Jahre Learning Innovation Conference – 22 Interviews”. Hrsg. von Alexander Petsch und Dr. Daniel Stoller Schai, HRM Research Institute 2019.
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