Herr von Rosenstiel, Sie gehen davon aus, dass das Thema Kompetenzmanagement an Bedeutung gewinnt. Warum?
In unseren Zeiten des rapiden Wandels werden die Mitarbeiter immer häufiger vor komplexe und unvorhergesehene Aufgaben gestellt, für deren Bewältigung Kompetenzen nötig sind. Nur wenn Unternehmen genau wissen, was auf sie zukommt, können sie ihre Beschäftigten lernzielorientiert qualifizieren. Allerdings können sie heute die Anforderungen von morgen nicht mehr präzise voraussagen. Deshalb entwickeln Unternehmen Kompetenzenmodelle. Sie überlegen, welche Kompetenzen sie angesichts ihrer Strategie benötigen und versuchen, die Kompetenzen der Beschäftigten zu erkennen, zu messen und zu entwickeln.

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Foto von Van Tay Media

Börsennotierte Unternehmen müssen ab 2005 ihr Humankapital in der Bilanz ausweisen. Können Kompetenzmessungen dabei hilfreich sein?
Ja, dieses Problem wird auf die Unternehmen zukommen. Um das Humankapital ausweisen zu können, benötigen sie Verfahren, die Kompetenzen messen und dokumentieren. Kompetenzenbilanzen sagen mehr aus als formale Qualifikationen und Zeugnisse.

Wie würden Sie den Begriff „Kompetenz“ definieren?
Kompetenzen sind Dispositionen – also Potenziale – von Menschen, die sie befähigen, sich in eigenverantwortlicher Weise, selbst organisiert mit unvorhergesehenen Situationen konstruktiv und kreativ auseinanderzusetzen.

Was unterscheidet Kompetenzen und Qualifikationen?
Qualifikationen sind Fähigkeiten, die ein Mensch lernzielorientiert für ein bestimmtes Feld erwirbt. Wir erwerben zum Beispiel Qualifikationen, wenn wir lernen, mit SAP zu arbeiten oder Verhandlungen zu führen. Das heißt jedoch noch nicht, dass wir in einer konkreten Situation ein Problem lösen, eine unerwartete Herausforderung bewältigen können. Dafür benötigen wir Kompetenzen – also das Potenzial, neue Situationen selbst organisiert zu bewältigen.

Welche Grundkompetenzen gibt es?
John Erpenbeck und ich unterscheiden vier Kompetenzgruppen: Die personalen Kompetenzen zeigen sich im Umgang mit uns selbst. Darunter fällt zum Beispiel die Fähigkeit, das eigene Verhalten zu regulieren. Hinzu kommen soziale und kommunikative Kompetenzen, Fach- und Methodenkompetenzen sowie aktivitäts- und umsetzungsbezogene Kompetenzen.

Welche Kompetenzen benötigen zum Beispiel Führungskräfte heute?
Führungskräfte sollten überdurchschnittlich intelligent sein und benötigen soziale und kommunikative Kompetenzen. Sie müssen sich selbst motivieren und an Ziele binden können – also diese hartnäckig verfolgen. In Zukunft wird eine weitere Kompetenz zunehmend gefragt sein: Führungskräfte müssen lernbereit und lernfähig sein. Denn die Rezepte von gestern können der Weg in den Misserfolg von morgen sein.

Kann man Kompetenzen überhaupt objektiv messen?
Ja, bei den Kompetenzexperten besteht Einigkeit darüber, dass eine differenzierte Biografi e-Analyse der beste Weg ist, Kompetenzen zu messen. David McClelland hat zum Beispiel ein Verfahren entwickelt, das auf einer Analyse von kritischen Ereignissen in der Berufsbiografie beruht. Bei diesem „Critical Incident“-Verfahren beschreiben die Teilnehmer Situationen, in denen sie beispielsweise ungewöhnlich erfolgreich beziehungsweise erfolglos waren. Die Antworten zeichnet der Coach auf und transkribiert sie. Bei der Analyse der Antworten untersucht er das Verhalten der Befragten, aber auch ihre Gefühle, Motive und Phantasien. Von den Ergebnissen kann er ableiten, welche Kompetenzen in einem bestimmten Unternehmen ausschlaggebend für den Erfolg sind. Er erkennt auch, ob einzelne Mitarbeiter in das Unternehmen passen oder nicht.

Wenn Kompetenzmessungen auf subjektiven Selbstbeschreibungen der Mitarbeiter beruhen: Können die Ergebnisse dann objektiv sein?

Natürlich besteht die Gefahr, dass sich die Befragten sozial erwünscht äußern. Deshalb sollten Kompetenzenbilanzen auch nicht bei der Personalauswahl eingesetzt werden. Denn hier ist diese Gefahr besonders groß.

In welchen Bereichen können Personalverantwortliche Kompetenzmessungen einsetzen?
Sehr wirkungsvoll sind Kompetenzenbilanzen in der Personalentwicklung, wenn es darum geht, Mitarbeiter zu coachen und ihre Potenziale zu entdecken. Sie sind ideal, um Menschen bei der beruflichen Orientierung zu unterstützen, wie die Tiroler Kompetenzenbilanz zeigt.

Nach welchen Kriterien entscheiden die Coaches bei einer Kompetenzmessung, ob ein Mitarbeiter zum Beispiel kommunikativ oder unkommunikativ ist?
Kompetenzmessung kann nur im Vergleich hilfreich sein. Ich benötige eine Vielzahl von Teilnehmern, um ermitteln zu können, ob jemand durchschnittliche oder besonders ausgeprägte Kompetenzen in einem bestimmten Feld besitzt. Und ich muss sein Verhalten aus seiner Biografie, aus dem Vergleich verschiedener kritischer Situationen verstehen.

Nicht alle Mitarbeiter möchten, dass ihre Fähigkeiten „durchleuchtet“ werden …
Richtig. Deshalb können Kompetenzenbilanzen nur dann funktionieren, wenn die Mitarbeiter freiwillig daran teilnehmen. Sie sind nicht vergleichbar mit harten Diagnoseverfahren wie zum Beispiel „Management Appraisals“, bei denen Manager – zum Beispiel nach Fusionen – gegeneinander antreten müssen, um herauszufinden, wer im Unternehmen bleibt.

Wie erwerben wir Kompetenzen und wie können Unternehmen den Kompetenzerwerb fördern?
Aktuellen Forschungen zufolge erwerben wir 80 Prozent unserer Kompetenzen implizit. Sie entwickeln sich auf den Feldern, auf denen sie später benötigt werden – also im sozialen Umfeld oder im Beruf. Deshalb müssen Unternehmen überlegen, welche Arbeiten welche Kompetenzen vermitteln. Dann können sie die Tätigkeiten so gestalten, dass sie sinnvoll aufeinander aufbauen. Sie gestalten ein „Curriculum von Jobs“.

Dann wird die Arbeitsorganisation zunehmend zur Personalentwicklung?
So ist es. Deshalb gehen immer mehr reflektierende Unternehmen dazu über, Seminare durch Projekte zu ersetzen. Wenn ein Mitarbeiter Kompetenzen im Projektmanagement benötigt, schicke ich ihn nicht zu einem Seminar, sondern übergebe ihm ein Projekt, das ich durch Coaching unterstütze. Wenn mehrere Mitarbeiter ein neues Projekt übernehmen, führe ich die Projektleiter regelmäßig zusammen und lasse sie ihre Erfahrungen austauschen und reflektieren.

Wie können Unternehmen die interne Vermittlung von Kompetenzen anregen?
Es sollte zur Unternehmenskultur gehören, dass Mitarbeiter die Ergebnisse interessanter Projekte nach dem Abschluss vor den Kollegen präsentieren. So können sie ihre Erfahrungen an andere weitergeben. Das setzt natürlich eine bestimmte Vertrauenskultur im Unternehmen voraus.

Sie selbst beschäftigen sich seit Jahren mit dem Thema Kompetenz. Was sind Ihre Kernkompetenzen?
Meine Kernkompetenzen? Ich kann Wissen so vermitteln, dass sich andere dafür interessieren. Deshalb bin ich so gerne Hochschullehrer. Ich bin selbst in sehr konfliktreichen Situationen in der Lage, ein halbwegs passables soziales Klima zu schaffen. Außerdem kann ich Menschen auf den Feldern Freiheiten einräumen, auf denen ich bei ihnen Kompetenzen vermute. Deshalb sind viele meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter etwas geworden, ohne dass ich nennenswert eingreifen musste.

Interview: Bettina Geuenich

Quelle: personal manager 6/2004