Einzelkämpfer „Zusammen bin ich stärker"

person using laptop computer beside aloe vera
Foto von Corinne Kutz

Eine kleine Analogie: Haben Sie schon mal Fünf- bis Sechsjährige Fußball spielen sehen? Alle rennen im Pulk hinter dem Ball her und alle schreien: „Gib ab!" Vor und nach dem Spiel tönen Sie dann stolz: Wir sind eine Mannschaft!
Mitarbeiter 1: „Irgendein Ober-Einkäufer muss die Projektaufsicht haben, und irgendein Ober-Anderer muss die Projektaufsicht haben, und die stehen auf dem Organigramm drauf, und die Leute, die arbeiten, die gehen fast unter. Das ist bei uns so eine Unkultur, dass auf dem Projekt-Organigrammen wirklich sehr viele Namen draufstehen. Leute, die im Prinzip während des ganzen Projektes drei Unterschriften abliefern, stehen ganz dick und fett, oder ganz oben drauf. Klar haben sie letztendlich die Gesamtverantwortung, aber aus meiner Sicht sollte es schon aus dem Organigramm klar ersichtlich sein, wer die Arbeit macht. Oder wer wirklich der Hauptagierende im Rahmen des Projektes ist."
Mitarbeiter 2: „Wenn bei uns einer arbeitet ... na ja ... Viele Anschaffer, aber wenige Macher: Ich sage es offen heraus, es gab mehr Personen, die angeschafft haben, aber die Tätigkeit nicht ausgeführt haben."
Mitarbeiter 3: „Die Vorbereitung ist nicht im Team gelaufen. Wir waren eigentlich ein Haufen, der zwar ein gemeinsames Ziel gehabt hat, aber wir waren von einem Team weit entfernt. Unter einem Team stelle ich mir gleichwertige, verantwortliche Partner mit klar zugeteilten Aufgaben vor, wo jeder weiß, was er zu tun hat, wo man sich auch auf den anderern verlassen kann. Also in der Formulierung würde ich die Feuer2-Mannschaft nicht stehen lassen. Ganz einfach, weil diese klaren Verantwortungen beziehungsweise auch dieses Zusammengehörigkeitsgefühl nicht da war."
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Zweiklassengesellschaft der „Anschaffer" und der Ausführende?
Die hierarechischen Strukturen, die sich im Organigramm abbilden, werden als stark ausgeprägt und dominant empfunden.
Ein Team- und Zusammengehörigkeitsgefühl hat sich nicht gebildet, stattdessen saugten Einzelkämpfer Infos ab. Woran lag das? Ließ die hierarchische Struktur keinen Raum für ein Team?

Abbildung 2: Auszug aus einer Erfahrungsgeschichte der voestalpine Stahl GmbH

Mit Geschichten implizites Wissen in Organisationen heben. Von Christine Erlach und Karin Thier. In: Boris Wyssusek (Hrsg.), Wissensmanagement komplex: Perspektiven und soziale Praxis. Erich Schmidt Verlag 2004, S. 207–226.

Storytelling. Eine Methode für das Change-, Marken-, Qualitäts- und Wissensmanagement. Von Karin Thier. Springer Verlag 2010.

Quelle: personal manager Zeitschrift für Human Resources Ausgabe 6 November / Dezember 2012

Drei Jahre nachdem der Stahlhersteller voestalpine Stahl GmbH eine Feuerverzinkungsanlage gebaut hat, entsteht aufgrund erhöhter Produktionsnachfrage die Notwendigkeit, eine weitere Anlage zu bauen. Längst sind die damaligen Projektmitarbeiter wieder zurück in der Linie und mit anderen Aufgaben beschäftigt. Damit sind die wertvollen Erfahrungen, die dem neuen Projektteam bei der Planung des Baus helfen könnten, nicht verfügbar. Natürlich nutzt voestalpine standardisierte Projektdokumentationen, um fachliches Wissen von einem Team an das andere weitergeben zu können. Doch was ist mit dem schwer verbalisierbaren impliziten Wissen der Mitarbeiter und ihren Erfahrungen, die sie in der Kooperation mit den verschiedenen Zulieferern und in der Kommunikation untereinander gesammelt haben? Was ist mit Erkenntnissen, wie sich beispielsweise eine Anlagenbau-Projektorganisation in die Linienorganisation des gesamten Unternehmens einfügen kann? Die eher auf Daten und Fakten basierenden Wissensmanagementlösungen gaben auf diese ThierFragen keine Antwort. Aus diesem Grund entschied sich das Linzer Unternehmen, die Planung des Nachfolgeprojekts mit einem Storytelling-Prozess zu unterstützen, um den Schatz an vergangenem Erfahrungswissen zu erfassen, aufbereiten und nutzbar zu machen.

Geschichten zu erzählen ist die älteste Methode überhaupt, wenn es darum geht, Wissen weiterzugeben. In den letzten Jahren wurde der „narrative Ansatz“ als gezielte Wissensmanagementmethode in Unternehmen wieder neu entdeckt. Das Zukunftsinstitut spricht gar davon, dass Storytelling das Zauberwort aktueller Wissensvermittlung sei (Monatsmagazin TrendUpdate 06/2012).

Was aber ist Storytelling und was macht das Geschichtenerzählen so erfolgreich? Storytelling basiert auf Geschichten, Anekdoten und Erfahrungsberichten, die Mitarbeiter zum Beispiel über Erlebnisse mit Kunden, Kooperationspartnern oder über bestimmte Projekte zu erzählen haben. Dabei handelt es sich weniger um Daten und Fakten, sondern eher um informelles Erfahrungswissen – beispielsweise darüber, welches Handeln erfolgreich und welches problematisch war. Informelles Wissen kann Unternehmen helfen, Wiederholungsfehler zu vermeiden oder Abläufe und Prozesse zu optimieren. In einem Storytelling-Prozess werden diese Geschichten mittels qualitativer Interviews erfasst und narrativ in Form von Erzählungen, Analogien, Bildern oder Comics aufbereitet. Dieser narrative Ansatz ist authentisch, bietet dem Rezipienten Anknüpfungspunkte an seine alltägliche (Arbeits-)Welt und zeigt Protagonisten auf, mit denen er sich identifizieren kann. Selbst komplizierte Sachverhalte können so auf anschauliche und nachvollziehbare Weise vermittelt werden. Denn Geschichten bleiben länger im Gedächtnis haften als nüchterne Daten und Fakten.

Durch die systematische Erfassung wissensrelevanter Geschichten im Unternehmen und eine narrative Aufbereitung der Ergebnisse entsteht für ein Unternehmen ein Pool an gesichertem (Erfahrungs-)Wissen seiner Experten und Projektteams.

Erfahrungswissen beziehungsweise implizites Wissen ist dabei in Abgrenzung zu explizitem Wissen zu sehen, welches leicht verbalisierbar und damit gut dokumentierbar ist. Erfahrungswissen hingegen lässt sich nicht einfach abfragen. Oftmals sind sich die Wissensträger dieses Wissens selbst gar nicht bewusst. Da Erfahrungswissen im Handeln entsteht, ist es meist stark mit der entsprechenden Situation verknüpft, in der es entstand. Durch das Erzählen von Situationen und Ereignissen lässt es sich ins Bewusstsein holen.

Die Geschichten schaffen darüber hinaus „Dialogräume“. Sie bieten den Mitarbeitern einen Anreiz, sich mit den jeweiligen Themen tiefer auseinanderzusetzen, mit Kollegen darüber in einen Dialog zu treten und im Rahmen dieses Prozesses eigene sinnvolle und passende Lösungswege für sich zu finden.

Nicht nur für das Projektmanagement können Unternehmen Storytelling gewinnbringend einsetzen, sondern auch für das HR-Management, etwa bei der Entsendung von Expatriates. Die Raiffeisen-Gruppe entsendet Jahr für Jahr zahlreiche „Expats“, Mitarbeiter also, die für eine gewisse Zeit im Ausland leben und arbeiten werden. Was kommt auf diese Mitarbeiter zu, wenn sie in einer für sie fremden Kultur leben und arbeiten, welche Erfahrungen „off the record“ haben ihre Vorgänger gesammelt und welche Verhaltensweisen empfehlen sie? Im Rahmen einer bevorstehenden Aussendung neuer Expatriates in den osteuropäischen Raum setzte die RIBA den Storytelling-Prozess ein, um jenes bislang nicht dokumentierte Erfahrungswissen zu sammeln und den zukünftigen Expatriates zukommen zu lassen.

Sechs erfahrene Expatriates erzählten in narrativen Interviews von ihren Erlebnissen in verschiedenen osteuropäischen Ländern. Die Auswertung führte zu einer in der Firmensprache Englisch verfassten Erfahrungsgeschichte, die einzelne Erlebnisse und Einschätzungen der Gesprächspartner wiedergab und die sich in folgenden Etappen abspielte:

  1. Going abroad - a rewarding challenge that needs good preparation
  2. Every start is hard - impressions of the first weeks being abroad
  3. Pioneers and Pride - Chances and temptations in the course of the assignment
  4. Recommendations, success factors and learnings

In diesen Erfahrungsgeschichten schilderten die Experten zum Beispiel die anfänglichen Schwierigkeiten mit Behörden oder aber auch die emotionalen Belastungen, die Familie und Freunde zurückzulassen und empfahlen, alle persönlichen und beruflichen Facetten gründlich zu durchdenken. Sie mahnten an, dass es nicht klug sei, nur aufgrund des Kalküls, die Karrierre zu fördern, ins Ausland zu gehen. Sie gaben sachliche Tipps wie etwa, den Vertrag im Ausland sehr gründlich zu lesen, um böse Überraschungen, was zum Beispiel Arbeitszeiten oder die Übernahme von Reisekosten nach Hause betrifft, zu vermeiden. Sie beschrieben kulturelle Unterschiede in der Herangehensweise an Arbeit oder im persönlichen Umgang, deren Kenntnis das ein oder andere Missverständnis vermeidbar macht.

Die Erfahrungsgeschichten halfen den zukünftigen Expats zu entscheiden, ob sie tatsächlich eine internationale Karriere einschlagen wollen. Sie halfen ihnen darüber hinaus dabei, so manche Situation im Ausland gelassener und souveräner zu meistern.

Fazit: Der Storytelling-Ansatz macht Wissen fassbar und transportierbar, das unter der Oberfläche liegt und in der Regel nur im informellen Dialog weitergeben wird. Klassische IT-gestützte Wissensmanagementlösungen können dieses verborgene Wissen nicht oder nur unzureichend handhabbar machen, da sie in der Regel nicht dafür ausgelegt sind, kontextbehaftetes Wissen zu dokumentieren. Darüber hinaus muss diese Art von Wissen erst entdeckt und an die Oberfläche gebracht werden. Storytelling ist daher eine sinnvolle Ergänzung der klassischen Systeme für Wissenserfassung, -dokumentation und -weitergabe, die eher auf sachlichen Informationen und dokumentierbarem Faktenwissen basieren. Es ist damit eine innovative Methode für Unternehmen, die mehr über ihre eigenen Prozesse, Projekte und internen Abläufe erfahren und kostenintensive Wiederholungsfehler zukünftig vermeiden möchten.

Storytelling eignet sich in Unternehmen als Methode besonders gut, wenn es um die Sicherung und Weitergabe von Erfahrungswissen von Projektteams oder ausscheidenden Experten geht. So auch im Fall der voestalpine Stahl GmbH, die sich mit der Unterstützung von NARRATA Consult für den Storytelling-Ansatz entschied, um implizites Erfahrungswissen für das Nachfolgeprojekt einer zweiten Feuerverzinkungsanlage nutzbar zu machen. Der Storytelling-Prozess verlief in drei Schritten:

1. Erfassen impliziten Wissens: Um den impliziten Erfahrungsschatz zu heben, führte das NARRATA-Team mit den ehemaligen Projektteilnehmern zahlreiche narrative Interviews und ließ Ereigniskurven zeichnen (Abbildung 1). Die Ereigniskurven spiegeln die persönlich empfundenen Höhen und Tiefen der Interviewpartner wider und dienen als Startpunkt für die narrativen Interviews. Das Hauptcharakteristikum narrativer Interviews ist die offene Gesprächsatmosphäre. Es geht nicht darum, vorgefertigte Fragen abzuhaken, sondern vielmehr darum, relevante Wissensbereiche aufzuspüren. Dabei unterbricht der Interviewer den Erzählfluss möglichst selten mit gezielten Fragen. Beim Beispiel voestalpine waren vor allem jene Erfahrungen der Beteiligten von Interesse, die dem Nachfolgeprojekt für den Bau der neuen Anlage von Nutzen sein könnten und/oder Einblicke in die herrschende Unternehmenskultur geben können. Folgende übergeordnete Themen ließen sich bei der Auswertung der Interviews extrahieren:

  • Anerkennung der Leistungen von Mitarbeitern
  • Zusammengehörigkeitsgefühl im Team versus „Einzelkämpfer“
  • Arbeitsbelastung
  • Effizienz des Projektmanagements
  • Kooperation mit Zulieferern und Mitarbeitern anderer Abteilungen
  • Führungsstil

Aufgrund der Berichte, Erzählungen und Verbesserungsvorschläge des ersten Teams überarbeitete die voestalpine unter anderem die Zeitpläne und Arbeitsabläufe so, dass weniger Überstunden entstanden. Die Zusammenarbeit mit den Zulieferern unterstützte das Unternehmen durch Teambildung. Außerdem führte es beim Nachfolgeprojekt explizit eine für die Mitarbeiter klare und nachvollziehbare Form der Anerkennung und Wertschätzung ein.

2. Aufbereitung impliziten Wissens: In einem zweiten Schritt brachte das NARRATA-Team die Erkenntnisse aus den Interviews in eine Form, die implizites Wissen festhalten kann. Um beim Rezipienten verschiedene Wahrnehmungskanäle und kognitive Verarbeitungsmuster zu aktivieren, ist es sinnvoll, mehrere Darstellungsmethoden in einer Erfahrungsgeschichte zu mischen: Originalzitate wurden mit kritischen Kommentaren versehen, Bilder wurden gesucht, die die angesprochene Thematik visualisieren, und analoge Geschichten wurden eingefügt, die einen mentalen Sprung und einen anderen Blick auf die Thematik ermöglichen (ein Beispiel zeigt Abbildung 2, S. 44).

3. Verbreitung impliziten Wissens: Mithilfe der Erfahrungsgeschichte setzte das Unternehmen einen Reflexionsprozess in Gang. Ein Transfer-Workshop führte die Wissensträger von vor drei Jahren und das aktuelle Bauteam zusammen. Die Diskussionen über die angesprochenen Themen erzielten zum einen Verbesserungen im Projektmanagement. Sie stießen zum anderen Veränderungsprozesse in der Unternehmenskultur und beim organisationalen Lernen an.

Das Ergebnis des Storytelling-Prozesses bei voestalpine spricht für sich: Die neue Feuerverzinkungsanlage konnte zwei Wochen vor dem geplanten Projektende hochfahren und vom ersten Tag an verkaufsfähige Coils herstellen, anstatt wie in der Regel sechs Wochen Ausschussware in Kauf zu nehmen, bis alle Komponenten am Zinkbad und Ofen korrekt eingestellt sind.