Der Fachkräftemangel stellt Unternehmen in Deutschland zunehmend vor große Herausforderungen. Besonders im Ausbildungsmarkt spitzt sich die Lage weiter zu: Betriebe beklagen sinkende Bewerbungszahlen, unzureichende Qualifikationen und eine wachsende Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Doch während der Fokus oft auf Marketing, Sichtbarkeit und Social-Media-Kampagnen liegt, bleibt ein entscheidender Bereich häufig vernachlässigt – die Eignungsdiagnostik.
Felicia Ullrich, Eignungsdiagnostik-Expertin, Studienherausgeberin und Geschäftsführerin eines traditionsreichen Familienunternehmens, bringt es auf den Punkt: „Wir diskutieren ständig darüber, wie wir mehr Bewerbende erreichen. Aber viel zu selten darüber, wie wir die richtigen auswählen.“ Wer viele Bewerbungen generiert, aber die falschen Entscheidungen trifft, gewinnt am Ende gar nichts. Im Gegenteil: Fehlbesetzungen kosten Zeit, Ressourcen und Reputation – und sind oft vermeidbar.
Dieser Artikel zeigt, warum Eignungsdiagnostik im Azubi-Recruiting unverzichtbar ist, welche typischen Fehler Unternehmen machen und wie ein valider Auswahlprozess gelingt.
Warum scheitern Unternehmen an der Auswahl – nicht am Recruiting?
„Wir bekommen keine geeigneten Kandidaten.“ Diesen Satz hört Ullrich oft. Doch ihrer Erfahrung nach handelt es sich seltener um ein Bewerber- als um ein Diagnoseproblem. Unternehmen vergrößern zwar mit Employer-Branding und Social Recruiting ihre Reichweite, treffen ihre Auswahl aber weiterhin auf Basis von Bauchgefühl, Noten oder Vorurteilen.
Dabei kennt die Eignungsdiagnostik nur zwei Fehler – und beide haben es in sich:
- Alpha-Fehler: den Falschen einstellen – teuer, schmerzhaft, sichtbar.
- Beta-Fehler: den Richtigen ablehnen – unbemerkt, aber häufig.
Gerade der Beta-Fehler ist tückisch: „Niemand kommt nach drei Jahren zurück und sagt: Übrigens, ich wäre die perfekte Fachkraft für euch geworden“, so Ullrich. Das macht ihn gefährlicher als den offensichtlichen Einstellungsfehler.
Glaubenssätze und Biases: Die größten Fallen im Auswahlprozess fürs Einstellen
Einer der Hauptgründe für Fehlentscheidungen liegt in unbewussten Glaubenssätzen. Viele Unternehmen bewerten Merkmale, die keinerlei Aussagekraft über die tatsächliche berufliche Eignung haben. Beispiele, die Felicia Ullrich regelmäßig begegnen:
„Er hat sich nicht über den Beruf informiert.“
Mag sein – aber sagt das etwas über seine Fähigkeit aus, ein guter Zerspanungsmechaniker oder Kaufmann zu werden? Nein. Informationsstand ist erlernbar, Eignung nicht.
„Er hat sich nicht über unser Unternehmen informiert.“
Ein verletztes Ego ist kein valides Auswahlkriterium. Jugendliche bewerben sich oft breit – völlig legitim.
„Gute Deutsch- oder Mathenoten sind ein Muss.“
Noten sagen vieles aus, aber nicht zwingend das, was man zu messen glaubt. Deutsch ist ein Interpretationsfach – kein Rechtschreibtest. Mathe im schulischen Kontext hat wenig mit berufsrelevanter Rechenfähigkeit zu tun.
„Unvollständige Bewerbung? Dann raus.“
Ullrichs Haltung dazu ist klar: „Viele wissen gar nicht, was Unternehmen unter ‚vollständig‘ verstehen.“ Wer Talente durch fehlende Anlagen aussortiert, verliert sie oft nur an die Konkurrenz mit niedrigeren Hürden.
Das Fundament: Ein klares und schriftlich definiertes Anforderungsprofil
Eignungsdiagnostik beginnt lange vor dem Test oder Gespräch – nämlich mit der Frage, was die Stelle wirklich benötigt.
Überraschend: In einer großen Studie gaben nur 51 % der Unternehmen an, ein schriftliches Anforderungsprofil zu haben. Ohne dieses Fundament lässt sich Eignung jedoch kaum beurteilen.
Ein gutes Profil enthält:
- die wichtigsten fachlichen Anforderungen
- die zentralen persönlichen Kompetenzen, z. B. Teamfähigkeit, Sorgfalt, Sozialkompetenz
- Verhaltensanker, die klar beschreiben, was diese Kompetenzen im Arbeitsalltag bedeuten
So wird aus einem schwammigen Begriff wie „Teamfähigkeit“ eine beobachtbare Fähigkeit – und damit messbar.
Struktur statt Bauchgefühl: Wie valide Auswahlprozesse zum Einstellen aussehen
Hat ein Unternehmen ein sauber definiertes Anforderungsprofil, braucht es passende Verfahren, um diese Kriterien messbar zu prüfen. Ullrich empfiehlt die Kombination aus:
1. Validen Online-Tests
Sie messen z. B. logisches Denken, räumliches Vorstellungsvermögen oder berufsbezogene Grundfähigkeiten – und tun dies objektiv und vergleichbar. Wichtig ist:
- Die Tests müssen wissenschaftlich geprüft sein.
- Sie sollten für die Zielgruppe normiert sein (nicht für Studierende!).
- Aufgaben müssen berufsnah sein („Augenscheinvalidität“).
2. Strukturierten Interviews
Nicht zu verwechseln mit einem „netten Gespräch“. Strukturiert bedeutet:
- Alle Bewerbenden erhalten dieselben Fragen.
- Die Antworten werden schriftlich dokumentiert.
- Bewertungsbögen ermöglichen objektive Vergleiche.
3. Klare Bewertungsregeln
Jede Kompetenz sollte idealerweise über mehrere Methoden gemessen werden, nicht nur über eine.
Was beim Einstellen im Recruiting wirklich zählt – und was nicht
Ein eindrucksvolles Beispiel aus Ullrichs Praxis: Ein Bewerber kommt 30 Minuten zu spät zum Vorstellungsgespräch, weil er ein wichtiges Sicherheitsupdate der Schulhomepage betreuen musste. Ein Tabu? Viele würden sofort absagen.
Ullrich wirft eine wichtige Frage auf:
„Wie relevant ist Pünktlichkeit für einen angehenden Fachinformatiker wirklich?“
In vielen Fällen bewerten wir Bewerbende nach Maßstäben, die eher kulturell oder emotional geprägt sind als funktional. Das kostet Talente – besonders in einem Markt, in dem Unternehmen nicht mehr auswählen können, sondern müssen.
Moderne Bewerbungsprozesse: Schnell, einfach, niedrigschwellig
Jugendliche bewerben sich heute nicht mehr mit dem Laptop und ausgefeilten Anschreiben. Die Realität heißt Smartphone, Social Media und One-Click-Bewerbung.
Ullrich empfiehlt:
- 60-Sekunden-Kurzbewerbung statt langer Formulare
- Einladung zum Test für alle Interessierten – ohne Papierkrieg
- Bewerbungsunterlagen erst nach dem Test, nicht davor
Ein Unternehmen steigerte so den Anteil qualifizierter Bewerbungen um 25 % – allein durch vereinfachte Prozesse.
Warum Eignungsdiagnostik ein menschlicher und kein technischer Prozess ist
Obwohl Tests und strukturierte Interviews zentrale Bausteine sind, betont Ullrich: Gute Eignungsdiagnostik ist kein Tool-Thema, sondern ein Haltungsthema.
Sie verlangt:
- Offenheit statt Vorurteile
- Klarheit statt Bauchgefühl
- Struktur statt Willkür
- Mut, liebgewonnene Annahmen zu hinterfragen
Nur dann treffen Unternehmen Entscheidungen, die sowohl fair als auch treffsicher sind – und sie geben jungen Menschen eine echte Chance.
Fazit: Wer die richtigen Azubis einstellen will, braucht mehr als Reichweite
Azubi-Recruiting darf heute nicht nur aus Kampagnen, Social Media oder Messen bestehen. Sichtbarkeit ist wichtig – aber ohne valide Auswahlprozesse bleibt sie wirkungslos.
Eignungsdiagnostik sorgt dafür, dass:
- geeignete Talente nicht durch Raster fallen,
- Fehlentscheidungen seltener werden,
- Unternehmen fair und transparent agieren,
- und der Matching-Erfolg nachhaltig steigt.
Oder wie Felicia Ullrich sagt:
„Bewerbungen sind Marketing. Gute Entscheidungen sind Eignungsdiagnostik.“












