Herr Schirrmacher, in Ihrem Buch Payback nehmen Sie eine ziemlich negative Sicht auf die neuen Medien ein. Sie schreiben, dass sie den Menschen überfordern, manipulieren und unsere geistigen Kapazitäten auffressen. Sind Internet & Co. wirklich so schlecht?

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Foto von freestocks

Die Vorteile liegen auf der Hand und sind nicht abzustreiten. Die digitalen Medien sind die Gegenwart und die Zukunft. Wir müssen nur erkennen, was sie mit uns tun, damit wir uns dann im Arbeits- und Privatleben darauf einstellen können.

Was tun sie mit uns?

Sie haben einen negativen Einfluss auf Kurzzeitgedächtnis und Konzentrationsfähigkeit. Wir wissen außerdem, dass sie auf das Belohnungszentrum im Gehirn einwirken. Warum werden wir so ungeduldig, wenn sich eine Internetseite langsam aufbaut? Die Antwort lautet: Unsere Kommunikation mit Computern aktiviert ein Zentrum im Gehirn, das für die sofortige Belohnung zuständig ist.

Das Internet macht uns also ungeduldig und vergesslich?

Es ist kein Zufall, dass die größten IT-Unternehmen der Welt, darunter Intel, Microsoft und Google eine Arbeitsgruppe mit Namen „Information Overload Taskforce“ gegründet haben. Sie haben erkannt, welcher Schaden durch die von ihnen entwickelten Technologien entstanden ist. Die New York Times schrieb unlängst, der meistgehörte Satz in Büros sei heutzutage, „Was wollte ich eigentlich gerade tun?“. Wir werden von einer Informationsflut über E-Mails, SMS und Twitter überrollt. Das ist nicht menschengemäß. Und die Lösung lautet: Wir müssen unsere Arbeitswelten ändern.

Welche Veränderungen schweben Ihnen vor?

Es ist wichtig, dass wir die Computer erledigen lassen, was sie können, und als Menschen unsere Stärken leben. Dazu zählen beispielsweise Kreativität, Unberechenbarkeit und Toleranz. Wenn wir hingegen unsere Kommunikation immer mehr an Computer anpassen, schadet uns das. Eine der schlimmsten Erfindungen der E-Mail-Kommunikation ist beispielsweise der Kasten „cc“. Der stiftet in Unternehmen oft große Verwirrung. Sie schreiben Leute „in cc“ an, und die wissen gar nicht, was sie jetzt machen sollen: Sollen sie die E-Mail lesen oder nicht? Müssen sie aktiv werden oder nicht? Der Absender sichert sich ab, indem er einen breiten Verteilerkreis anschreibt. Er kann sich darauf berufen, dass jetzt alle Bescheid wissen. Diese Art der Kommunikation führt jedoch am Ende dazu, dass sich niemand zuständig fühlt. Daher ist es in Unternehmen wichtig, klar zu sagen, wer eigentlich das letzte Wort hat – und sich nicht allein auf E-Mails zu verlassen.

Wie können wir die von Ihnen genannten menschlichen Stärken wie zum Beispiel die Kreativität besser entwickeln?

Wir werden unsere Gehirne trainieren müssen – und das ist nur möglich, wenn wir uns immer wieder aus der Computerarbeit herausziehen. Google beispielsweise gibt seinen Mitarbeitern die Möglichkeit, sich während der Arbeitszeit zurückzuziehen. Ich glaube, dass Phasen der Kontemplation immer notwendiger werden. Man wird Gehirnübungen machen und Bücher lesen – gar nicht, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern als Training, als Form der Erfrischung und Gesundung.

Welche Rolle können Schulen und Ausbildungsstätten dabei übernehmen, junge Menschen auf die digitale Welt vorzubereiten?

Ein großes Problem der Menschheitsgeschichte lautete: Wie kommen wir an Informationen? Das ist vorbei. Die Frage der Gegenwart und Zukunft heißt: Wie weiß ich, welche Information relevant und seriös sind? Sie müssen nicht mehr wissen, wie hoch der Kilimandscharo ist, es sei denn, Sie möchten Ihr Gehirn beim Auswendiglernen der Daten trainieren. Stattdessen müssen Sie aber wissen, welche Quelle die richtige Information liefert. Die Dänen erlauben bereits die Internetrecherche im Abitur, das finde ich richtig. Denn es wird immer stärker um die Frage gehen: Wie können wir Informationen gewichten?

Haben Sie Tipps für das Gewichten von Informationen?

Wir werden wieder lernen müssen, unsere Intuition – also unser Bauchgefühl – zu entwickeln. Ein Beispiel: Die Lufthansa hat wie viele andere Luftfahrtgesellschaften ein Problem. Oft sagt der Computer im Cockpit eines Flugzeuges irgendetwas, aber der Pilot hat das Gefühl, dass das nicht stimmen kann. Wer hat recht? Das Blöde ist: In etwa 50 Prozent der Fälle hat der Computer recht und in 50 Prozent der Pilot. Jetzt hat die Lufthansa zusammen mit dem deutschen Max-Planck-Institut Methoden entwickelt, wie ein solcher Pilot seine Intuition überprüfen und verbessern kann.

Und wie?

Mit Faustregeln. Ich kann das am Beispiel des Baseballs erklären. Der Schläger schlägt den Ball ab, und der Läufer rennt los. Wie schnell muss er rennen? Die bisherige Botschaft lautete: So schnell, wie er kann. Man hat jetzt aber rausgefunden, dass der Läufer immer so schnell rennen muss, dass er den Ball in einem bestimmten Winkel seines Auges hat. Erfahrene Läufer haben das im Gefühl, aber eine solche Intuition wird in unserer Gesellschaft eben oft überspielt. Daher müssen wir wieder lernen, unser Bauchgefühl zu verbessern.

Lernen gewinnt generell an Bedeutung. In „Das Methusalem-Komplott“ gehen Sie auf dieses Thema ein. Darin fordern Sie eine neue Kultur des Alters. Wie könnte die aussehen?

Wir können heute viel länger produktiv sein als in der Vergangenheit, wenn wir unsere Stärken richtig einsetzen würden. Der österreichische Stahlkonzern voestalpine hat das früh erkannt und seine Mitarbeiter auf den Unterschied zwischen ihrem biologischen und ihrem tatsächlichen Alter hingewiesen. Das Unternehmen hat seinen Beschäftigten vermittelt, dass sie mit 60 noch so leistungsstark sind wie früher ein Mensch mit 50. Nokia in Finnland schickt über 50-Jährige zum Ingenieursstudium an die Uni.

Sie plädieren also für lebenslanges Lernen?

Wir müssen endlich die Erkenntnisse der Hirnforschung ernst nehmen, die besagen, dass sich unser Gehirn noch mit 70 Jahren durch entsprechendes Training um 15 Jahre verjüngen kann. Das heißt, wir müssen ältere Menschen fördern. Dabei sollten wir aber keine Kohorten bilden, sondern sehr individualisiert vorgehen. Zugleich spielen andere Fragen eine Rolle: Ältere Menschen benötigen womöglich andere Arbeitszeiten als jüngere. Ergonomie am Arbeitsplatz wird wichtiger. Auch Vergütungsmodelle müssen wir unter Umständen anpassen, weil die Alten keineswegs mehr verdienen können, nur weil sie alt sind.

Wie lang wird uns der demografische Wandel beschäftigen?

Das Problem geht nicht so schnell weg – und ich glaube, dass es noch immer völlig unterschätzt wird, auch vom Personalmanagement. Dabei wissen wir jetzt schon genau, wie es wird. Erstens: Junge Menschen werden eine absolute Rarität. Zweitens: Ältere Menschen über 50 bilden die große Mehrheit. Wir haben die am besten ausgebildete Rentnergeneration aller Zeiten und eine immer schlechter ausgebildete, schrumpfende, junge Generation. Von 2020 an wird dieses Problem explodieren, und bis etwa 2060 wird es eigentlich immer nur schlimmer.

Birgt die Entwicklung auch Chancen?

Eine Chance besteht darin, dass wir wieder zu einer normaleren Gesellschaft werden. Die Rente mit 65 und der verbreitete Vorruhestand – das sind historisch gesehen Anomalien. Wenn wir das korrigieren, haben wir irgendwann hoffentlich eine bessere Generationensolidarität und auch Konsumenten, die 60 und älter sind. Wenn Sie einer Gesellschaft einreden, dass mit 60 alles zu Ende ist, verlieren Sie einen großer Teil Ihrer potenziellen Kunden. Andererseits werden Menschen zwischen 25 und Mitte 30 profitieren, vor allem die Frauen. Denn die Arbeitgeber müssen ihnen in puncto flexibler Arbeitszeiten, Kinderbetreuung und Vergütung entgegen kommen. Das ist keine Frage von Jovialität. Denn ohne die jungen Frauen geht es überhaupt nicht mehr. Sie werden so viele Angebote haben, dass Sie einfach woanders hingehen, wenn es ihnen in einem Unternehmen nicht passt. Das heißt: Veränderungen sind immer unbequem. Aber das Ergebnis kann durchaus positiv sein.

Interview: Bettina Geuenich

Quelle: personal manager 6/2010