Alternative Zugänge: Miller, Stettbacher,
Kast und Frankl

people doing office works
Foto von Alex Kotliarskyi

Was aber wären denn alternative Methoden? Sie finden sich in den Bestseller-Werken der Psychotherapeutin und Beststeller-Autorin Verena Kast, des Wiener Begründers der Logotherapie Viktor E. Frankl und der Schweizer Psychoanalytiker Alice Miller und Konrad Stettbacher. Sie haben zum Teil das Konzentrationslager erlebt, sie haben sich mit Menschen auseinandergesetzt, die am dritten Reich zerbrochen sind und sie haben sich mit Menschen befasst, die nach Sinn und Lebenskraft fragen. Sie hatten schwere Steine zu bewegen. Das begründet die Wesentlichkeit ihrer Arbeiten.

Ihre, in der breiten Leserschaft äußerst erfolgreichen Ratgeberbücher und Arbeiten legen offen, dass geboren werden, aufwachsen, seinen Platz im Leben finden und diesen gestalten grundsätzlich vielen Gefahren und Nöten ausgesetzt ist. Wer nicht begreift, was das Leben ist und aus seinem Unverständnis heraus Arbeit, Identität und Gesellschaftsbildung versteht, der wird oft nur an der Oberfläche der Umstände kratzen; so gut er meint, was er meint.

Um die Wahrheiten des Lebens führt keine noch so toll gestaltete Ausrede, kein noch ausgeklügeltes Konzept und keine noch so breit geteilte Ideologie herum. Regen lässt sich nicht abschalten, aber es lassen sich Regenschirme erfinden. Und wer das Leben aus diesen Gründen nur mechanistisch versteht, der wird auch nur den Kopf der Menschen, aber nicht ihren Kopf und ihr Herz zugleich ansprechen.

Nehmen das Mechanistische, Unpersönliche und rein Funktionale unter maximalen Druck auf das Lebenssystem überhand – im Job, in der Familie, unter Freunden und so weiter – so reagieren Menschen mit Angst, Depression, Orientierungs- und Kraftlosigkeit sowie Verwirrung. Systemische Schieflagen sind keine steinernen Gesetztafeln. Die Gesellschaft korrigiert sich immer wieder: Die Atombewegung schaltet inzwischen Meiler ab. Immer mehr Schulen machen aus den Göttern am Pult Lernberater. Und so weiter. Die Lanze, die es im Arbeits- und Gesundheitsschutz zu brechen gilt, heißt: Mehr Methodenmix und das Bewusstsein, dass Mitarbeiter zur Unkonventionalität angeleitet werden müssten.

Verena Kast bringt den Hintergrund dazu und die Notwendigkeit zum Unkonventionellen in ihrem Sammelband „Lass dich nicht leben – lebe!“ so auf den Punkt; und es lässt sich auf den Unternehmenskontext übertragen:

Die Notwendigkeit von Autonomie und Beziehung >>
„Wir Menschen leben in einem Widerspruch: Wir wollen Autonomie und Abhängigkeit, wir brauchen Autonomie und Beziehung. Deshalb haben wir immer dieses Problem, dass wir verpflichtet sind, ein eigenes Selbst zu haben, aber auch in Beziehung zu einem oder mehreren anderen selbst stehen zu wollen, ein soziales Wir.“

Die Krise als schöpferischer Prozess >>
„Der schöpferische Prozess wird durch ein Problem ausgelöst, das mit herkömmlichen Mitteln nicht zu lösen ist, das der betreffende Mensch unbedingt lösen will. Zunächst wird dann Material im Umfeld des Problems gesammelt, in der Hoffnung, doch noch eine konventionelle Lösung zu finden.“

Da starke Veränderungen eben auch vom Menschen fordern, an der eigenen Identität zu arbeiten, neue Themen anzunehmen und anderes dafür loszulassen, so Kast, müsse der Betroffene zum Teil mit seinem Unbewussten arbeiten. Die Psychologin nennt Träume, starke Emotionen und Visionen als Beispiele. Mit anderen Worten: Die Kraft der menschlichen Seele entfesselt sich und ordnet und Persönlichkeitsanteile neu, in einem schöpferischen Findungsprozess, der für den Sich-Findenden eine Reise ins Unbekannte bedeutet.

Im Unternehmenskontext stellt sich natürlich die Frage, wie Aufgaben und Job so gestaltet werden können, dass derartige Ordnungsprozesse in den Leitplanken eines Projektes passieren können, ohne den Betroffenen zu erdrücken oder speziell formen zu wollen. An dieser Stelle bilden die Rahmenempfehlungen von Verbänden und Gewerkschaften gute Stützen.

Die Antwort auf die Transformation?
Angst, Manie & Depression

Das aktuell erschienene Monitoring des Robert Koch Institutes hat mehrere Umfrageergebnisse und amtliche Gesundheitsdaten aus dem Jahresverlauf 1998 bis 2014 kombiniert, um den Status der Erwachsenengesundheit in Deutschland zu ermitteln. Und zwar vor dem Hintergrund der vom Institut wahrgenommenen gesellschaftlichen Anforderungen an die Bürger. Das Institut beschreibt diese in prägnant technischer Weise:

>> Koexistenz von „Industrie-, Dienstleistungs-
     und Wissensgesellschaft“,
>> Mentale Leistungen seien „essentiell“, wobei
     „emotional“ neben „kognitiv“ als
     Mentalleistung gilt; was aus Hirnforschungssicht falsch ist
>> Stetiger Wandel der Arbeits- und Sozialwelt
>> Anpassungsleistungen seien laufend nötig. Diese bestünden laut Institut im „Lebenslangen Lernen“ 
     sowie „in sozialen, kommunikativen sowie emotionalen Adaptionsprozessen“.
     Der Begriff „Adaption“ 
ist nicht näher erklärt. 
>> Die Quote der psychischen Störungen steige in den Diagnosestatistiken. 


Die psychischen Störungen werden im Report unterteilt in affektive, somatische, psychotische, Zwangs-, Angst- und sonstige Störungen. Unter den spezifisch benannten Störungen liegen die Angststörungen auf Platz eins (Frauen: 21,3% | Männer: 9,3% | Gesamt: 30,6%) und affektive Störungen wie zum Beispiel Depression oder Manie auf Platz 3 (Frauen: 12,4% | Männer: 6,1% | Gesamt: 18,5%).

Zum Burnout-Syndrom hält sich das Institut zurück, es verweist darauf, dass es für dieses Syndrom keine allgemein akzeptierten diagnostischen Kriterien gibt; die Diagnose liege allein im Ermessen des jeweiligen behandelnden Arztes. Im Report-Endergebnis verweisen die Autoren aber darauf, dass Ärzte bei geringem Sozialstatus eines Patienten häufiger Depressionen und bei Personen mit höherem Sozialstatus einen Burn-out diagnostizieren. Bei starkem Stress werden häufig affektive und somatische Störungen ausgelöst. Dass Frauen in allen Altersgruppen mehr als Männer aus dem psychischen Gleichgewicht kippen, schreibt der Report den Betroffenen offenbar selbst zu; das stützt eine kritische Beobachtung, die Thomas Sattelberger im Rahmen der Frauenquote gemacht hat und in seiner Autobiographie beschreibt: Während die Gesellschaft Männern bescheinigt, an der Welt scheitern, heißt es, Frauen würden persönlich versagen; oder in der Sprache des Reports formuliert „ Frauen haben eine höhere subjektive Belastung“. Bedacht werden muss an dieser Stelle, dass Männer weit weniger als Damen Ängste und Probleme eingestehen, das sollte im Umgang mit Frauen- und Männerquoten berücksichtigt werden.  

Die Themen der Klassiker neu aufnehmen

Welche Impulse können die Klassiker Mitarbeitern liefern, damit diese Zugänge zu ihren Kraftquellen finden? Wir stellen einige mögliche Schlagworte vor: 


Verena Kast. Schweizer Psychotherapeutin. ->

Mit Trauer umgehen | Opfer- und Täterverhalten identifizieren
und reflektieren | Fremdes annehmen | Schöpferische Kräfte in der Krise wecken |
Mit Symbolen Lebensthemen erarbeiten | Komplexe auflösen

Viktor E. Frankl. Österreichischer Psychiater. ->
Humorvolle Selbstdistanzierung | Sinnfragen stellen und lösen | paradoxe Intentionen
im eigenen Denken entdecken | Leiden als Lebensinhalt annehmen

Konrad Stettbacher. Schweizer Psychotherapeut. ->
Kindheitsverletzungen finden und würdigend ausheilen | Selbstfürsorge lernen |
Selbstverantwortungsbewusstsein für Heilung stärken | Ängste überwinden

Alice Miller. Schweizer Psychoanalytikerin. ->
Berufswahl vor dem Hintergrund kindlicher Verletzungen verstehen | Das
ungelebte Leben leben | Hierarchiegeprägte Fremdbestimmungen auflösen |
“Du sollst nicht merken” – Verschleierungstaktiken abwehren, selbst klar werden 

Wer diesen Schlagworten nachgeht, verlässt unweigerlich das mechanistische Weltbild der Anpassungsstörungen, Fitnesstipps und technologisch geprägten Angstinterventionen. Er führt sich selbst zurück zum Leben, denn in dem muss er mit seiner Identität Mut, Kraft und Selbstsicherheit entwickeln. Er wird eine andere Einstellung zu Angst, Krise, Druck und Existenzangst entwickeln. Klassiker lesen lohnt sich wieder. Wider das Halbwissen und Gesundheit als bloßes Konsumgut.

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Fotos Copyright:
Marion Gonnermann | pixelio.de (1) | luise | pixelio.de (2)

Arbeitnehmer: Multitasking in der Dauerschleife
und Ego-Kultur erschöpfen


Der letzte Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin für das Jahr 2012 zeigt exemplarisch, was insbesondere Arbeitnehmer bedrückt. Die Daten wurden mittels einer telefonischen, computerunterstützten Befragung durch TNS Infratest Sozialforschung bei rund 20.000 Erwerbstätigen in Deutschland in der Zeit von Oktober 2011 bis März 2012 erhoben. Befragt wurden erwerbstätige Personen ab 15 Jahren mit einer bezahlten Tätigkeit von mindestens zehn Stunden pro Woche mit ausreichenden Deutschkenntnissen. In die Analysen gingen die Aussagen von 17.562 abhängig Beschäftigten der Stichprobe ein. Auf Platz eins der größten psychischen Stressoren liegt im Ergebnis

… Multitasking (58 Prozent), gefolgt von
… starkem Termin- und Leistungsdruck (52 %),
… ständig wiederkehrenden Arbeitsvorgängen (50 %) und
… Störungen und Unterbrechungen bei der Arbeit (44 %).

Von den Beschäftigten, die angeben, körperlich und emotional erschöpft zu sein, arbeiten 70 % häufig unter Stress, d. h. unter häufigem starken Termin- und Leistungsdruck. In der Gruppe, die sich weder körperlich noch emotional erschöpft fühlt, sind es nur 42 %. Die Studie unterstreicht jedoch, dass Stress Beschäftigten als einigermaßen tragbar erscheint, wenn es in Teams Gruppenbewusstsein und Kooperation sowie gegenseitige Unterstützung geteilt werden.  

Neue bürgerliche Moral:
Anpassungsgestörte sind Versager?

Nun lassen sich Ängste und Depressionen generell nicht mit ein paar geübten Handgriffen optimieren, adaptieren, anpassen oder abstellen. Es gilt eine Schlange oder einen Fisch mit etwas anderem als einer Schaufel oder einem Schraubenschlüssel zu fangen. Ängste sind keine Störungen analog zu den Störungen eines Fotoapparates, dessen Blende nicht mehr schließt und der folglich bloß gerichtet werden müsste. Dass im Zuge der gesetzlichen Arbeitgeberverantwortungsdebatte zahlreiche Studien und weitreichende Maßnahmenempfehlungen aufgestellt wurden, hilft, auf organisatorischer Ebene optimale und nötige Rahmenbedingungen zu schaffen. Damit ist aber die Wurzel des gesellschaftlichen Phänomens nicht erfasst.

Angst gehört zum Leben wie der Tod. Angst wurzelt im persönlichen Leben und Schicksal. Und ist nach öffentlicher Meinung vorrangig Privatsache. Klartext: Der Betrieb sorgt für Rahmenbedingungen wie eine gute Unternehmenskultur oder adäquate Arbeitsplatzgestaltung, der Rest ist Sache des Mitarbeiters. Der wird also im Fall der Fälle dann auch allein gelassen – selbst von vielen Ärzten, Psychologen und Coaches, die inzwischen selbst unter hohem ökonomischen Druck arbeiten – wie zum Beispiel eine aktuelle Kampagne der Kassenärztlichen Bundesvereinigung aufzeigt – und es werde quasi per Gießkanne konventionelle Methoden verordnet; damit der Anpassungsgestörte sich wieder einfügen kann. Das ist heute wie vor fünfzig Jahren das mehrheitliche Maß der Dinge. Sollte sich der Bürger im letzten Jahrhundert in starre Verhaltenskorsetts und äußerst geordneten Rahmen einpassen, so soll er sich nun dem ständigen Wandel anpassen. So einfach kleidet sich bürgerliche Moral doch im alten Gewand. Der Anpassungsgestörte ist wiederum der Versager. Das ist sein uraltes psychologisches Drama, für den jene Anwalt sein wollen, die selbst im Verdacht stehen, das Versagen zu professionalisieren und zu organisieren.

Wann wäre der Anpassungsgestörte denn lebensfähig? Er kann und soll sich an Bewährtem anhalten. Er soll etwas tun. Zielgerichtetes Handeln – das gilt immer noch viel, wo alles wie Chaos scheint und das eigene Leben kriselt. Das Handeln als die große Maßgabe – Don Quichotte trifft Management. Da erscheint es nicht wunderlich, dass zeitgleich die Umerziehung – in Neudeutsch: Verhaltenstherapie – viele psychologische Methoden – auch aus Kostengründen – flächendeckend ersetzt, die versuchen, Hintergründe auszuloten und Leben zu hinterfragen. Die Wurzeln der Verhaltenstherapie liegen in der Lerntheorie. Sie behandelt auffälliges Verhalten als ein Verhalten, das erlernt und daher verlernt werden kann. Bei der Vielzahl an menschlichen Lebensentwürfen und der Komplexität des Lebens müsste klar sein: Der methodische Reichtum der Psychologie ist uns heute nötig – von Marshall B. Rosenberg bis Lerntheorie, von Atemübungen bis hin zu psychoanalytischen Methoden eines Konrad Stettbacher.

In Arbeitsweltumbrüchen, wie sie zurzeit stattfinden, ist es schwer, psychisch stark belasteten Menschen Anpassungsstörungen als persönliches Versagen zu bescheinigen, wie das in der Vergangenheit oft passierte. Früher zählten im Job für viele Menschen zum Beispiel das Wissen um hierarchische Spielregeln oder das Wissen darum, wie der Einzelne unauffällig mit dem Strom schwimmen kann. Und scherten Menschen aus diesem Strom aus, wurden sie häufig von ihrem Umfeld als auffällige Personen stigmatisiert. Um diese vermeintlichen schwarzen Schafe auf bürgerliche Pfade zurückzugeleiten, entwickelten Psychologen, Soziologen und soziale Institutionen Methoden, die inzwischen als konventionell gelten, weil sie Gemeingut sind. Yoga, Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen sowie Anleitungen zum positives Denken beispielsweise rufen heute keinen mehrheitlich gesellschaftlichen Widerspruch mehr hervor, sie stehen nicht im Verdacht, esoterisch zu sein, sie gehören zur Konvention und haben besonders einen festigenden Wert für Menschen, die psychisch und körperlich weitgehend heil sind und in einem intakten Umfeld leben. Wer aus seinen Ressourcen schöpfen kann, dem helfen konkrete und strukturierte Maßnahmen und Fahrpläne durchaus.

Dieses „heil sein“, die dazu gehörende Sorglosigkeit sowie die Möglichkeit, eine festigende Identität herauszubilden, werden in der sich transformierenden so genannten „Digital-Gesellschaft“ einem Druck ausgesetzt; dem Druck der Existenzsicherung und der Konfrontation des Einzelnen mit einer halbanonymen Internet-Masse von Mitmenschen, vor der er sich zum Teil bewähren soll. An der heftigen arbeitsrechtlichen Debatte um die Arbeitgeberhaftung für gesundheitsfördernde oder -zersetzende Jobs sowie an den Krankheitsquoten der Deutschen zeigt sich, dass alle „Ich-Kult“- und „Selbstverantwortungs“-Missionen von tausenden Trainern und Coaches seit 1990er Jahren keinen breiten tragfähigen Boden bereiten konnten, damit Arbeitnehmer und Manager mit der aktuellen Orientierungslosigkeit der  Gesellschaft und Arbeitswelt umgehen können. Laut Auswertungen von Statista.com liegt der Anteil der Deutschen mit depressivem Symptom bei 26 Prozent. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin meldet, dass im Jahr 2012 bundesweit 60 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen registriert wurden. Dieselben sind damit die zweithäufigste Diagnosegruppe bei Krankschreibungen und Arbeitsunfähigkeit.

Und noch eine Schlagzahl: Die Pharmaindustrie erwirtschaftete in 2014 weltweit laut einer Information des Branchendienstes IMS mit Medikamenten zur psychischen Unterstützung 39,53 Milliarden Euro; das ist Platz sieben auf der Skala der erfolgreichsten Umsatzfelder für Therapien. In Deutschland konnte die Industrie mit Antidepressiva in 2009 über 700 Millionen erwirtschaften.