Unser heutiger Gast der Podcast-Folge HRM Hacks ist Professor Dr. Günther Koch. Er gilt zusammen mit der mittlerweile verstorbenen Ursula Schneider, vormals Professorin an der Universität Graz, als Entwickler der Wissensbilanzierung und insbesondere des Standard-Wissensbilanz-Modells. Günther Koch war unter anderem Geschäftsführer des Central European Institute of Technology und Initiator und Mitglied der High Level Expert Groups der Europäischen Kommission zum Thema Intellektuelles Kapital. 1998 bis 2003 war der Breisgauer CEO des Austrian Research Centers, heute Austrian Institute of Technology, das österreichische Pendant des Fraunhofer-Instituts. Auf Teneriffa hat er zudem die Humboldt Cosmos Multiversity ins Leben gerufen.

Dr. Günter Koch

Alexander Petsch: Günther, schön, dass Du heute bei uns bist!

00:01:40
Günther Koch: Danke für die Einladung.

00:01:42
Alexander Petsch: Die österreichischen Universitäten sind ja mittlerweile verpflichtet, ihr Wissen im Rahmen einer Wissensbilanz sichtbar und messbar zu machen. Das hat sogar Auswirkungen auf das Universitätsbudget. Was ist denn eine Wissensbilanz?

00:02:03
Günther Koch: Ja, ich kann es mir einfach machen und sagen, das ist ein Modell, was unter vielen Modellen versucht, das, was in der Fachsprache als Intellectual Capital, als Wissenskapital, sich vorstellt, in eine strukturierte Form zu bringen. Heißt, dieses Modell adressiert verschiedene Aspekte, die beim Wissens-, Erwerbs- und Kommunikationsprozess von Bedeutung sind und, und das scheint mir ganz wichtig zu sein, auch messbar sind bis hin zu Quantifizierung im monetären Sinne. Da bin ich zwar anderer Meinung, aber lange Rede, kurzer Sinn, es ist ein Modell, kombiniert mit einer Vorgehensweise, einer Methode, um eine solche Wissensbilanz zu erstellen.

00:02:55
Alexander Petsch: Mich hat vor allem begeistert, dass die Wissensbilanz auch die Grundlage oder die Möglichkeit bildet, Wissensmanagement in Organisationen besser zu verankern.

00:03:08
Günther Koch: Das ist eine gute Frage, die Du da stellst, weil das Thema Wissensmanagement hat natürlich extrem viele Schattierungen hat. Ich habe mir gerade in Vorbereitung auf dieses Gespräch ein Buch von der Kollegin Angelika Mittelmann angeschaut, die auf über 270 Seiten rund 70 verschiedene Modelle zitiert, die im Wissensmanagement notwendig sind. Das beweist auch, dass es nicht nur eine Vielzahl von Methoden gibt, sondern auch, dass die Frage, wie man an die Sache herangeht, also wie man eine Wissensbilanz macht, wie man Wissensmanagement einführt, sehr viele Ansätze hat. Und dass dementsprechend natürlich auch die Individualisierung dieser Ansätze pro Unternehmen eine durchaus spannende Frage ist, die aber gleichzeitig beantwortet, dass das nicht ein Standard im Sinne von one size fits all darstellt.

00:04:01
Alexander Petsch: Wie geht man denn da vor, wenn man das Thema Wissensmanagement über eine Wissensbilanz stärker im Unternehmen verankern und vorantreiben möchte?

00:04:11
Günther Koch: Also, meine persönliche Position ist, dass die Wissensbilanz eine Art Rahmenvorstellung oder eine Guideline gibt für jemanden, der zwar mit Wissensmanagement zu tun hat oder motiviert ist, Wissensmanagement einzuführen, aber nicht so richtig weiß, wo ist der Anfang. Die Wissensbilanz selbst als Modell ist ja eigentlich ein strategisches Werkzeug. Also, ich gehe mal davon aus, dass in einer Organisation, wo die Personalberatung erkannt hat, dass die zukünftige Wirtschaft eine Wissens-Wirtschaft sein wird, jetzt einen strukturierten Prozess auflegen möchte, wie das Ganze gestaltet werden kann. Das heißt mit anderen Worten, die Wissensbilanz ist ein Werkzeug, das sich in die Unternehmensstrategie in erster Linie einbindet. Und als solche ist es auch ein strategisches Tool. Das meine Position. Die praktischere Frage, die Du damit verbunden hast, wie mache ich das jetzt eigentlich, die beantwortet sich eigentlich daraus, dass ich innerhalb der Wissensbilanz dieses Modell, den Ankerplatz finden muss. Also im Klartext, ich habe die klassische Herangehensweise Vision-Mission-Strategy. Also die, was will das Unternehmen? Das übersetze ich natürlich auch für das Wissensmanagement. Und dann wird es spannend, weil dann kommt die Individualisierung auf die Frage: was sind die interessanten Dinge, die ich angehen muss? Und dann kommen wir auf die Prozesse im Unternehmen, wie ich Wissensmanagement entweder aufbauen oder verbessern oder umgestalten kann. Und da sind dann natürlich die typischen Kernprozesse adressiert, also da redet man nicht über alle Unternehmensprozesse, sondern nur die spezifischen Prozesse, die eben für Wissensmanagement notwendig sind. Und da ist es natürlich so, wenn man neu beginnt, dass mal die erste Frage auftaucht: wo ist denn Wissen im Unternehmen verankert? Nun kann man heutzutage sagen, nachdem die Digitalisierung sehr fortgeschritten ist, man weiß natürlich, dass es Softwaretools gibt, beispielsweise von Microsoft, SharePoint oder solche Dinge, die schon als Software quasi erzwungenermaßen Wissen aggregieren und speichern. Es gibt aber auch nach wie vor sehr viel sogenanntes tazites Wissen, also Wissen, das in den Köpfen und in den Verhaltensformen von Mitarbeitern drinsteckt, was aber nicht verschriftlicht ist, nicht dokumentiert ist, aber trotzdem eine maßgebliche Rolle zum Unternehmenserfolg beiträgt.

00:06:40
Alexander Petsch: Also Dein erster Hack wäre eigentlich, mache dich auf die Suche nach dem Wissen im Unternehmen und forsche erstmal nach, wo Wissen vorhanden ist und wo Wissen bis jetzt dokumentiert ist. Also erstmal dort anzusetzen, oder?

00:06:58
Günther Koch: Das ist natürlich, wie Du richtig sagst, insoweit einfach, als dass man da mit sehr simplen Methoden identifiziert, wo sind die Dokumente? Das ist ja eigentlich in fast jedem Unternehmen heute in Form von Handlungsanweisungen und Leitfäden in irgendeiner Form vorhanden. Selbst der Autoreparaturbetrieb hat ja bestimmte Prozesse und Vorgänge, wie er eine Autoreparatur organisiert. Das können wir schon als eine Art Wissensbasis betrachten und das sind in dem Sinne Low Hanging Fruits. Da braucht man auch nicht lang herumdiskutieren. Das gibt es. Die spannendere Frage ist, wo sitzen jetzt im Unternehmen – gehen wir mal von einem größeren Unternehmen aus – die Leute, von denen man ahnt, dass sie ein Wissen haben, aber man nicht so genau weiß, was machen wir eigentlich damit? Und es ist ja aus der Praxis bekannt, dass es durchaus auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gibt, die Wissen als ihr persönliches Gut, als ihren persönlichen Vorteil, betrachten. Weil ja Wissensreservation, also Wissensbehalt für sich selbst, ein Stück weit von den Leuten auch als eine Garantie, den eigenen Arbeitsplatz damit abzusichern, betrachtet wird. Was natürlich kontraproduktiv im Sinne des Wissensmanagements ist.

00:08:20
Alexander Petsch: Wenn ich den zweiten Tipp vielleicht nochmal zusammenfasse: also Dokumentation ist natürlich die Voraussetzung, um Wissen aggregierbar zu machen und um dann darauf aufzubauen und natürlich auch den Weg Richtung Wissensbilanz weiterzugehen. Aber das, was Du gerade zum Schluss gesagt hast, ist ja die Fragestellung, wie motiviere ich Wissensträger dazu, ihr Wissen preiszugeben?

00:08:44
Günther Koch: Ja, das ist ein delikater Punkt. Das wissen die Personaler sicherlich besser als ich. Ich komme da eher von der wissenschaftlichen Seite daher. Das hängt natürlich mit der materiellen Bewertung, sprich Gehalt oder Zusätze zum Gehalt, zusammen. Es hat natürlich aber auch mit der Stellung des Mitarbeiters im Sinne von Beruf und Unterstützung und Förderung zu tun. Also, da kommt eigentlich das ganze Instrumentarium, was der Personalberater oder, falls es konkreter wird, auch der Wissensmanager in seinem Portfolio hat, zum Tragen. Letztendlich, wenn einer in Anführungszeichen nicht will, lässt sich das aber auch markieren. Es lässt sich natürlich auch durchaus darstellen, wenn jemand sein eigenes Wissen als etwas betrachtet, was ihm oder ihr selbst gehört. Dann ist das ein  fundamentales Problem.  Ich muss ehrlich gestehen, ich wüsste auch nicht, wie man das beheben kann. Im Wissenschaftsbereich, aus dem ich komme, ist das natürlich deswegen schon ganz anders, weil der Wissenschaftler dadurch Karriere macht, indem er sich äußert, indem er das, was er weiß, zu Papier bringt in Form von Publikationen. Das ist kulturell, muss ich zugeben, eine völlig andere Situation als in vielen kompetitiven Unternehmen …

00:10:04
Alexander Petsch: … aber eigentlich in Reinkultur das, was Du als erste Punkte gesagt hast, nämlich Intensivierung und Stellung. Also von daher doch sehr vergleichbar, wenn man es herunterbricht, was ist der Trigger oder der Motivator? Wo wir gerade darüber sprechen, es erinnert mich daran, dass wir vor etwa 15 Jahren unser Wiki-System eingeführt haben. Da waren wir natürlich noch viel stärker im Start-Up-Modus und Wissen zu dokumentieren war überhaupt nicht hip und war nichts, was meine Kolleginnen und Kollegen irgendwie machen wollten. Und wir haben es damals intensiviert durch Widerstand. Ich hatte eine Kollegin, die das unbedingt machen wollte, und ich habe gesagt, ich bin voll dagegen als Geschäftsführer und unterstütze es nur dann, wenn es eine gewisse Dynamik entwickelt. Und dieser bewusste Widerstand hat zu sehr viel Druck im positiven Sinne auf der anderen Seite geführt, der mich dazu motivieren sollte, es nachher dann doch zu machen. Und so ist unser Wiki entstanden, womit wir bis heute ehrlich gesagt sehr gut klarkommen.

00:11:10
Günther Koch: Damit hast Du ja schon viel verraten, wie man das Ganze macht, auch indem Du das Wiki zitiert hast. Das ist ja auch meines Erachtens eine der besten Dokumentationsformen. Ein Wiki ist das ideale Tool, um Wissen explizit zu machen. Es geht ja immer um den Prozess, das tazite Wissen, also das Wissen, das jemand für sich erworben hat, zu übersetzen in dieses explizite Wissen. Das ist eigentlich der Trick bei der Geschichte. Und Du hast jetzt sehr schön beschrieben, wie Du als Manager das hinkriegst. Ich meine, da gibt es halt auch viele Wege, die nach Rom beziehungsweise zum Erfolg führen. Du hast das jetzt über die Widerstands-Strategie gemacht. Andere machen es vielleicht über die Verteilung von Streicheleinheiten.

00:11:57
Alexander Petsch: Lass uns doch nochmal darauf gucken, Wissen zu dokumentieren. Was sind denn die verschiedenen Kategorien von Wissen? Wer nicht so tief im Thema ist, der denkt sehr stark an strukturiertes, organisiertes, prozessorientiertes Wissen. Aber es gibt ja verschiedene Wissensarten.

00:12:23
Günther Koch: Also, das Wissensbilanz-Modell gibt da natürlich eine Stütze, indem es als Modell sagt, du musst dir drei wesentliche Kategorien von Wissenskapital oder -potentialität oder -potenzial anschauen. Das ist also zunächst einmal das Strukturwissen, was wir als Strukturkapital oder Organisationskapital betrachten. Da geht es eigentlich darum, wie ist die Organisation daraufhin aufgebaut, damit Wissensprozesse überhaupt stattfinden können? Sprich, gibt es einen Chief Knowledge Officer oder jemand, der sich ums Wissensmanagement kümmert, der intern im Organigramm platziert ist? Es geht vor dem Hintergrund der klassischen Organisationsstruktur darum, Wissensträger und Wissensprozesse darzustellen. Die zweite, und das ist ja eigentlich die Kernkategorie, die ja auch den Personaler interessiert, ist das Humankapital. Und da haben wir eigentlich eine klassische Herangehensweise. Der Verantwortliche für Humankapital wird natürlich darauf schauen, wer hat welche Erfahrung, wer hat welchen Bildungshintergrund, wer hat welche Projekte gemacht und hat darüber schon bestimmtes Wissen aggregiert? Also all die Dinge, die Personen zugeordnet werden, von denen man erwartet, dass sie zum Wohle des Unternehmens einen spezifischen Beitrag leisten. Das wird unter dem Begriff des Humankapitals zusammengefasst. Und das dritte ist eigentlich auch keine Neuigkeit, aber es ist wichtig, dass man auch sich darauf konzentriert. Das ist das Beziehungskapital.  Das ist natürlich sehr vielfältig und betrifft ja im Wesentlichen alle Stakeholder des Unternehmens,  als da sind Kapitalgeber, Lieferanten und so weiter. Und dann gibt es natürlich die zweite Hälfte. Das ist sozusagen die Hälfte, die das Unternehmen bedienen und servicieren möchte, das sind die Kunden, das sind Geschäftspartner, strategische Partner und so weiter. Das heißt mit anderen Worten, das Beziehungskapital ist ja eigentlich, wenn man es genau anschaut, die Absicherung des Unternehmens und die Begründung für seine Existenz. Weil ohne diese Beziehungen innerhalb des gesellschaftlichen und unternehmerischen Kontextes läuft ja gar nichts. Also ,wir haben die drei Kategorien, die ich jetzt nicht sehr vereinzelt dargestellt habe. Aber wenn man sich eine Strategie zur Einführung einer Wissensbilanz vornimmt, dann sind es sozusagen die drei Hauptaspekte, auf die man sich zunächst  konzentriert. Dann kommen natürlich die Prozesse, die ich schon angedeutet hatte.

00:15:15
Alexander Petsch: Welche Prozesse gibt es, um eine Wissensbilanz zu erstellen?

00:15:21
Günther Koch: Das hat zwei Aspekte. Das ist einmal die Erstellung der Wissensbilanz, sprich, wie komme ich überhaupt dahin? Da ist die Situation sehr günstig. Es gibt in Deutschland einen Arbeitskreis Wissensbilanz, akwissensbilanz.org, wenn man es nachschauen möchte im Internet, der in Zusammenarbeit mit einem deutschen Fraunhofer-Institut und unter Förderung der deutschen Bundesregierung einen Leitfaden erstellt hat. Und dieser Leitfaden und alles Zugehörige an Dokumentation ist für meinen Geschmack extrem gut ausgearbeitet. Das heißt, wenn jemand sich dem Thema Wissensbilanz widmen möchte, da hat er sozusagen frei Haus sofort eine entsprechende Anleitung, wie man das Ganze angeht. Und wie verschiedene Zugänge zu diesem Thema zu machen sind. Es gibt auch, was wichtig ist, wenn sich Unternehmen einem neuen Thema widmen, die Beschreibung und die Anleitung, wie man mit anderen, die schon viel Erfahrung haben oder die Erfahrungsaustausch betreiben, eine Plattform. Also da ist man in einer sehr günstigen Ausgangssituation.

00:16:40
Alexander Petsch: Wir waren jetzt bei den Prozessen, das ist ein sehr komplexes Thema.

00:16:46
Günther Koch: Ich habe jetzt den Prozess angesprochen, wie eine Wissensbilanz eingeführt wird. Die andere Prozessdimension ist natürlich, wie Wissensprozesse im Unternehmen dann zu organisieren sind. Es geht dann nicht mehr nur um die Frage der Wissensbilanz, die ja sozusagen den Rahmen darstellt, die Strategie liefert und die erzählt, wie Du das ganze anzugehen hast. Dann geht es ja um die Frage, jetzt habe ich mir eine Wissensbilanz vorgenommen, bin bereit, sie zu erstellen und habe damit auch eine Anleitung, wie das Ganze zu machen ist. Und jetzt kommt die Frage, wie organisiere ich die Wissensprozesse im Unternehmen? Und da kommt ein ganzes Spektrum von Methoden zum Zuge, die in Kreisen der internen Unternehmensorganisation bestens bekannt sind. Es sind Mitarbeitergespräche, Kaffeerunden, Betriebsausflüge, you name it. Alle diese Dinge konstituieren Prozesse, bei denen es ja immer darum geht, dass Wissen ausgetauscht, mitgeteilt, diskutiert und weiterentwickelt wird.

00:18:01
Alexander Petsch: Was habe ich denn davon, wenn ich all das letztlich zusammengetragen habe? Was kommt dann am Schluss raus damit?

00:18:12
Günther Koch: Das ist eine sehr gute Frage. Ich habe natürlich einen internen Nutzen. Der besteht im Wesentlichen darin, dass ein Bewusstsein im Unternehmen entsteht über die eigene Rolle des Unternehmens, die Faktoren seiner Wettbewerbsfähigkeit. Und man muss ja immer wieder sich zurückbesinnen. Es geht ja darum, dass wir in eine Welt eintreten, bei der Wissen eine ganz zentrale Rolle spielen wird. Also, das ist zunächst einmal die Ermutigung der Mitarbeiter. Es ist die Selbstfindung des Unternehmens. Wir haben sehr oft mitbekommen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dann plötzlich sagen, hoppla, jetzt weiß ich zum ersten Mal, wo ich eigentlich bin und was wir tun. Natürlich wissen die schon, dass das Unternehmen etwas produziert. Aber diese Identität des Unternehmens wird dadurch sehr stark gefördert. Der zweite große Aspekt in unserer kapitalistischen Welt ist die monetäre, sprich die finanzielle Bewertung des Wissens eines Unternehmens. Das ist jetzt kein Witz, was ich sage. Heute schauen zu über 80 Prozent, wahrscheinlich sogar zu 90 Prozent, Investoren und entsprechende Analysten, die mit Investoren zusammenarbeiten, nicht notwendigerweise nur auf die Finanzzahlen. Natürlich sind die immer noch das A und O in jedem Unternehmen. Sondern die schauen in der Bewertung der Zukunft des Unternehmens auf die sogenannten intelligiblen, also nicht an faßbaren Werten. Und da spielt natürlich das Humanpotenzial, da spielt das Wissenspotenzial die maßgebliche Rolle. Es gab in der Gründungszeit der Wissensbilanzierung eine Bank, meines Wissens in der Pfalz, die ihren Kunden gegenüber artikuliert hat, wer eine Wissensbilanz macht, bekommt bei ihnen einen Zinsvorteil. Es waren keine großen Zinsvorteile, aber immerhin hat diese Bank erklärt, wir schätzen, dass Unternehmen erkennen, dass Wissen das A und O für ihre Zukunft ist. Und sie hat das entsprechend bewertet. Im großen Stile findet das natürlich bei den Analysten und Unternehmensfinanziers eine ganz starke Bedeutung. Ich bin auch überzeugt davon, wer eine Wissensbilanz macht und über die Wissensbilanz ausweisen kann, dass er ein hohes Wissenspotenzial besitzt, der wird auch im Wettbewerb um die Finanzierung an vorderster Stelle liegen.

00:20:44
Alexander Petsch: Das fällt ja sozusagen unter dem Bereich Non-financial Reports. Aber so wie Du es beschreibst durchaus mit Potenzial auf den financial impact.

00:20:56
Günther Koch: Ja, absolut. Es ist ja auch so, wenn man jetzt schaut, wohin die Tendenz geht, da steht im Vordergrund der Diskussion die Frage einer nachhaltigen Wirtschaft. Und wenn wir jetzt die große Politik anschauen, Stichwort New Green Deal, und das herunterbricht, was bedeutet das denn? Dann wird man feststellen, dass dieser sogenannte Non-financial Aspekt eine ganz maßgebliche Rolle spielt. Und da meine ich, dass da die Wissensbilanz eigentlich auch eine Art Pilotfunktion in diesem Prozess erfüllt hat. Es war eine der frühen sogenannten Non-financial Reports. Und wenn man jetzt mal genauer hinschaut, dann stellt man fest, dass außer der Wissensbilanzierung heute natürlich komplementär die Fragen, wie in der Non-financial Berichtserstattung die Themen Nachhaltigkeit, Umweltentwicklungen, ökologisches Wirtschaften und so weiter, Eingang finden. Das ist natürlich wichtig, weil dort adressiert man ja die materielle Seite der Wirtschaft, also wo Güter produziert werden, Maschinen gebaut werden, Autos gebaut werden und so weiter. Und wir haben auf der anderen Seite natürlich als primäre Kunden der Wissensbilanzierung typischerweise Unternehmen, die Dienstleistungen produzieren, also beispielsweise Softwarehäuser, Webdesigner, Internetstrukturentwickler und so weiter. Alles, was sozusagen im weichen und unsichtbaren Bereich sich abspielt. Aber, und das wissen wir, eine ganz maßgebliche Rolle für die Wirtschaft darstellt.

00:22:33
Alexander Petsch: Wie ist das mit den Unternehmen? EU-weit über 500 Mitarbeiter?

00:22:38
Günther Koch: Ja, da gibt es ja die gesetzliche Verpflichtung durch die EU-Kommission schon seit Jahren. Die müssen einen Non-financial Report liefern, wobei die Reports bislang interessanterweise in der Entwicklung gewesen waren. Die EU-Kommission hat zwar eine Verpflichtung ausgesprochen, aber am Anfang haben sie selber nicht gewusst, nach welchen Kriterien diese Reports gemacht werden sollen. Die haben dann gerne verwiesen auf Einrichtungen, die die EU-Kommission komplettieren, als die OECD, die Weltbank, die ja alle schon über solche Sachen nachgedacht haben. Also auf gut Deutsch, zunächst einmal hat man verwiesen, schaut euch das mal an und schreibt eure Non-financial Reports nach diesen Mustern. Mittlerweile ist es so, es sind auch entsprechende Konsultationsprozesse unterwegs, dass eine Vielzahl von solchen Organisationen sich mit dieser Frage befassen, ob das jetzt die General Reporting Initiative ist oder die Internationale Arbeitsorganisation ILO in Genf. Es gibt fast keine große Organisation mehr, die nicht an diesem Diskussionsprozess teilnimmt. Und das macht natürlich die Sache ein bisschen schwierig. Übrigens gibt es in Deutschland eine interessante Initiative, die nennt sich Alliance. Die Value Balancing Alliance, angeführt in Deutschland von der BASF. Und es wird jetzt meines Erachtens spannend, was in der nächsten Phase, und ich rechne nicht damit, dass das noch länger als ein Jahr dauern wird, an Rahmengesetzgebungsvorschlägen kommen wird von der EU-Kommission. Bekanntermaßen sind die ja dann als Richtlinien zu übersetzen in lokale Gesetzgebung. Wir müssen also damit rechnen, dass diese ganze Philosophie, die von der Wissensbilanz schon mal ausgegangen ist, jetzt erweitert um die Aspekte der Nachhaltigkeitsberichterstattung, dass das einen massiven Schub geben wird, in diese Richtung etwas zu tun. Es ist jeder meines Erachtens gut beraten, sich heute schon mit der Sache zu befassen. Und natürlich stehe ich dafür, dass die Wissensbilanz, weil sie so gut durchdacht und schon so gut methodisch unterlegt ist, einen sehr guten Einstieg für das Ganze darstellt.

00:24:59
Alexander Petsch: Du hast mich eigentlich auf zwei Punkte aufmerksam gemacht: Zum einen, als wir über das Beziehungskapital gesprochen haben, dass das ganze Thema Wissenstransparenz und gerade Beziehungskapital auch eine Absicherung darstellt für ein Unternehmen oder für eine Unternehmensleitung, wichtige Wissensprozesse sozusagen transparent und absicherbar zu machen. Das finde ich einen total wichtigen und spannenden Aspekt für die Argumentation einer Personalentwicklungsabteilung oder einer Personalabteilung – ihr eigenes Gewicht sichtbar zu machen und auch ihre eigene Bedeutung nochmal viel stärker nach vorne zu bringen.

00:25:49
Günther Koch: Wie ich sagte, ich bin in dieser Welt, die du ja viel besser kennst als ich, nicht so zu Hause, dass ich mir zumuten und zutrauen würde, darüber zu argumentieren oder gar zu bewerten. Aber es ist natürlich schon so, dass ich beobachte, dass sehr viele Personalabteilungen oft reduziert werden auf die Durchführung von formalen Vorgängen, sprich, arbeitsrechtliche Dinge zu behandeln. Das Ganze also sozusagen in der bürokratischen Dimension zu bearbeiten. Und da denke ich schon, dass die Personalabteilung eine ganz neue Gewichtigkeit bekommen kann, indem sie auch diese Bewertungs- und Werteseiten des Unternehmens aufnimmt oder adressiert und sich zu eigen macht. Weil damit kann und muss sie auch beweisen, dass sie einen maßgeblichen Beitrag zum Unternehmenswert Entwicklung leistet. Weil heute wird ja hauptsächlich auf die Finanzergebnisse geschaut. Und es wird nicht darüber nachgedacht, dass diese Finanzergebnisse ihre substantielle Wertigkeit ja eigentlich in den Personen und Menschen haben, die das Unternehmen tragen. Und da bin ich schon Deiner Meinung, da müsste und kann die Personalabteilung mit so einer Methode ihre eigene Stellung enorm stärken. Man muss dabei natürlich zwei Dinge unterscheiden. Das eine ist ja Wissenssicherung über beispielsweise Patente. Das heißt also, dass du intellectual property im Sinne eines Eigentums fasst. Das ist die eine Möglichkeit, wie das auch in der Wirtschaft getan wird. Die zweite ist, und das ist für mich hochspannend als neue Entwicklung, dass man nicht die Strategie verfolgt, den Besitz an Wissen zu bewerten, sondern die Fähigkeit, dieses Wissen weiterzuentwickeln. Und das hat sehr viel zu tun mit dieser sogenannten offenen Bewegung, Open Innovation, Open Software und so weiter. Also dort geht es eigentlich gar nicht so sehr darum, dass ich Besitzansprüche anmelde an Wissen. Da geht es eigentlich tatsächlich darum, dass das Wissen weiterentwickelt werden muss. Und die Wettbewerbsfähigkeit entsteht eigentlich nicht so sehr über die Absicherung in Form von diesen Patenten, sondern über die Tatsache, dass ich in der Lage bin, sehr viel schneller zu innovieren und an der Weiterentwicklung teilzunehmen. Das sollte man sich mal im Hinterkopf behalten, weil ich den Eindruck habe, dass Finanzer zu sehr das Thema Nummer eins, also die Bewertung und Werteabsicherung, sozusagen die Handelsware Wissen, im Kopf haben. Es geht aber am Ende des Tages gar nicht so sehr darum, dass das geschütztes Wissen ist, sondern es geht darum, wie dieses vorhandene Wissen so weiterentwickelt werden kann, dass man sich im Wettbewerb eine Vorteilsstellung über die Geschwindigkeit erschaffen kann.

00:28:50
Alexander Petsch: In unserem Gespräch ging mir auch Dave Ulrich, einer der Vorreiter für viele HR-Themen aus den USA, durch den Kopf, der ja jahrzehntelang immer The Seat at the Table für HR im Kreise der Geschäftsführung gefordert hat. Und ich glaube, die Annäherung an das Thema Wissen und Wissensbilanz ist auf jeden Fall ein exzellenter Treiber, um diese Position Seat at the Table strategisch voranzubringen.

00:29:20
Günther Koch: Ich kann das eigentlich nur unterstreichen, obwohl ich hier sehr gerne wortreich über die Dinge rede. Aber da kann ich nur einen großen Haken dahinter setzen, was Du gesagt hast.

00:29:32
Alexander Petsch: Ja, lieber Günter, also erst einmal herzlichen Dank für Deine Insights. Du hat Dich ja jahrzehntelang mit dem Thema beschäftigt. Das war eine sehr spannende Diskussion, hat mich sehr inspiriert. Ich freue mich, wenn es Euch als Zuhörern auch gefallen hat. Ihr findet eine Zusammenfassung dieses Podcasts unter hrm.de, einfach Günther Koch in die Suche eingeben. Oder unter podcast.hrm.de. Wenn es Euch gefallen hat, wir freuen uns auf Euer Feedback! Abonniert unseren Podcast oder gibt uns eine gute Bewertung ab. Lieber Günther, nochmal herzlichen Dank für Deine Tipps und für Deinen Input!

00:30:12
Günther Koch: Ich danke, dass ich da dran teilnehmen durfte. Ich finde es immer wieder spannend über Themen zu reden, die ich eigentlich für mich schon längst so verbucht hatte, als müssten die gängig sein. Die Wissensbilanz ist ja von mir und einer Kollegin 1997 angezettelt worden, 1998 erstmals ausprobiert worden und 2000 zum ersten Mal auf einer internationalen Konferenz vorgestellt worden.  Sie befindet sich so gesehen im Erwachsenenalter von 21 Jahren. Jetzt könnte man sagen, in unserer schnelllebigen Zeit ist das eigentlich schon ein ein Greisenalter. Ich sehe es aber eigentlich anders. Ich habe mit meinem Kollegen, dem schwedischen Vordenker Leif Edvinsson, der eigentlich vor mir schon das Ganze begonnen hat, feststellen können, dass witziger Weise in diesen Tagen das Thema wieder in neuem Gewand daherkommt. Wir haben gerade festgestellt, wir sollten eigentlich unsere Ideen, die wir schon vor so langer Zeit geboren hatten, noch einmal neu auflegen. Und ich denke, lieber Alexander Petsch, Du bist der Beste, der so etwas hinbekommen kann. Ich wünsche Dir und Deiner Firma dabei das Allerbeste.

00:31:34
Alexander Petsch: Lieber Günther, herzlichen Dank. Leif Edvinsson ist natürlich auch jemand, den ich sehr schätze und immer auch ein sehr inspirierender Gesprächspartner und ein unglaublich smarter und sympathischer Mensch. Ja, also danke fürs Zuhören, Glück auf und bleibt gesund.

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