Unternehmen sind verpflichtet, die psychische Belastung ihrer Mitarbeitenden zu messen. Doch was fällt eigentlich unter den Begriff der „psychische Belastungen“? Und welche Methoden eignen sich für eine „Gefährdungsbeurteilung“?

Serious, overworked, very sad male health care worker

Aktuell stehen viele Unternehmen vor existentiellen Herausforderungen: Die Coronapandemie und der Krieg in der Ukraine behindern in vielen Branchen Geschäfte und Lieferketten. Rahmenbedingungen in Form von Verordnungen oder gesetzlichen Vorgaben ändern sich laufend. Homeoffice und hybrides Arbeiten erfordern neue Formen der Führung und Abstimmung. Und nicht zuletzt erleben wir einen Paradigmenwechsel weg von einem hierarchisch organsierten Pyramidensystem mit langen Entscheidungswegen und Top-down-Prozessen hin zu agilen und selbstorgansierten Organisationsformen. All das erfordert Anpassungsfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit in einem fluiden Umfeld.

Um was es geht

Die letztgenannten Punkte sind Beispiele für „psychische Belastung“, weil es eine psychische Anstrengung erfordert, diese Anforderungen zu bewältigen. Die Stärke dieser Belastungen erlaubt Rückschlüsse auf die Arbeitssituation der Beschäftigten.

Im Arbeitsalltag gibt es viele Faktoren, die das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beeinflussen. Ein einfaches Beispiel ist die Raumtemperatur: Bei 20 Grad Raumtemperatur werden sich die meisten Menschen wohlfühlen – aber eben nicht alle. Vielleicht ist es zehn Prozent zu kalt und weiteren zehn Prozent zu warm. Steigt die Raumtemperatur auf 25 Grad, wird sich immer noch die Mehrzahl der Personen wohlfühlen. Bei 30 Grad wird es vermutlich allen zu warm sein. Je höher also die Belastung – in diesem Falle durch die Raumtemperatur – desto größer auch die durchschnittliche Wirkung oder Beanspruchung auf die Beschäftigten. Tritt eine Fehlbelastung – in diesem Falle Hitze – verstärkt auf, ist leicht einsehbar, dass die Beschäftigten keine optimalen Arbeitsbedingungen haben, damit auch keine optimale Leistung erbringen können und unter potenziell krankmachenden Bedingungen arbeiten, es sich also im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) um eine „Gefährdung“ der Gesundheit handelt.

In jedem Unternehmen gibt es Standards für Prozesse und Mindestanforderungen an Güter und Dienstleistungen. Das heißt, es gibt Parameter, Kennzahlen oder Normen, an denen sich ablesen lässt, ob bestimmte Qualitätskriterien erfüllt sind. Das wiederum ist wichtig für die Steuerung der Geschäftstätigkeiten, die Kommunikation mit den Kunden und die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben. Die „Beurteilung psychischer Belastung“ bedeutet im Prinzip nichts anderes, als die Qualität der Arbeitsbedingungen zu beurteilen. Dabei folgen wir der Logik eines Audits. Ohne dieses Verständnis ist der Begriff „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ irreführend und damit auch unglücklich gewählt.

Was ist psychische Belastung?

Den Fachbegriff „psychische Belastung“ können wir mit einem Blick in das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) konkretisieren, das die Beurteilung von Arbeitsbedingungen fordert (§ 5). Private oder persönliche Faktoren sind kein Bestandteil dieser Beurteilung; es interessieren ausschließlich äußere Faktoren der Arbeitsbedingungen beziehungsweise deren Gestaltung.


Aber welche äußeren Faktoren sollten Unternehmen in der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigen? Orientierung bietet die “Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung” der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA). Diese benennt Belastungsfaktoren für die Merkmalsbereiche Arbeitsinhalt, Arbeitsorganisation, soziale Beziehungen inklusive der Führungsqualität und Arbeitsumgebung. Das können fehlende oder widersprüchliche Information, unklare Verantwortlichkeiten, häufige Unterbrechungen oder fehlende fachliche Unterstützung sein.

Wenn es beispielsweise wegen fehlgeleiteter Anrufe zu ständigen Unterbrechungen im Arbeitsablauf kommt, senkt das die Produktivität und stört die Beschäftigten. Unnötige Anrufe zu vermeiden, ist daher für Beschäftigte und Unternehmen gleichermaßen sinnvoll. Mit der gewonnenen Information aus der Analysephase können Unternehmen Verbesserungen einleiten und steuern. Sie benötigen allerdings ein Maß für die Stärke der Belastung.

Belastungen messen – aber wie?


Nehmen wir als Beispiel das Feedback von Vorgesetzten oder Kolleginnen und Kollegen. Für jedes Unternehmen ist es existentiell wichtig, Information zur richtigen Zeit am richtigen Ort bereitzustellen, weil wirtschaftliches Handeln ohne Kommunikation nicht möglich ist. Um die Komplexität angemessen abbilden zu können und messbar zu machen, würde ein Fragebogen zur Analyse psychischer Belastungen meistens mehrere Fragen zu einem Thema stellen:


Die Antworten werden zu einem Wert verrechnet, der die Qualität von „Feedback/Rückmeldung“ als Zahl beziehungsweise Maß ausdrückt. Für die einzelnen Themen gibt es also idealerweise jeweils eine kleine Frageliste beziehungsweise Liste mit Antwortvorgaben. Eine Checkliste darf nicht mit einem Fragebogen verwechselt werden, weil diese nicht die Mess-Qualität eines Fragebogens besitzt. Mit einer Checkliste lässt sich keine Quantifizierung vornehmen.

Vor- und Nachteile einzelner Methoden

Nun gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, die gewünschte Information zu erhalten. Prinzipiell stehen drei geeignete Methoden mit spezifischen Vor- und Nachteilen zur Verfügung:

1. Befragung:

Eine anonyme Mitarbeiterbefragung erfolgt über einen standardisierten Fragebogen (online oder papierbasiert), der auf interne Konsistenz, geprüft sein sollte. Die Interne Konsistenz ist die Homogenität der einzelnen Items des Tests, in anderen Worten der Grad, mit dem die einzelnen Items des
Verfahrens das gleiche Merkmal messen.

Jede Befragung weckt Erwartungen bei den Beschäftigten. Daher ist eine gute Vor- und Nachbereitung (Information, Ressourcen- und Zeitplanung) notwendig. Der Vorteil einer standardisierten Befragung liegt darin, dass sie bei einem entsprechenden Rücklauf ein repräsentatives Meinungsbild (für die Gesamtheit oder abteilungsbezogen) liefert. Sie lässt sich zudem wiederholen, um Entwicklungen zu verfolgen. Wichtig sind die Inhalte und die Qualität des Fragebogens.

2. Beobachtungsinterviews:

Die Belastungen der Mitarbeitenden lassen sich bei Beobachtungsinterviews mit einem geeigneten Fragebogen (keine Checkliste!) quantifizieren. Dafür ist ein geschultes Expertenteam notwendig, das entsprechende Interviewtechniken beherrscht, um belastbare Ergebnisse zu erzielen. In der Regel reicht es aus, „typische“ Arbeitsplätze zu begutachten, da davon ausgegangen werden kann, dass ähnliche Tätigkeiten auch zu einer ähnlichen Belastung führen.

Es liegt an der Methode, dass sich das soziale Klima oder die Führungsqualität im Rahmen eines Interviews nur sehr eingeschränkt erfassen lassen. Offene Antworten sind aufgrund der „sozialen Erwünschtheit“ und der fehlenden Offenheit in einer Gruppe nicht zu erwarten. Für solche Themen passt eine standardisierte Befragung besser. Die Methode der Beobachtungsinterviews eignet sich aber sehr gut dafür, Belastungen durch bestimmte Tätigkeiten und Prozessschritte zu erfassen.

3. Workshops:

Die dritte Möglichkeit, psychische Belastungen am Arbeitsplatz zu erfassen, ist ein Workshopformat, das semiquantitative Ergebnisse liefert. Der Vorteil liegt in der Detailtiefe der gewonnenen Information, weil die Teilnehmenden Dinge genau benennen können. Die Workshops sollten systematisch und mit einer klaren Agenda und Zieldefinition erfolgen. Sinnvollerweise sollte die Zahl der Teilnehmenden auf acht bis 15 beschränkt werden. Im Vorfeld ist zu überlegen, ob einzelne Vertreterinnen und Vertreter oder gesamte Abteilungen teilnehmen.

Ein Workshop ist für die Teilnehmenden und die Organisation aufwändiger als ein Beobachtungsinterview oder eine Befragung, bindet also mehr Arbeitszeit. Aber dieses Format birgt den Vorteil, dass Unternehmen dabei erste Ideen für Veränderungen und neue Vorgehensweisen sammeln können. Dafür sind geschulte und neutrale Moderatorinnen oder Moderatoren notwendig, die Ergebnisse transparent dokumentieren.

Jede Methode bringt ihre spezifischen Vor- und Nachteile mit sich. Letztendlich handelt es sich um Expertenverfahren, das heißt für die sachgemäße Umsetzung sind Wissen und Erfahrung notwendig.

Der Prozess

Es gibt keine klar definierten Kriterien für die Inhalte, die Qualität der Umsetzung oder den tolerierbaren Grad der Belastung. Daher hängt es letztendlich von den Zielen der Organisation ab, wie sie das Audit zur Qualität der Arbeitsgestaltung, sprich die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung, bearbeitet.
Aus unserer Sicht ist es immer eine Chance, Themen transparent zu machen und in Folge Verbesserungen zu erreichen. Liegen die Ergebnisse der Analyse auf dem Tisch, beginnt die eigentliche Arbeit: Daten müssen interpretiert und Vorgehensweisen priorisiert werden (Abbildung 2).

Die Schritte der Gefährdungsbeurteilung (Quelle: DGUV)

Die Erfahrung zeigt, dass oft bereits einfache Dinge zu einer deutlichen Entlastung führen. So können Unternehmen störungsfreie Zeiten im Büro einrichten oder ihre Dokumentation in ein einheitliches System überführen, um zum Beispiel Bestellvorgänge für Teile effizienter und transparenter zu gestalten. Sie können die Schichtübergabe verbessern, um Informationsverlust zu vermeiden, oder Workshops organisieren, um den Zusammenhalt und Effektivität von Teams zu stärken.


Fazit

Der Kenntnisstand zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen ist in den Unternehmen höchst unterschiedlich. Auch der Grad der Umsetzung variiert deutlich. Hinderlich können unterschiedliche Vorstellungen zu Zielen und Inhalten der Gefährdungsbeurteilung sein, so dass die Gefahr einer Politisierung im Unternehmen besteht. Das ist schade, weil sowohl Arbeitgebende als auch Arbeitnehmende profitieren können, es sich also um ein klassisches „Win-win-Thema“ handelt.


Je nach Ausgangslage ist zu entscheiden, ob Organisationen eher ein beobachtendes Verfahren (Interviews), eine Befragung (Mitarbeitendenbefragung), einen Analyse-Workshop (Gruppendiskussion) oder eine Kombination nutzen. Das Ergebnis sollte in jedem Fall eine transparente Entscheidungsgrundlage für zielgerichtete Vorgehensweisen sein, die einen praktischen Nutzen für das Unternehmen und die Beschäftigten erzielen. Es ist zielführend, von Anfang an den gesamten Prozess im Auge zu behalten – von der Vorbereitung und Analyse über die Beurteilung selbst bis hin zu den daran anschließenden Veränderungen und ihrer Evaluation. Wichtige Voraussetzungen sind das Einverständnis der Geschäftsführung und ein Steuerkreis, der die Aktivitäten koordiniert und überwacht, weil sonst das Risiko besteht, dass Projekte stocken oder versanden, weil sich niemand zuständig fühlt.


Gerade in der Anfangsphase können externe Fachleute den Prozess effizienter gestalten, indem sie dem Projektteam das nötige Fachwissen vermitteln und bei der Auswahl und Zusammenstellung von Verfahren sowie als Projektbegleitung wertvolle Dienste leisten. Sinnvoll ist eine gestufte Vorgehensweise, bei der Unternehmen beispielsweise die Ergebnisse einer Befragung in einem Analyse-Workshop diskutieren. So können sie viele Verbesserungen für ihre Organisation erzielen, von der Mitarbeitende und Unternehmen gleichermaßen profitieren.

Literaturtipp

Psychische Gesundheit bei der Arbeit. Gefährdungsbeurteilung und gesunde Organisationsentwicklung. Von Ralf Neuner. Springer Verlag 2021.

Webtipp

http://www.gesunde-strukturen.de