Peter S., verheirateter Familienvater, hat viel verloren: Zuerst seinen Job als Vertriebsleiter für einen namhaften deutschen Getränkehersteller in Frankreich nach 15-jähriger Betriebszugehörigkeit, dann seinen Anspruch auf Arbeitslosengeld und zu guter Letzt eine voraussichtliche Rentenzahlung von 180.000 Euro. Der Grund: Sein Arbeitgeber hatte die Entsendung nach Frankreich falsch beziehungsweise gar nicht geregelt.

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Foto von Luca Bravo

Doch von vorne: 1996 vertraute der deutscher Getränkeproduzent Peter S. die Position des Vertriebsleiters für Frankreich an – eine Tätigkeit, die der Deutsch-Franzose gerne annahm. Er verlagerte seinen Wohnsitz und Lebensmittelpunkt nach Bordeaux, wo er fortan für die Gesellschaft seine Arbeit verrichtete. Er blieb weiterhin in Deutschland weisungsgebunden und bezog sein Gehalt von der deutschen Niederlassung. Das Unternehmen führte scheinbar ordnungsgemäß Sozialversicherungsbeiträge in Deutschland ab. Es war als wäre Peter S. weiterhin in Deutschland angestellt – bis zum Zeitpunkt als er im Mai 2010 nach 15 Jahren den Getränkehersteller verließ.

Etwas merkwürdig kam es S. über die Jahre schon vor, dass er – wohnhaft und tätig in Frankreich – weiterhin in das deutsche Sozialversicherungssystem einzahlte. Doch die Personalabteilung beschwichtigte ihn auf seine Zweifel hin jedes Mal und sagte, es habe alles seine Ordnung. S. vertraute seiner Firma, denn das Unternehmen hat eine eigene Exportabteilung und die Personalabteilung verfügte demzufolge Erfahrung mit Auslandseinsätzen.

MISSACHTUNG BESTEHENDER VERORDNUNG

Sein Vertrauen erwies sich als fataler Fehler, wie Peter S. feststellte, als er nach seiner betriebsbedingten Kündigung das erste Mal bei der Bundesagentur für Arbeit vorsprach, um Arbeitslosengeld zu beantragen. Er sei die ganze Zeit in Frankreich beschäftigt gewesen, habe dort seinen Lebensmittelpunkt, deshalb bestehe in Deutschland kein Anspruch auf Arbeitslosengeld. Er könne es allenfalls bei den französischen Behörden versuchen, sagte man ihm dort. Das tat Peter S. – allerdings ebenso erfolglos. Die Sozialversicherungsbeiträge seien in Deutschland abgeführt worden, von dort habe er auch sein Gehalt bezogen, demnach sei er also die ganze Zeit als deutscher Angestellter geführt worden. Damit ist der Anspruch auf französisches Arbeitslosengeld verwirkt.

Peter S. erläuterte der Personalabteilung seines Arbeitgebers das Dilemma, die ihn jedoch vertröstete. Peter S. beginnt zu recherchieren und findet heraus, dass er eigentlich in Frankreich zu den lokalen Regeln hätte angestellt werden müssen. Denn laut der damals geltenden EWG-Verordnung Nr. 1408/71 (heute Artikel 16 EU-Verordnung 883/2004) gilt bei einer Beschäftigung in einem anderen EU-Staat das so genannte Territorialitätsprinzip. Das bedeutet: In der Regel werden grundsätzlich die Rechtsvorschriften desjenigen Staates angewandt, in dem auch tatsächlich die Beschäftigung ausgeübt wird. Bei Peter S. war das Frankreich und nicht Deutschland. Sein Arbeitgeber hätte ihn also vor Ort anstellen und dementsprechend Sozialversicherungsbeiträge an das französische System abführen müssen.

ENTSENDUNG INNERHALB DER EU

1. Der Arbeitnehmer muss sich auf Weisung seines Arbeitgebers ins Ausland begeben, um dort für ihn eine Tätigkeit zu erbringen.

2. Das inländische Beschäftigungsverhältnis muss fortbestehen (Indikatoren: Weisungsbefugnis, bestehender Arbeitsvertrag, Gehaltsbelastung bei der entsendenden Firma).

3. Die Entsendung muss infolge der Eigenart der Beschäftigung oder vertraglich im Voraus zeitlich auf 24 Monate begrenzt sein.

4. Der zu entsendende Mitarbeiter darf keinen anderen Mitarbeiter ablösen, bei dem die Entsendefrist abgelaufen ist.

KRITERIEN FÜR EINE AUSNAHMEVEREINBARUNG EU

Arbeitnehmer und Arbeitgeber stellen gemeinsam einen begründeten Antrag für den Verbleib des Arbeitnehmers in der deutschen Sozialversicherung. Die Entsendung ist von Vornherein zeitlich befristet.

und

Während der Beschäftigung des Arbeitnehmers besteht eine arbeitsrechtliche Bindung (zum Beispiel in Form eines aktiven oder u.U. auch ruhenden Arbeitsverhältnisses) zum Arbeitgeber in Deutschland fort.

FIRMA HÄTTE VOR ORT VERSICHERN MÜSSEN

Wenn es ihn weiterhin im deutschen System hätte belassen wollen, so wäre dies nur über eine Entsendung unter Ausstrahlung der deutschen Sozialversicherungspflicht oder durch eine Ausnahmevereinbarung möglich gewesen (siehe Infokasten). Rückblickend betrachtet wäre jedoch keine der beiden Möglichkeiten in Frage gekommen. „Eine Entsendung innerhalb der EU musste zu dem Zeitpunkt auf 12 Monate zeitlich befristet sein und konnte maximal um weitere 12 Monate verlängert werden. Der Auslandseinsatz von Herrn S. war jedoch für eine längere Dauer geplant“, weiß Elisabeth Altmann vom Bund der Auslands-Erwerbstätigen (BDAE) e.V., die S. bei Klärung seines Falles unterstütze.

Ein Antrag auf Ausnahmevereinbarung bei der Deutschen Verbindungsstelle DVKA und dem französischen Pendant CLEISS kam auch nicht in Frage. Diese Ausnahmeregelung ist eine Abweichung vom Territorialitätsprinzip und sorgt dafür, dass bei der Auslandstätigkeit eines Mitarbeiters weiterhin die deutschen Rechtsvorschriften gelten. Ein Schlüsselkriterium für die Durchsetzung der Ausnahme ist allerdings die zeitliche Befristung des Auslandseinsatzes. „Für Frankreich werden Ausnahmevereinbarungen erfahrungsgemäß für einen Zeitraum von maximal fünf bis sechs Jahren geschlossen“, so Altmann vom BDAE e.V.

Bei nicht befristeten Arbeitsverträgen, wie Peter S einen hatte, ist eine Ausnahmevereinbarung schlicht nicht möglich. Zudem hatte der Deutsch-Franzose seinen Lebensmittelpunkt eindeutig nach Frankreich verlegt, wo er mit seiner gesamten Familie seit etlichen Jahren wohnt. Auch das ist ein Kriterium, das eine Ausnahmeregelung ausschließt. Kurzum: Der deutsche Getränkehersteller hätte seinen Mitarbeiter von Anfang an in das französische Sozialversicherungssystem eingliedern müssen und trägt somit die Verantwortung für die finanziellen Einbußen, die sein Auslandsmitarbeiter nun in Kauf nehmen muss. Tatsächlich versuchte das Unternehmen nachträglich eine entsprechende Vereinbarung durchzusetzen – ein Versuch, der den Sinn dieser Formalität konterkariert. Denn Ausnahmevereinbarungen werden grundsätzlich für in der Zukunft liegende Auslandseinsätze getroffen.

HALBE-MILLIONEN-EURO-KLAGE GEGEN ARBEITGEBER

Seit mehr als einem Jahr führt Peter S. einen Prozess gegen seinen Ex-Arbeitgeber. Sein Ziel: Das Unternehmen für sein Versagen bei der Entsendung in Regress zu nehmen. Zum einen verlangt der geprellte Ex-Mitarbeiter einen Ausgleich für die Zeit der Arbeitslosigkeit, in der er keine staatliche Hilfe bekam. Selbst der Anwalt seines Arbeitgebers riet dazu, alle Mitarbeiter im Ausland und Peter S. lokal anzustellen und Beiträge in das jeweilige System abzuführen, damit wenigstens vor Ort im Fall der Fälle – wie damals bei Peter S. – ein Anspruch auf Arbeitslosengeld und andere Sozialleistungen besteht.

Wäre er regulär in Frankreich angestellt gewesen, hätte er mit 62 in Rente gehen können, in Deutschland erst mit 67. Zudem hätte er Anspruch auf eine in Frankreich übliche Zusatzrente für Führungskräfte gehabt, die in seinem Fall insgesamt 180.000 Euro beträgt. Auch seine Abfindung wäre höher gewesen.

Insgesamt klagt er nun mit Hilfe seines Anwalts einen finanziellen Schaden von 500.000 Euro bei seinem ehemaligen Betrieb ein. Peter S. glaubt, dass hinter seiner falsch geregelten Entsendung Vorsatz seitens des Unternehmens steht. Denn dieses sparte monatlich rund 1.200 Euro, weil es ihn weiterhin als deutschen Angestellten führte. In Frankreich hätte der Getränkeproduzent höhere Sozialversicherungsbeiträge zahlen müssen.

„Es ist schwer zu sagen, inwieweit bei solchen Fällen von Vorsatz die Rede sein kann“, sagt Entsende-Expertin Altmann. Ihrer Erfahrung nach wickelt noch heute rund jedes dritte Unternehmen in Deutschland Mitarbeiterentsendungen ins Ausland fehlerhaft ab. Dabei könne man der Personalabteilung nicht immer zwingend einen Vorwurf machen: „Personalleiter müssen vielfach in Windeseile strategische Entscheidungen des Managements umsetzen. Da passieren leicht Fehler“, resümiert Altmann. Es sei daher umso wichtiger, sich externen Rat zu holen.

Sollte Peter S. vor Gericht Recht bekommen, käme der Firma ihr Sparzwang jedenfalls teuer zu stehen. Die Chancen stehen nicht schlecht für ihn, denn in Frankreich sind zwei ähnlich gelagerte Fälle vor Gericht gekommen. Die Billig-Fluglinien Ryanair und Easyjet werden ebenfalls von Mitarbeitern verklagt, die für eine unbefristete Dauer in Frankreich lebten und arbeiteten, aber in ihrem Heimatland Sozialversicherungsbeiträge abführten.