“In die Ecke, Besen, Besen, sei’s gewesen!”. Leider geht es in tragischer Parallele zu Goethes Gedicht über den Zauberlehrling mit den meisten “Wirklichkeitsgeistern,” die wir hervor beschworen haben, nicht. Natürlich haben wir sie beschworen, weil sie uns hilfreich waren, Erlösung von mancher Mühsal und von Bedrängnis bringen sollten. Doch sie haben ihre Eigengesetzlichkeiten und ihre zerstörerischen Folgen etabliert, und wir suchen nach der Beschwörungsformel, diese Eigengesetzlichkeiten wieder außer Kraft zu setzen.
Sei es unternehmenspolitisch, umwelt- oder sozialpolitisch betrachtet, scheinen die Probleme täglich zuzunehmen, die Wirkungszusammenhänge täglich komplexer zu werden, der Versuch des Einzelnen oder einzelner Gruppierungen einzugreifen, scheint immer undurchschaubarer, aufgeschluckt zu werden von den so genannten Wirkkräften des Systems, zu dem wir selbst gehören.
Diese scheinbare Vergeblichkeit bei der Lösung grundsätzlicher Fragen motiviert die einen, immer ausschließlicher ihr Augenmerk auf die Verstrickungen zu richten und katastrophale Entwicklungen (Aids, Waldsterben, Umweltverschmutzung, Welthunger und atomare Zerstörung) immer heftiger und ausschließlicher ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken.
Andere suchen Zuflucht in oft blind anmutendem Optimismus und Fortschrittsglauben bzw. euphorischer Konzentration auf Machbares ohne Prüfung auf dessen wirklichen Gehalt. Die Gefahr der einen ist die, in Depression zu versinken, während die anderen in der aktiven Form der Depression, nämlich der Manie oder Euphorie, zu verharren versuchen. Je abgehobener Euphorie von tatsächlicher Lebendigkeit und Verbundenheit mit allen Aspekten des Lebens ist, desto größer wird die Angst vor dem Absturz, desto mehr versucht man, durch Gasgeben genügend (immer dünner werdende) Luft unter die Flügel zu kriegen. Dies geschieht, auch wenn abzusehen ist, dass der Treibstoff dabei ausgeht, die langfristigen Ziele vermutlich nicht erreichbar sind, und die größten Probleme dieser Reise im Grunde darin bestehen, wieder heil auf den Boden zu kommen.
Die Unternehmens- oder gesellschaftspolitische Vorgehensweise erinnert mich oft an die Erzählung über eine Busfahrt in Südamerika über einen lebensgefährlich steilen Bergweg, für den der Bus offenbar technisch schlecht ausgerüstet war. Während die Männer vorne den Fahrer zu immer neuem Mut anfeuerten, saßen die Frauen hinten, hatten Angst und beteten. Diese einseitig polarisierte Verteilung der Haltungen zu einer schwierigen und gefährlichen, wenn auch spannenden und vielleicht sogar unvermeidbaren Unternehmung treffe ich in Unternehmen bei meinen Beratungen vielfältig an. Dabei können die einseitigen Reaktionen zeitlich verteilt sein. Zum Start eines großen, unüberschaubaren Projektes werden Bedenken und Anbindungen an reale Machbarkeiten und Berücksichtigungen der Eigengesetzlichkeiten der vorhandenen Bedingungen niedergehalten. Jeder wird auf die unbedingte positive Zukunftserwartung unter Vernachlässigung der Skepsis eingeschworen. Dann, nach einiger Zeit des Projektablaufs, wenn abzusehen ist, dass das Ganze nicht wie beabsichtigt funktioniert und mit Schwierigkeiten und Widerständen behaftet ist, schlägt die Stimmung von blindem Weitermachenwollen in Skepsis, Depression und Schuldzuweisung möglichst an irgendwelche Sündenböcke um. Die Euphorischen kippen in Resignation, manchmal in Zynismus. Und weil dies als unlebendig, undynamisch gilt, sucht man alsbald ein neues Selbstverständnis und Ziel, an dem der Zyklus wieder von neuem begonnen werden kann.
Es kann aber auch sein, dass die Rollenverteilung gleichzeitig auftritt, und einzelne Menschen in einer Unternehmung Fortschrittsglauben und die Euphorie vertreten, während andere den Skeptizismus vertreten, und jeder den anderen in seiner gegenläufigen Einseitigkeit stabilisiert, indem er, um den anderen auszubalancieren, noch stärker die eigene Position einseitig überzieht.
Eine andere Verteilung der verschiedenen Aspekte wäre die, daß die Führungskräfte in ihrem beruflichen Selbstverständnis und ihrer beruflichen Rolle Fortschrittsglauben und Dynamik zeigen, während sie im privaten Bereich oder in Pausengesprächen und abends beim Bier sehr wohl zeigen, dass sie dieser Sichtweise sehr geteilt gegenüberstehen und ihnen größte Bedenken gekommen sind, ob damit der richtige Weg eingeschlagen ist. Sie wagen es aber nicht, diese Bedenken in offizieller Runde einzubringen und damit eine Solidarität des Be-Denkens wachzurufen, weil die herrschende Norm verlangt, Zweifel, die nicht durch baldige Maßnahmen auszuräumen sind, nicht als Hemmschuhe in das Räderwerk des Zuges zu werfen, auch dann nicht, wenn befürchtet wird, dass dieser Zug in einen Abgrund fährt.
Zweifel haben, wenn sie maßvoll gelebt werden, die positive Funktion, wachsam zu bleiben und nicht blind eine Sache voranzutreiben. Hemmungslose Zweifel zerstören alle Ansätze, überhaupt etwas zu beginnen und in die Wege zu leiten, und führen zum Ver-Zweifeln. Von daher ist verständlich, dass diejenigen, die etwas anpacken wollen und dafür einen enormen Startschub bei sich und anderen brauchen, Zweifler als lästig erleben. Umgekehrt tragen aber gerade jene, die Zweifel nicht frühzeitig benutzen, um während eines dynamischen Vorgehens auch Zielrichtung und Vorgehensweise zu bedenken, dazu bei, dass der Zweifel zur Spezialdisziplin einiger Personen oder gesellschaftlicher Gruppen wird, die dann ausgegrenzt werden sollen als ewige Neinsager.
Die notwendige Integration der Bedenken, die durch die Seite des Zweifelns vertreten werden, erfolgt oft erst sehr viel später, und dann wird totgeschwiegen, wie sehr man schon frühzeitig hätte von den Argumenten der Zweifler, hätte man sie angemessen berücksichtigt, profitieren können. Entweder sind die eingetretenen Umstände des Umdenkens angeblich überraschend, unabsehbar gewesen und zwingend, oder man hat schon immer auch die Bedenken gehabt und pachtet rückwirkend in der offiziellen und persönlichen Geschichtsschreibung die Wahrheit von denen, die um ihren aufreibenden Einsatz als Zweifler betrogen werden. Das gute Argument, die Pacht nicht bezahlen zu müssen, entsteht dadurch, dass die in die Ausgrenzung abgespaltenen Aspekte des Zweifelns einseitig, übertrieben und nicht andere Gesichtspunkte berücksichtigend dargestellt werden. Dabei wird übersehen, wie man selbst durch einseitige Besetzung des Gegenpols genau diese Polarisierung der Einseitigkeiten mitverantwortet hat.
Ein guter Innovator kann große Energien freisetzen und dabei wachsam bleiben für seine Zweifel und die Be-Denken anderer, die seine Arbeit begleiten.
An dieser Stelle möchten wir auf den Artikel “Sinnvoll managen” verweisen, der diese Gedanken ebenfalls aufgreift. Sie finden den Text zum Download hier: http://www.systemische-professionalitaet.de/berndschmid/index.php?option=com_docman&task=doc_download&gid=48