Menschen fürchten nichts so sehr wie den Kontrollverlust. Was bedeutet das für Krisenzeiten? Und welche Rollen sollten Führungskräfte in Krisen einnehmen?

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Foto: Jametlene Reskp, Unsplash

Das Wesen von Krisen

Kontrolle ist ein zentrales menschliches Bedürfnis. Unsere ganze Entwicklung ist davon geprägt, zwischen der Kontrolle der eigenen Kompetenzen und der Umwelt einerseits und der Anpassung und Weiterentwicklung andererseits zu pendeln. Das spiegelt sich auch in Unternehmen wider. In normalen Zeiten versuchen wir, die Zukunft zu kontrollieren, indem wir Produkte oder Fortbildungen planen, entwickeln und umsetzen. Dann passiert etwas Unerwartetes. Kunden haben Änderungswünsche, ein Produkt läuft nicht wie erwartet, ein Kollege kündigt oder eine Kollegin geht in Mutterschutz. Das Planwirtschaftliche mischt sich mit agilem Denken. „Business as usual“ wie es so schön heißt.

In Krisen sieht das anders aus. Denn Krisen führen nicht nur zu Anpassungen, sondern zu allumfassenden Veränderungen –  und damit, wie in der aktuellen Pandemie, zu Ohnmacht und Kontrollverlust. Es macht einen Unterschied, ob ein Kollege in einem kleinen Team in Elternpause geht und das Team dies auffangen muss oder ob ein Unternehmen beinahe die gesamte Belegschaft ins Homeoffice schickt. Der erste Fall lässt sich mit bekannten Strategien wie Mehrarbeit oder einer kurzfristigen Neueinstellung auffangen. Der zweite Fall erfordert komplett neue Wege, da Krisen häufig einher gehen mit widersprüchlichen Anforderungen und einem Verlust von Ressourcen und Routinen: Die Mitarbeitenden sollen gute Arbeit leisten, jedoch unter Bedingungen, die sie bislang noch nicht kannten.

Der Umgang mit Kontrollverlust

In Krisen sollten Führungskräfte als erstes akzeptieren, dass es so ist, wie es ist. Krisen lassen sich nicht kontrollieren. Unser Umfeld können wir zwar leicht beeinflussen. Kontrollieren können wir aber nur uns selbst, unseren Ärger, unsere Frustration oder unsere Angst vor einem Scheitern. In negativen Emotionen zu verharren, ist grundsätzlich ein schlechter Ratgeber. Denn daraus entstehen keine kreativen Ideen. Die Akzeptanz einer Situation, auf die ich wenig Einfluss habe, kann jedoch helfen, vorbildhaft mit Krisen umzugehen.

Dabei stellt sich auch die Frage, wovor Führungskräfte Angst haben, wenn sie die Kontrolle verlieren. Sie könnten Angst davor haben, dass sie nicht ihrem Bild als Macher oder Macherin im Team entsprechen, wenn sie auf komplett unerwartete Krisen keine Antwort wissen. In der Tat sollten Führungskräfte souveräner mit Krisen umgehen als ihre Mitarbeitenden. Souverän kann jedoch auch bedeuten, zuzugeben, dass sie nicht wissen können, ob der eingeschlagene Weg der richtige ist, weil sich das erst im Laufe der Zeit herausstellen wird.

Führungskräften geht es damit ähnlich wie mir als Mediator: Ich weiß nicht, welches Ziel meine Medianden erreichen werden. Werden sie sich scheiden lassen? Oder neu verlieben? Wird ein Mitarbeiter kündigen? Oder werden zwei Streitende sich versöhnen? Dennoch muss ich die Zuversicht ausstrahlen, dass ein wünschenswertes Ziel erreicht wird, wenn die Medianden sich aufeinander einlassen, sich gegenseitig zuhören und versuchen, sich zu verstehen. Selbst wenn sie am Ende kein perfektes Ziel erreichen, fühlt es sich immer noch besser an, es versucht zu haben, als von Beginn an aufzugeben.

In Krisen gilt es daher, Entscheidungen zu treffen, ohne zu wissen, ob diese Entscheidung in der Zukunft sinnvoll sein wird. Als Vergleich ist die Situation eines Torwarts beim Elfmeter hilfreich. Er kann nach links oder rechts springen oder stehen bleiben. Doch selbst wenn er stehen bleibt, sollte er einen Sprung vortäuschen. Er muss sich also bewusst für eine der drei Möglichkeiten entscheiden, um von seinem Gegenüber ebenso eine Entscheidung zu provozieren. Verharrt er ohne eine Regung in der Mitte, gibt er jegliche Handlungskontrolle ab. Und selbst, wenn er sich für die falsche Seite entschied, kann er sich nichts vorwerfen. Er hat es immerhin versucht.

Das soll nun kein Freifahrschein für puren Aktionismus sein. Führungskräfte sollten jedoch lernen, sich gerade in Krisen auch auf 80-prozentig ausgegorene Entscheidungen und auf ihr Bauchgefühl einzulassen.

Die Aufgaben einer Führungskraft

Um seine Handlungskontrolle zu erhalten, ist es hilfreich, sich die Erwartungen der Mitarbeitenden bewusst zu machen. Was also sollte eine Führungskraft leisten – insbesondere in Krisenzeiten?

Mitarbeitende beruhigen: Manche Mitarbeitende reagieren in Krisen gelassen, andere haben Angst. Dies kann mit einer drohenden Kündigung, Kurzarbeit oder familiären Fragen zu tun haben. Führungskräfte sollten besonders in Krisen empathisch sein und gleichzeitig bei irrationalen Bedenken gegensteuern.

Orientierung bieten: Unsichere Mitarbeitende suchen vor allem in Krisen nach einer Orientierung. Die Geschäftsleitung hat jedoch meist andere Sorgen als sich um ihre Mitarbeitenden zu kümmern. Schnell entstehen Gerüchte, dass „die da oben schon wissen, was los ist, uns jedoch nichts davon sagen“. Eine echte Orientierung muss daher von den unteren bis mittleren Führungskräften ausgehen, auch wenn eine Orientierung in Krisen sehr schwierig ist, da Führungskräfte oftmals selbst nicht genau wissen, wo die Reise hingeht. Andernfalls wäre es keine Krise. Hier geht es also um das berühmte „Fahren auf Sicht“.

Informationsweitergabe: Führungskräfte sorgen dafür, die Informationen von oben nach unten weiterzugeben. Häufig sind die Informationen in den Augen der Mitarbeitenden unzureichend oder unverständlich. Das erfordert Erläuterungen der Hintergründe.

Mitarbeiter fördern: Überforderte Mitarbeitende brauchen nicht nur einen emotionalen Beistand, sondern oft auch fachliche Hilfe, beispielsweise bei der Technik im Homeoffice, um wieder ein Kontrollgefühl zu bekommen. Hier zeigt sich eine wichtige Maxime in Krisen: Emotionen wie Ängste oder Wut können wir lediglich verstehen. Fachliche Probleme können wir lösen. Ich sollte mich also darauf konzentrieren, was möglich ist.

Konflikte schlichten: Krisen führen zu Verwerfungen. Während manche Angst haben, blühen andere auf. In Krisen bauen wir meist bürokratische Hürden ab, was Optimisten kreativ nutzen. Die Unsicheren verlieren in der Krise aber Sicherheit, Gewissheit und Routinen. Loyale Mitarbeitende opfern sich in der Krise auf, während andere kaum Verantwortung übernehmen. Zwischen solchen Lagern entstehen Konflikte, die es auszubalancieren gilt. Oft zeigen sich diese Reibungen während der Krise nicht, weil wir damit beschäftigt sind, die Situation zu meistern. Im Anschluss jedoch brechen die Gräben umso mehr auf. Verletzungen und Ungerechtigkeiten vergessen wir nicht so einfach. Auch hier ist die Führungskräft gefragt, zu vermitteln.

Vertrauen in die Zukunft haben: In der akuten Krisensituation sollte eine Führungskraft Horrorszenarien einen positiven Ausblick entgegen setzen und dennoch realistisch bleiben. Auch sie weiß schließlich nicht, wie die Krise verläuft. Sie kann jedoch immer darauf verweisen, dass ein guter Zusammenhalt selbst die schlimmste Krise leichter bewältigen lässt als egoistische Alleingänge.

Von diesen Aufgaben lassen sich sechs zentrale Rollen einer Führungskraft in Krisen ableiten:

Vorbild: Führungskräfte sollten das Vertrauen in die Zukunft des Unternehmens und der Mitarbeitenden nicht verlieren – und diese Haltung als optimistisches Vorbild vorleben.

Autorität: Die Führungskraft als Autorität beruhigt und bietet Orientierung. Als Führungskraft lebe ich Autorität vor, indem ich mutige Entscheidungen treffe, die auch mal falsch sein können. Ich muss es aber aushalten, mich gegebenenfalls dem Groll meiner Mitarbeitenden auszusetzen.

Dolmetscher: Die Führungskraft als Dolmetscher muss die Informationen der Geschäftsleitung für die Mitarbeitenden so aufbereiten, dass diese den Sinn dahinter verstehen.

Coach: Überforderte Mitarbeitende brauchen einen Coach, der in der Krise ihre negativen Emotionen versteht und sie fachlich anleitet. Als Coach kann die Führungskraft ihren Mitarbeitenden auch signalisieren, dass sie ihnen jederzeit Rückendeckung gibt, wenn sie Neues ausprobieren. Gerade dann, wenn eingefahrene Wege nicht mehr begehbar sind, müssen Führungskräfte zum Improvisieren ermutigen.

Talentscout: Manche Mitarbeitende wachsen während einer Krise über sich hinaus, weil es plötzlich wichtig ist, kreative Lösungen jenseits bürokratischer Bestimmungen zu finden. Um dem Rechnung zu tragen und die Mutigen und Innovativen nach Krisen nicht zurück zu stutzen, braucht es Führungskräfte als Talentscouts. Krisen lassen sich auch als kostenlose Assessment-Center betrachten. Leider wollen viele Unternehmen nach Krisenzeiten möglichst schnell zurück in den alten Normalmodus. Damit verprellen sie jedoch ihre kreativsten und stressresistentesten Köpfe.

Vermittler: Kommt es zu Verwerfungen, braucht es einen Vermittler, um Konflikte während und nach der Krise wieder zusammenzuführen.

Fazit

Das chinesische Schriftzeichen für Krise beinhaltet zwei Silben, die einzeln gelesen die Worte Gefahr und Chance bedeuten. Natürlich bergen Krisen ein Risiko für Führungskräfte: Sie könnten versagen und damit auch nach der Krise die Gefolgschaft ihrer Leute verlieren. Sie können aber auch an Krisen persönlich wachsen und neue, tiefere Verbindungen zu ihren Mitarbeitenden aufbauen. Das größte Wachstum besteht jedoch nicht darin, Krisen fehlerfrei zu meistern, sondern darin, mit den eigenen Unsicherheiten erwachsen umzugehen, um Mitarbeitenden ein reifes Vorbild im Umgang mit schwierigen Situationen zu bieten.

Literaturtipp

Die Führungskraft als Krisenmanager: Wie Führungskräfte in turbulenten Zeiten Orientierung bieten, Konflikte schlichten und Mitarbeiter begleiten. Von Michael Hübler. Metropolitan Verlag 2020.