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LITERATUR BETROFFENEN EMPFEHLEN

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Foto von Luis Villasmil

 

Für alle, die weiterlesen oder Betroffenen Lektüre bieten wollen,
empfehlen wir diese Werke und Beiträge (die erbitterte Debatte
um die ersten zwei Autoren ist uns bekannt, wir empfehlen trotzdem):  



Konrad Stettbacher | „Wenn Leiden einen Sinn haben soll“
Sie können das Buch hier downloaden.


Alice Miller | Das verbannte Wissen
Die englische Version des Bestsellers können Sie hier lesen


Viktor Frankl | Die Logotherapie von Viktor Frankl (Autor: Timo Purjo).
Der Weg zum wertvollen und sinnhaften Leben

Dieses online verfügbare Buch beschreibt den Ansatz des Wiener Psychologen.
Auch zur Lektüre empfohlen: „Der Wille zum Sinn.“ Huber 2005. 272 Seiten
„… trotzdem Ja zum Leben sagen“. Kösel 2009. 191 Seiten.


Fürstenberg Institut |Fachbeitrag „Der Freitod“

Der Beitrag schildert einen Fall und den Umgang damit.
Fürstenberg bietet eine Sofort-Hilfe an.

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Copyrights Fotos:
1 - Petra Bork | pixelio.de
2 - Männe | pixelio.de

 

Jeder Selbstmord ist ein Verlöschen einer Welt. Was ihr das Licht auslöscht, weiß nur der Mensch selbst, der sie besaß. Unter allen leisen, lauten, verzweifelten, aber immer lebendigen Herkulesversuchen, das eigene Leben in der Konfrontation mit dem großen Leben – nämlich der Summe dessen, was die Gesellschaft lebt – zu retten, zieht schlussendlich Brutalität einen Strich. Das ist es, was den Selbstmord so todtraurig erscheinen lässt. Strangulation durch Gürtel für einen der liebvollsten Komiker unserer Zeit Robin Williams (08 | 2014), Tod durch Schusswaffe für Werner R – Geschäftsführer des Möbelherstellers Göhring (09 | 2014), Friedhofsteine auch für den Ricola-Boss Adrian Kohler (2011), den feinfühligen Swisscom-Chef Carsten Schloter (07 | 2013) und Versicherungsvorstand Pierre Wauthier (2013). Inwiefern der junge Co-Pilot Andreas L. (04 | 2015) einen Selbstmord beging, der die Germanwings-Maschine (Flug 4U9525) mit 170 Menschen nach letztem Ermittlungsstand vorsätzlich abstürzen ließ, bleibt in Presse und Öffentlichkeit umstritten. Experten meinen, dass Selbstmörder so viele Menschen nicht in ihren Tod nehmen würden; ein Vergleich mit fanatischen Selbstmordattentaten wurde nicht breit diskutiert.

„Was nutzen uns die Durchhalteparolen
Wenn wir geistig verkümmern und verrohen
Durch zigtausende innere Katastrophen
Xavier Naidoo



Hinter der Schweigemauer: Im Job nah am Tod gebaut?

Es gibt Berufe, in denen Menschen sehr nah am Tod bauen; entweder weil es in diesem um denselben oder große Verzweiflung geht oder weil der Grad der professionellen notwendigen Täuschung hoch ist, wie zum Beispiel im Showbusiness. Was Menschen in diesen Berufen erleben, mag eine Passage aus dem Film „Step up“ bebildern. Dort heißt es im Prolog: „Wenn man tanzt, passiert etwas Magisches. Einfach alles ergibt einen Sinn, die Welt ist intakt, man spürt das pure Leben. Wenn man vom Tanzen leben will, erlebt man Dinge, die überhaupt nicht magisch sind. Die Ablehnung, die miese Bezahlung, das endlose Vortanzen. Dann schrumpft die Welt zusammen, zum selben kalten Raum, mit denselben Neonröhren, denselben abgestumpften Leuten. Tagein, tagaus.“ Diese Sequenz zeigt, dass eigentlich jeder Mensch irgendwann an einen Punkt kommt, an dem die Dinge extrem mühselig werden. Wenn nun Menschen mit viel Motivation und Engagement in Berufe wie Polizei, Militär, Pflege, Medizin, Sozialarbeit einsteigen und eine schwierige Kindheit / Jugend oder ein schwieriges Lebensumfeld haben, dann können sie unter Umständen in tote Gesellschaftswinkel geraten.         

Die Schweizer Psychoanalytiker Alice Miller und Konrad Stettbacher haben sich in ihrem Werk intensiv mit der Frage auseinander gesetzt, was Selbstmörder antreibt. Eine Zeile aus einem Lead des Musikers Peter Tosh mag die Essenz der unzähligen Motive auf den Punkt bringen: „Everybody is cryin out for peace, but nobody is crying out for justice.
You can´t have peace without justice.“ Zu Deutsch: Jeder verlangt nach Frieden, aber niemand verlangt nach Gerechtigkeit. Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit.” Miller wie Stettbacher heben hervor, dass erlittene Gewalt im frühen Leben und unterdrückte Gefühle sich in der Seele des Leidenden gegen ihn wenden. Im schlimmsten Fall endet die Selbstdestruktion im Freitod. Der Schrei nach Leben wurde in vielen Fällen vom Umfeld des Kindes unterdrückt. Das macht sich auch im Erwachsenenleben bemerkbar.

Um zu veranschaulichen, welche Gewalten in Menschen wirken, eignet sich der Hinweis der Psychotherapeutin Verena Kast in ihrem Buch „Lass Dich nicht leben – lebe“: Die Wucht, die Intensität, mit der kleine Kinder ihre Gefühle äußern, zeige mit welchen Kräften Menschen tagtäglich umgehen müssen. Der Schriftsteller Thomas Bernhard wies einmal in einem Interview eine Journalistin daraufhin, dass Erwachsene durchaus nicht mit vernünftigem Abstand auf Vergangenes sehen. Und die moderne Hirnforschung gibt ihm Recht. Das Gehirn speichert Episoden so ab, dass sie stets vorliegen.

Aus all diesen Gründen ist es wichtig, aufmerksam mit den Gefühlen Gefährdeter umzugehen und ihnen diese zu lassen. Wut darf sein, Traurigkeit darf sein, Unsicherheit darf sein. Der Betroffene soll die Erfahrung machen dürfen, dass er damit nicht zum auszuschließenden Störungsobjekt wird.
Und er braucht die Gewissheit, dass nichts an ihm kaputt gehen kann – der Kopf, das Herz, das Leben. Kaputt sollte gar kein Begriff sein. Der Betroffene sollte aber auch verstehen dürfen, dass niemand außer er selbst die Reise ins „Ja zum Leben“ machen kann. Niemand kann ihm das abnehmen. Doch er sollte echten Dialog und Anteilnahme erfahren dürfen. Am Ende ist es die Vielzahl des Lebens und seiner Möglichkeiten, die ihm den Weg ins Leben weisen: Beratungsangebote, gute Therapeuten, lebendige Mitmenschen, viele Möglichkeiten zur positiven Selbstspürung und das Gefühl, in eine Gemeinschaft aufgenommen zu sein, die mit Lüge, Täuschung, Wahrheit, Sinn und dem Leben umzugehen weiß.     

Inside suicide: Wer versteht, kann ankern, nur indem er da ist

Die Heavy Metal-Gruppe „Metallica“, die sich intensiv mit dem Schicksal von Soldaten im Krieg beschäftigt hat und versucht, diesen mit ihrer Musik eine Ausdrucksform zu geben, beschreibt das Gefühl, das hinter dem Suizid steht, folgendermaßen: “Suicide | I've already died | You're just the funeral I've been waiting for | Cyanide living - dead inside | Break this empty shell forevermore”. Zu Deutsch: „Selbstmord | Ich bin schon gestorben | Du Selbstmord bist nur die Beerdigung auf die ich gewartet habe | Zyanid leben - innen drin tot | Diese leere Schale für ewig brechen.“

Das ist die Sicht vieler Selbstmörder: Das Leben ist etwas, mit dem sie absolut nichts mehr zu schaffen haben. Wie jemand, der einem Lebensabschnitt entwachsen ist und es nicht mehr schafft, sich mit dessen Menschen und Themen zu befassen. Nur dass es nicht ein Lebensabschnitt, sondern das ganze Leben ist, zu dem es nun keinen Zugang mehr gibt.

Natürlich hat jeder Suizid eine individuelle Geschichte, doch es kann helfen, solche Bilder zu finden, um sich Zugänge zur Gefühlswelt des anderen zu schaffen. Spürt ein Gefährdeter, dass er mit reflektierten Menschen zu tun bekommt, dann hat er das Gefühl unter Millionen unkenntlicher und ignoranter Leute endlich einen Menschen kennengelernt zu haben. So formulierte es zumindest eine alte Dame, auf welche die Autorin im Hamburger Planten und Blomen-Park im Sommer 2009 aufmerksam geworden war. Die Dame hatte einen matten und todgeweihten Eindruck gemacht. Sie gab im Gespräch nach einigem Zögern an, alles verkauft und Kindern in armen Ländern gespendet zu haben, sie wolle nun gehen, da sie mit ihrem sinnlosen Leben anderen Menschen das Leben erschwere. In der Begegnung und Aussprache erinnerte sich die Dame daran, wie sie während der Hitler-Zeit schon einmal hätte sterben wollen, weil sie ungewollt schwanger geworden war; ein Offizier hatte sie beim Selbstmord gestört und sie in ein Gasthaus mitgenommen, wo er ihr direkte und tröstende Worte sagte. Sie sah in der Park-Begegnung einen Wink des Schicksals, der ihr Kraft gab und ihr sagte: Auch Du sollst leben. Geh nicht. 

Das Ausmaß der Lebensmüdigkeit: Wie
wenn Lüneburg komplett stirbt oder
Hamburg versucht, abzutreten


Diejenigen, die gehen, gehen aus einer Masse von Tausenden verzweifelten Menschen hervor. Weltweit versuchen pro Jahr einer Auswertung der
Weltgesundheitsorganisation zufolge 800.000 Menschen den endgültigen Sprung.

Für das Jahr 2009 liegen der OECD internationale Vergleichsdaten vor. Demnach suchen vor allem Menschen in den ehemaligen Sowjetstaaten (Litauen | Weißrussland | Russland | Lettland | Kasachstan) den tödlichen Frieden und ziehen ihn durch; Männer im Durchschnitt drei bis viermal öfter als Frauen. Vergleichsweise wenige bis nahezu keine Selbstmorde ereignen sich im muslimisch-arabisch geprägten Raum (Armenien | Syrien | Iran | Ägypten | Jordanien | Aserbaidschan). In Europa liegen die Quoten im Mittelfeld: In Österreich töten sich einer Information des Institutes für Suizidprävention jährlich um die 950 bis 1.000 Personen; vornehmlich im Alter zwischen 10 und 39 Jahren. In der Schweiz sind die Quoten laut dem Schweizer Bundesamt für Statistik seit den 1980er Jahren rückläufig - rund 1.000 Menschen im Jahr. 10.000 Suizide sind es jährlich in Deutschland, konzentriert auf Männer und Ältere. Das bedeutet im übertragenen Sinne, dass eine Stadt wie das niedersächsische Lüneburg innerhalb von sieben Jahren komplett wegstirbt. Weitere 100.000 Menschen in Deutschland versuchen jährlich, sich zu töten. Und das ist wie wenn sämtliche Bürger einer Großstadt wie Hamburg in einem Jahr und sieben Monaten versuchen, den Tod zu finden.

Dieses Szenario und ein Blick auf das Alter der Suizidalen zeigen: Es ist sehr wahrscheinlich, dass in vielen Betrieben akut und latent Selbstmordgefährdete arbeiten. Die breite Gesellschaft hat für den Umgang mit diesen Personen kaum Spielregeln und Szenarien entwickelt; analog zum Flüchtlingsdrama im Mittelmeer oder ähnlichen sozialen Brennpunktthemen werden diese Menschen an Institutionen vermittelt, wo sie behandelt werden sollen.

Es gibt für viele Themen, mit denen sich der Einzelne in der Gesellschaft ungern befassen möchte oder sich überfordert fühlt, Maßnahmen. Sachverständige werden bestimmt, die mit ihrer Rolle Geld verdienen und in ihrer Kompetenz zuständig sein sollen. Im Falle der Suizidalen wird das gebrochene Leben oft des Alltagsl
ebens in der Mitte der Gesellschaft verwiesen und zum Beispiel in eine Anstalt gesperrt, wo lauter Menschen mit gebrochenen Lebensgeschichten sitzen. Endstation Sehnsucht und Medikamente. 


Wenn Menschen am Leben scheitern, sollten sie also vernünftigerweise Amtskunden werden, um den Glauben an ihr Leben wiederzufinden? Arbeitslosigkeit ist schon schwer per Amt zu klären, wie dann erst Todessehnsucht? Erfahrungen der HRM.de-Redaktion mit Psychiatriepatienten und Suizidalen zeigen, dass Medikamente, so genannte Verhaltenstherapien, Sport und Ernährungskonzepte vielen Betroffenen doch nicht richtig in den Schuh zurückhelfen. Alle Angebote können nur eines unterstützen: Dass der Verletzte am Sauerstoff des Lebens heilt, dafür braucht er die Anteilnahme aller Menschen um sich herum. Und da sind es schon kleine Dinge, die ihm helfen, wie zum Beispiel

- Ernst nehmen, aber nicht tragisch.     
- Zuhören, nicht mitleiden.
- Selbst wahrhaftig sein, Sprüche zum Ablenken („Alles nicht so wild.“

  „Kopf hoch, das wird schon.“) ziehen nicht.
- Normal behandeln, Alltag leben.
- Keine Gespräche erzwingen, aber aufmerksam sein.
- Nicht mit Theorien am anderen herumdoktern, ihn nicht als Fall behandeln.
- Geduld aufbringen.
- Nicht dauernd nach dem Befinden fragen
  (Worauf freuen Sie sich? Geht’s besser? Etc.).
- Nicht zu erklären versuchen, wie das Leben vermeintlich wirklich läuft –
  getreu dem Motto: „Das checkst Du ja gar nicht!“ oder „Check es doch endlich!“.
- Selbst den Tod akzeptieren wollen, ansonsten projizieren und bekämpfen Sie Ihre
  eigene Angst davor an Ihrem Gegenüber.
- Gefühle zulassen, an sich und am Gegenüber.

Das, was lebendige von todgeweihten Menschen gefährlich trennt, ist mangelndes Verständnis füreinander; und zwar auf beiden Seiten. Menschen, die gern im Leben stehen, können den Suizid oft nicht verstehen. Viele betrachten sich als psychisch gesund und Suizidale als Kranke; wodurch sie eine Trennlinie zwischen sich und sie legen; das verstärkt die gefühlte hermetische Abriegelung der Gefährdeten. Viele Selbstmörder sehen ihre Umwelt düster: Sie meinen Wahrheiten ins Auge zu sehen, vor denen sich die Gesellschaft drückt und oft machen sie tatsächlich Erfahrungen, die sie ganz anders fordern als andere Menschen. Das trennt sie von jenen Menschen, die sich durch Selbstbelügung, Illusionen und Ignoranz eine ruhige Hand und Lebenslust bewahren.

Fachliche Infos interessieren viele dieser gefährdeten Menschen nicht („Gehen Sie zur Beratung, machen Sie dies, suchen Sie den Psychiater auf“). Sie haben oft schon Summe x an Methoden ausprobiert. Sie wollen sich auch nicht mehr zusammenreißen. Sie möchten vor allem als Menschen akzeptiert werden und ihr Wunsch danach, raus aus dem Spiel zu sein und die Ersatzbank zu verlassen, auch. Sie brauchen keine Hoffnung, sondern Rückkoppelung, die ihnen die Chance gibt, sich selbst zu spüren.