Herr Geisselhart, haben Sie Ihr Gehirn heute schon gefordert?

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Foto von Damian Patkowski

Ich fordere mein Gehirn jeden Tag.

Gibt es da so eine Art Morgengymnastik für den Kopf, die Sie direkt nach dem Aufstehen anwenden?

Nein, um Gottes Willen, das würde ja zusätzlich Zeit kosten. Mir macht es vielmehr Spaß, mein Gehirn durch die Anwendung und die Praxis zu fordern, so wie ich das mit meinem Körper tue, wenn ich ein paar Treppenstufen nehme anstatt mit dem Aufzug zu fahren.

Geistige Fitness entsteht also, indem wir das Gehirn in Bewegung halten und trainieren?

Wir müssen es vor allem richtig nutzen. Ich bin kein Fan davon, wenn Professoren umfassende Pläne für Gehirntrainings erstellen. Dadurch wird das Gedächtnis sicher etwas fitter, aber normalerweise ist es auch so gut genug. Trainieren muss ich eher die Technik und die dazu nötige Kreativität.

Wie funktioniert Ihre Technik?

Die Grundlage dafür ist, dass ich in Bildern denken sollte, denn unser Gehirn merkt sich Bilder wesentlich besser als Worte. Das ist die natürliche Art zu denken, wie Sie beispielsweise an Kleinkindern beobachten können. Wer schon einmal gegen Kinder Memory gespielt hat, weiß wahrscheinlich ein Lied davon zu singen. Die kindliche Überlegenheit im Memory-Spielen legt sich erst mit der Schule. Ab der 5. oder 6. Klasse haben wir Erwachsene dann wieder Chancen zu gewinnen.

Mal ganz konkret – wie kann ich mir mit einem Bild etwas merken?

Wenn es zum Beispiel ums Namenmerken geht und wir meinen Namen nehmen: Geissel-hart. Das könnte man sich bildlich beispielsweise so vorstellen, dass ich mich mit einer Dominapeitsche auspeitsche – ich geißle mich also ganz hart. Wer das mit seinem inneren Auge vor sich sieht, wie ich das mache, so als wäre es tatsächlich passiert, der wird dieses Bild so schnell nicht mehr vergessen. Was Sie sicher auch kennen: Sie sitzen bei einem geschäftlichen Treffen in der Runde und jemand erzählt eine witzige Geschichte. Dann erinnern Sie sich eher an die Geschichte als an den Namen der Person, die das erzählt hat.

Ich persönlich kann mir keine Witze merken. Was muss ich da ändern?

Vermutlich haben Sie den Witz gar nicht vergessen, sondern einfach in der Situation, in der Sie einen erzählen wollen, keinen Zugriff darauf. Manchmal reicht dafür schon das richtige Stichwort. Denn wir müssen die Bilder auch verknüpfen. Vielleicht ist es Ihnen auch schon einmal passiert, dass Sie auf dem Sofa sitzen und denken: „Ach, jetzt ein neues Fläschchen Wein. Ich geh mal in die Küche und hol mir eines.“ Und in der Küche stehen Sie dann da und wissen nicht mehr, was sie holen wollten.

Ja, das kenne ich.

Wenn Sie dann wieder auf dem Sofa sitzen, fällt Ihnen ein: Ach ja, der Wein war es. Das ist das klassische Anzeichen dafür, dass unser Gehirn das Sofa mit dem Wein verknüpft hat. Wir müssen aber auch an die Kombination Küche und Wein denken, damit wir nicht umsonst in der Küche stehen. Um sich etwas zu merken, muss man sich also nicht nur ein Bild ausdenken, sondern am besten noch ein zweites, mit dem das Ganze verknüpft ist. Wenn wir zu dem Namensbeispiel zurückkommen: Ich habe ja gerade eine ziemlich auffällige und große Brille. Da könnte man sich nun nicht nur vorstellen, dass ich mich hart geißle, sondern auch, dass ich mich mit dieser Brille schütze, wenn ich mich so willenlos geißle.

Das hört sich schon etwas abartig an.

Je abartiger desto besser. Auf normale Sachen hat unser Gehirn überhaupt keine Lust.

Warum ist das so?

Das ist darauf zurückzuführen, dass das Gehirn überprüfen muss, ob eine Situation gut für uns ist oder davon eine Gefahr ausgeht. Entspricht etwas der Norm, dann muss das Gehirn nicht lange hinschauen, sondern kann sofort sagen: „Kenne ich“ und es abhaken. Handelt es sich aber um etwas komplett Neues, muss sich das Gehirn anstrengen, um zu beurteilen, ob man sich davor fürchten oder irgendwie handeln muss. Es wird also viel länger bei dem Thema verweilen. Und wenn jetzt noch Gefühle mit ins Spiel kommen, wirkt das wie ein Merkturbo. Es gibt beispielsweise Kinder, die merken sich alle Fußballergebnisse, aber im Geschichtsunterricht haben sie eine Fünf.

Funktioniert die Methode dann auch mit Zahlen?

Ja, Sie können einfach einer Zahl ein Bild zuordnen. Meine Bilder sind relativ eingängig: Das wäre für die zwei zum Beispiel ein Schwan, der sieht ja von der Form her schon so aus. Die Eins ist eine Kerze, die Drei ein Dreizack, die Vier ein vierblättriges Kleeblatt und die Fünf eine Hand mit fünf Fingern und so weiter.

Normalerweise denken wir ja nicht unbedingt so bewusst in Bildern. Wie lange dauert es, bis jemand sich diese Methode angeeignet hat?

Das ist abhängig von der Person. Es gibt Leute, die kommen damit sehr leicht zurecht, meistens die, die im Beruf etwas kreativer sind, und die Tagträumer, die vorher alle Dinge im Geiste schon einmal durchlaufen. Wenn solche Menschen einen wichtigen Termin haben, sehen sie ihn vorher im Geiste und stellen sich vor, wie der andere wohl reagiert und wie sie selbst reagieren. Etwas verkopftere Menschen, so der Typ Buchhalter zum Beispiel, tun sich am Anfang etwas schwerer. Allerdings erreichen alle relativ schnell das gleiche Niveau, auch die, die schlecht starten. Schon bei einem Vortrag von einer Viertelstunde haben Teilnehmer erste Erfolgserlebnisse, weil sie durch praktische Übungen erkennen, wie das Prinzip funktioniert.

Für welche Informationen eignet sich Ihre Technik vor allem – für kurzfristig benötigte Inhalte oder langfristig wichtige Grundlagen?

Generell zielen Gedächtnistechniken eher auf kurzfristige Informationsspeicherung ab. Mir jedenfalls ist keine Technik bekannt, mit der ich etwa den Namen einer Person abspeichere und er mir dann die nächsten drei bis vier Jahr im Gedächtnis bleibt – und zwar ohne dass ich den Menschen irgendwo treffe, eine Rechnung schreibe oder mit ihm telefoniere. Wenn ich aber mit jemand ab und an Kontakt habe, dann kann sich der Name mit der Technik wirklich verfestigen. Dazu benötigen Sie aber beides: die Methode und die Wiederholung in einem bestimmten Zeitrahmen.

Muss ich quasi die Assoziation der Bilder ins Langzeitgedächtnis heben?

Es ist ein verbreiteter Trugschluss, dass etwas für immer abrufbar ist, sobald es im Langzeitgedächtnis ist. Wissenschaftler gehen davon aus, dass das, was ich nach 20 Minuten noch erinnere, schon im Langzeitgedächtnis landet. Skeptiker sind vorsichtiger. Sie sagen, was nach 24 Stunden noch erinnerbar ist, hat das Langzeitgedächtnis erreicht. Wie dem auch sei – falsch ist jedenfalls, dass wir uns an Dinge im Langzeitgedächtnis immer erinnern. Tatsächlich haben wir zwar die Information dort gespeichert, aber wir kommen nicht mehr unbedingt dran, weil wir nicht wissen, wo genau im Langzeitgedächtnis die Information liegt. Es fehlt der richtige Zugriff. Den schaffen die Verknüpfungen.

Mit Ihrer Methode systematisieren Sie also den Zugriff auf das Gedächtnis, der sonst eher zufällig stattfindet?

Ja, die meisten Menschen können das einfach nicht steuern. Unser Gehirn verknüpft ja ohne unser Zutun schon ständig, aber wir wissen nicht wie. Für sie ist es ein Unding, zu sagen, das merke ich mir jetzt wirklich. Wahrscheinlich ist es genau das, was sie dann wieder vergessen. Unser Gedächtnis ist wie eine riesige Bibliothek über mehrere Ebenen. Die Frage dabei ist: Wo ist das Buch, das ich suche? Ohne ein System können Sie da nichts finden.

Bibliotheken und viele andere Dinge speichern wir ja aber inzwischen digital. Auch Telefonnummern können wir jederzeit auf dem Handy abrufen. Ist es vor diesem Hintergrund überhaupt noch zeitgemäß, das Gehirn zu trainieren?

Natürlich gibt es Dinge, die Sie sich nicht wirklich merken müssen. Geburtstage habe ich zum Beispiel nicht im Kopf. Wenn ich jedoch immer weniger Informationen abrufbar abspeichere, schrumpft mein Hirn umso mehr. „Use it or loose it“ – das ist das Motto. Koreanische Forscher beispielsweise untersuchen dieses Phänomen der digitalen Demenz. Wir haben ein Navigationsgerät und brauchen uns keine Fahrtstrecken mehr merken. Wir haben das Handy mit den Telefonnummern und ein Customer Relationship Management, in dem gespeichert ist, was wir mit unseren Kunden besprochen haben. Deshalb wird das Gehirn arbeitslos und damit leistungsschwächer. Hinzu kommt: Je schlapper das Gehirn wird, desto schlapper wird der Körper, da das geistige Befinden auch zu meinem Gesamtbefinden beiträgt. Das können Sie mit Gedächtnistechnik vermeiden.

Für welche Anwendungsfelder eignet sich die Gedächtnistechnik also vor allem?

Beim Namenmerken: Es gibt zum Beispiel noch kein Handy mit einer Scanfunktion für Personen, so dass ich jemand auf 15 Meter Entfernung sehen kann und der Name auf dem Display erscheint. Hilfreich ist Gedächtnistraining zum Beispiel auch, wenn ein Geschäftsführer durch den Betrieb geht und denkt: „Da müssten wir uns doch mal drum kümmern und hier um jenes“. Dabei kommen schnell fünf bis sechs Punkte zusammen, die er im Durchlaufen abspeichern muss. Ein weiteres wichtiges Anwendungsgebiet: Wenn jemand beruflich oder privat einen Vortrag hält, dann wirkt er wesentlich souveräner, wenn er das im Kopf hat. Ich glaube jemandem mehr, wenn er frei spricht, als jemandem, der auf seinen PC schauen muss und von der Powerpoint-Präsentation abliest.

Wenn sie einen Vortrag halten, merken Sie sich dann alles über Ihre Gedächtnistechnik?

Selbstverständlich. Wenn ich das nicht machen würde, dann wäre ich ja sehr unglaubwürdig. Ich mache niemals einen Vortrag mit einem Spickzettel.

Sicher könnten Sie von den Geschichten, die Sie darum bauen, einen ganzen Roman füllen.

Das kann man so oder so sehen. Zum Teil ist es wirklich so, dass es auf den ersten Blick nach mehr aussieht. Auf der anderen Seite sagt aber ein Bild mehr als tausend Worte. Mit einer kleinen Bildersequenz kann ich schon von einer Viertel- bis zu einer halben Stunde sprechen.

Haben Sie schon einmal etwas vergessen?

Noch nie. Denn ich bin der Meinung: Der Mensch vergisst nichts, sondern er merkt es sich erst gar nicht, wenn es ihm nicht wichtig genug erscheint. Aber im Ernst: Natürlich merke ich mir auch nicht alles.

Interview: Stefanie Hornung

Vortrag „Kopf oder Zettel?“
am Mittwoch, 25. März, 11.20 – 12.05 Uhr,
Forum 4 der Fachmesse PERSONAL2009, M,O,C, München

Weitere Informationen: www.personal-messe.de