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Foto von Christina @ wocintechchat.com

Unter dem Titel „Jenseits unserer menschlichen Natur – Erkenntnisse von Davos 2015“ erläutert  Lynda Gratton, warum aus Sicht der Hirnforschung viele Formen von Grossgruppenarbeit zum Scheitern verurteilt sind. Da der einzelne Mensch evolutionsbedingt auf Kontakt mit bis zu 150 Menschen ausgelegt ist und zu seiner Erhaltung Kontakt zu ihm ähnelnden Menschen sucht, überfordern ihn die aktuellen Systembedingungen, unter denen globale Weltwirtschaft im einzelnen Büro oder Betrieb stattfindet. Diese aber kann nur gemeistert werden, wenn Menschen in der Lage sind, so Gratton, in riesigen Gruppen zu arbeiten, die ganz verschiedene Typen vereinen und in denen sehr komplexen Positionen verhandelt werden. Entweder muss also der Rahmen verkleinert werden – was politisch vielerorts nicht gewollt wird, oder der Mensch muss über sich hinauswachsen.

Den ersten Schritt dazu unternehmen Mitarbeiter bereits, und zwar durch Einsatz von Kommunikationstechnologien. Tausende Menschen hören und lesen voneinander über digitale Kanäle, sie kommunizieren. Komplexe Technologien sowie Algorithmen dröseln komplexe Probleme auf. Dadurch werden diese in einem höheren Masse als beispielsweise vor 50 Jahren im Detail verständlich. Doch – so fragt Lynda Gratton – reicht es denn aus, über Technik ein Verständnis füreinander aufzubauen? Dies allein löst noch lange keine Probleme. Gratton veranschaulicht den Grund dafür an einem Workshop in Davos. Er handelte davon, wie globale Allianzen scheitern, weil die jeweiligen Partner viel zu unterschiedliche Positionen vertreten. Verschärfend komme hinzu, dass digitale Kommunikationstechniken ein grundlegendes Problem nicht lösen: Vertrauen, das für fundamentale Entscheidungen nötig ist, braucht Nähe. Wie aber können viele divergierende Partner dieses gewinnen, wenn an Entscheidungsfindungen auch Personen teilnehmen, die sie lediglich auf digitaler Basis kennen?    

Die Autorin resümiert, dass Manager künftig mehr über den Evolutionsfaktor diskutieren müssen, weil die Hirnforschung Antworten, aber auch wichtige Fragen liefern kann. Gratton selbst stellt eine massgebliche Frage in ihrem Report zur Diskussion: Wird es Menschen gelingen, ihre humanen Parameter zu überwinden? Jetzt sei es nötig, Erfolgsgeschichten zu erzählen und Rolemodels zu präsentieren, die mutig genug sind, Kooperationen und Allianzen zu bilden, die über die menschliche Natur hinausgehen. Lynda Gratton fordert also den Weg nach vorn, in das hirntechnisch Unmögliche.

                         Die harte Wirklichkeit zu überwinden, bedeutet,
                         gegen starke Sonneneinstrahlung Jalousien zu entwickeln
                         und nicht zu versuchen, die Sonne abzuschalten.

Das hat Tradition

Diese Parole von der Überwindung der schwachen menschlichen Natur hat Tradition. Als Pontius Pilatus herrschte, plauderten reiche Patrizier über die Frage, ob denn Sklaven auch Menschen oder nicht doch nur Tiere seien. Als der badische Hof über die Person des mutmassliche Prinzen Kaspar Hauser im 19. Jahrhundert debattierte, galt es in der europäischen Elite immer noch als gesichert, dass der gemeine Pöbel eine minderwertige Natur habe.

Etwas von der tradierten Elitendebatte über die Sublimierung der menschlichen Natur schwingt in der aktuellen Diskussion mit. Wieder geht es um die edle Natur, die nötig sei, um missliche Umstände auszumerzen. Damals wie heute ist es der Systemrahmen, der die einen zwingt und die anderen beflügelt. Diese Tatsache wird von einer Erkenntnis der Hirnforschung gestützt: Der Bauplan des Menschen hat sich in vielen Jahrtausenden nicht geändert. Wenn Menschen heute intellektuell viel besser entwickelt sind, dann deswegen, weil ihnen der Rahmen dafür gestellt wurde. Es geht also heute darum, zu akzeptieren, wie Leben und wie Menschen funktionieren und zu diskutieren, was die Gesellschaft davon zulässt. Denn: Die Wirklichkeit interessiert sich nicht für politische Positionen, aber sie reagiert verlässlich auf Missstände.  

Frau Gratton wäre mit der Stimme der Hirnforschung zu antworten, dass die zu erarbeitenden Lösungen ein „sowohl als auch“ ermöglichen müssen. Ein „Entweder oder“ (der Mensch muss seine Natur überwinden oder er überlebt nicht“) ist übrigens eine Denkfigur, die typisch für starres Denken ist. Starres Denken wiederum ist wenig zielführend in derart komplexen Arbeitswelten. Und unpraktisch ist es noch dazu.

Die Schattenseiten der neuen Arbeitswelt

Es ist mit ebenfalls dem Verweis auf Hirnforschung auch klar, dass der geforderte Sprung der Menschheit einen gesicherten Rahmen braucht und nicht jener, der sich durch die digitale Agenda der europäischen Regierungen eröffnet. Er befördert noch vor allem Flexibilisierung unter den Vorzeichen maximaler Unsicherheit. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, bei Lynda Gratton nachzulesen, wie die Schattenwelten der neuen Arbeitswelt aussehen und womit Menschen künftig konfrontiert sein werden. Diese Probleme stellt “Job Future – Future Jobs“ vor:

Zersplitterung des Arbeitslebens

Grosser Erfolg basiert in vielen Berufen auf meisterhaften Fähigkeiten oder Kompetenzen. Dazu ist ein hohes Mass an Konzentration nötig. Durch viele Teilaufgaben, kleinteilige Kommunikationsarbeit und weitere Parameter wird diese erschwert.

Die engen Zeitfenster moderner Arbeit machen es unmöglich, andere beim Arbeiten zu beobachten oder eigene Eindrücke zu reflektieren. Es wird permanent aus dem Stand heraus gearbeitet, ohne Blick nach vorn oder hinten. Dadurch geht der nötige Überblick verloren. Aus Beobachtungen kann nicht mehr gelernt werden.

Die Forderung von Unternehmen nach Soforterfolgen und Turboarbeit zerstören Spielräume für kreative Spiele. Diese aber sind die Grundlage für neue Ideen.

Isolation als allgegenwärtige Quelle von Einsamkeit

In der modernen Arbeitswelt verschwinden viele Produkte so schnell wie sie kommen, dauernd müssen Geschäfte entwickelt werden. Und die unzähligen Kontakte, die viele Mitarbeiter während ihres Arbeitslebens aufbauen, müssen dauernd daraufhin geprüft werden, ob sie nützlich sein können. Unter dem Druck dieses Szenario kommen Spontaneität und echte Begegnungen zu kurz.

Familienstrukturen lösen sich auf und Menschen wandern aus dem ländlichen Bereich in die Städte. Die digitale Kultur und der nötige hohe Arbeitsaufwand reduzieren die Möglichkeiten, andere Menschen wirklich kennenzulernen. Die Folge ist Isolation. Und diese wirkt sich negativ aus, da der Mensch ein soziales Wesen ist, das echte Nähe braucht. Kontakte über die Mattscheibe alleine reichen nicht.

Wachsende Statusängste

Die Grenzen zwischen armen und reichen Mitarbeitern verlaufen nicht mehr zwischen Ländern, sondern quer durch Gesellschaften. Wachsende Unterschiede im Status vergrössern gesellschaftliche Ängste. Diese wurzeln vor allem im Gefühl persönlichen Scheiterns. Man fürchtet, für eine Gesellschaft im Umbruch zu dumm zu sein und schaut auf die Trendgewinner; bei denen nicht einmal klar ist, wie lange diese an der Front überhaupt mithalten können.  

Zunehmende Ich-Bezogenheit

Mit Big Data werten verschiedenen Dienste das Verhalten von Usern aus. So mancher Dienst erfordert sogar, dass der Einzelne im Internet eine auszuwertende Identität besitzt; ansonsten wird er einfach nicht mehr berücksichtigt (diese Realität greift schon im Recruiting). Das führt dazu, dass Menschen narzisstische Tendenzen entwickeln und sich inszenieren. Viele von ihnen frisieren ihre digitalen Selbstbilder hinsichtlich Interessen und Lebenslauf.

 
Technik ersetzt Menschen

Routineaufgaben werden wegprogrammiert, Arbeit bleibt nur für Menschen, die komplexe sowie individuelle Aufgaben lösen können und damit Kunden finden. Alternative Lösungen für die Verlierer der grossen Jobrationalisierungen gibt es derzeit noch nicht, da Regierungen vor allem an der Digitalisierung arbeiten. Psychische Belastungen, Ängste, Existenzkämpfe und Orientierungslosigkeit nehmen zu.  

Fakt ist: Europaweit drehen Regierungen und Konzerne an den Stellschrauben der Wirklichkeit. Die Probleme folgen verlässlich auf den Fuss, denn wie Gratton in ihrem Davos-Report schrieb: Der einzelne Mensch ist evolutionsbedingt determiniert wie Regen am Firmament. Er braucht spezielle Rahmenbedingungen. Wie geht´s jetzt weiter? Welche Sonnenschirme entwickeln wir?