17. November. Im vorletzten Meeting der Bereichsleitung in diesem Jahr ist die Anspannung groß: Die Zahlen passen nicht, die Boni sind in Gefahr. Händeringend suchen die Führungskräfte nach Ideen, um die Versäumnisse der letzten Monate wettzumachen. Was war geschehen – und wie hängt das alles mit OKR (Objectives & Key Results) zusammen?

Bild: Wildpixel, Canva
Bild: Wildpixel, Canva

Aus unserer externen Sicht: Das Unternehmen hatte seine Jahresziele vor elf Monaten „von oben“ vorgegeben, „ins Operative“ herunter gebrochen und für ein paar Wochen mit Fokus verfolgt. Doch langsam drifteten die Kundenbedürfnisse und die internen Zielvorgaben auseinander, andere Dinge rückten in den Mittelpunkt und für ein Hinterfragen und Anpassen blieb keine Zeit.

Und wenngleich auch OKR nicht alle organisationalen Probleme vom Tisch fegt, lohnt es sich, diesen Ansatz für Zieldefinition und -verfolgung genauer zu beleuchten. Denn er hilft dabei, klar zu fokussieren, die Motivation aller Beteiligten zu heben und sich an verändernde Bedingungen flexibel und rasch anzupassen.

Im Unterschied zu anderen agilen Methoden (zum Beispiel Scrum), zu denen es global akzeptierte Standards und einheitliche Zertifizierungen gibt, verkörpert OKR zudem eher ein Framework – oder eben einen Ansatz. Dieser zeichnet sich durch eine hohe Flexibilität und einen geringen Formalismus aus.

Als Weiterentwicklung von MbO (Management by Objectives) in Kombination mit SMARTen Zielen wurde OKR in den 1970er-Jahren zunächst bei Intel eingeführt. Bekannt ist das Framework inzwischen aus dem Silicon Valley Umfeld, wo Google beispielsweise bereits seit 1999 damit arbeitet.

Kaum verloren wir das Ziel aus den Augen, verdoppelten wir unsere Anstrengungen.

(Mark Twain)

Wozu ein neuer Ansatz, um Ziele zu managen?

Menschen in Organisationen verfolgen Ziele auf unterschiedlichen Ebenen: persönliche Ziele von Mitarbeiter:innen, Umsatzziele im Verkauf und natürlich strategische Ziele auf Gesamtorganisationsebene. Aus der OKR-Brille betrachtet, beobachten wir: Die formulierten Ziele orientieren sich für gewöhnlich am Output („Was haben wir umgesetzt?“, z.B. Tool XY ausgerollt) und nicht am Outcome („Welchen Nutzen haben wir dadurch für die Organisation geschaffen?“, z.B. durchschnittliche Bearbeitungszeit von IT-Tickets um 25% reduziert). Das birgt zwei wesentliche Risiken:

  1. Man läuft Gefahr in der Zielformulierung bereits die vermeintliche Lösung vorwegzunehmen. Das beschränkt die Kreativität und hindert die offene Diskussion unterschiedlichen Lösungsansätze.
  2. Man schöpft nicht das volle Motivationspotenzial aus. Denn in Output-orientierten Zielen wird der erwartbare Nutzen für die Organisation nicht explizit gemacht. Das Gefühl für Selbstwirksamkeit, für die Relevanz des eigenen Beitrags zur Erreichung der strategischen Ziele der Organisation, bleibt intransparent. Somit entsteht weniger Zugkraft.

OKR setzt an verschiedenen Punkten klassischer Zielmanagement-Methoden (wie zum Beispiel MbO – Management by Objectives) an und adaptiert sie. Dabei hat der Ansatz eine flexible und motivierende Zielsetzung und -erreichung im Fokus.

Wie funktioniert OKR?

OKR formuliert ein qualitatives Ziel (Objective), das sich an 3 Ergebnissen (Key Results) messen lässt. Nehmen wir das Objective „Wir begeistern mit diesem Artikel über OKR unsere Leser:innen“.  Als Key Results wählen wir:

  • 5 Peer-Reviews des Artikels mit einer Bewertung von 10/10 Punkten
  • 10 Mal positive Fanpost zum Artikel
  • Maximal eine Überarbeitungsschleife mit der Redaktion

Voila! Wir haben soeben ein OKR gesetzt.

OKR arbeitet mit Leitfragen. Objectives (O’s) beschreiben den Zielzustand:

  • Wo wollen wir hin?
  • Was wollen wir erreichen?

Key Results (KR’s) sind spezifische Messkriterien für das Objective:

  • Wie kommen wir dorthin?
  • Was müssen wir tun, um das zu erreichen?
  • Wie können wir das messen?

Kurze Zyklen

Ein Grundprinzip von OKR sind dabei kurze „Zyklen“ von drei bis vier Monaten, die eine schnellere Anpassung an sich ändernde Rahmenbedingungen erlauben – im Unterschied zu Management by Objectives.  

Abbildung 1: Vergleich OKR / MbO

Fokussierung

Ein zweites Merkmal ist die Fokussierung. Pro Zyklus definieren wir nur drei bis vier Objectives. Der simple Gedanke dahinter: je klarer wir fokussieren, desto besser wird es gelingen. Organisationen erleben die strenge Fokussierung auf strategisch Relevantes anfangs als schmerzhaft und nach einigen Zyklen als wesentlichen Erfolgsfaktor – Durchhaltevermögen und Disziplin sind gefragt.

Bottom-up und Top-down

OKR arbeitet gleichzeitig „bottom-up“ und „top-down“. Organisationen kaskadieren Ziele nicht nur von oberen Ebenen abwärts, auch die unteren Hierarchie-Ebenen überlegen, was sie zur Zielerreichung beitragen können. Durchlässigkeit und Offenheit für Impulse – über hierarchische Grenzen hinweg – sind wichtige Zutaten für den Erfolg.

Stretch Goals

Eine weitere Besonderheit von OKR – wenngleich kein Muss – ist die Arbeit mit sogenannten „Stretch Goals“. Dabei formulieren die Beteiligten Key Results bewusst so ambitioniert, dass 70 Prozent Zielerreichung schon ein gutes Ergebnis sind – 100 Prozent sollten kaum zu erreichen sein. Die Erfahrung zeigt: Tendenziell erreichen Unternehmen durch eine höhere Ambition auch mehr, denn wir öffnen den Möglichkeitenraum weiter.

Grundsätzlich sollten Unternehmen bei den Key Results auf deren Messbarkeit achten, um die Objektivität in der Evaluierung der Zielerreichung zu steigern. Binäre Key Results wie „Tool XY implementiert“ sind jedoch möglichst zu vermeiden. Bei OKR zählt die Outcome-Perspektive und nicht der bloße Output. Als Hilfestellung: Wir fragen immer nach der zu erzielenden Wirkung (zum Beispiel welchen messbaren Unterschied wollen wir durch die Implementierung von Tool XY erreicht haben?). Dies erfordert häufig ein Umdenken und Verabschieden von gewohnten Zielsetzungsambitionen – aber es lohnt! 

OKR aus systemischer Sicht

Aus systemischer Sicht kann OKR dazu beitragen, Kommunikationsmuster und Kultur einer Organisation positiv zu beeinflussen. Abbildung 2 beschreibt, welche Faktoren auf die Kultur von Organisationen einwirken.

Abbildung 2: Neuwaldegger Dreieck

In unserem Verständnis, geprägt von Niklas Luhmann, bestehen Organisationen aus Entscheidungen, die wiederum Folgeentscheidungen auslösen. OKR kann an allen drei Ecken des Neuwaldegger Dreiecks ansetzen und so auch auf die Kultur der Organisation einwirken.

Geprägt vom radikalen Konstruktivismus sind wir der Überzeugung, dass wir alle permanent unsere eigene Realität konstruieren. Gemeinsame Wirklichkeit entsteht im Dialog. Daher ist es wesentlich, gemeinsam messbare Kriterien festzulegen, um die Key Results zu objektivieren. Beim Festlegen der OKRs zu Beginn eines Zyklus gibt es meist hohen Diskussionsbedarf, der aber hilfreich für das Team ist.

Paradoxien, die wir an Ziel- und Interessenskonflikten erkennen, werden uns so bewusst und lassen sich adressieren. Aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive betrachtet, nehmen wir im Umgang mit diesen Paradoxien keine wertende Haltung ein. Das heißt, wir unterscheiden nicht zwischen richtig und falsch, sondern zwischen nützlich und nicht nützlich.

Wer tiefer in die OKR-Theorie eintaucht, merkt: OKR bewegt sich selbst permanent im Spannungsfeld einiger Paradoxien. Einige ausgewählte Spannungsfelder:

  • Sollen unsere OKRs ambitioniert oder erreichbar sein?
  • Wollen wir mit OKRs innovative Themen vorantreiben oder auch das Tagesgeschäft abbilden?
  • Verlieren wir durch zu hohe Fokussierung an Flexibilität? Verlieren wir durch zu hohe Flexibilität an Fokus?

OKR in der Praxis – Implementierungsbeispiele

Wie kann die Einführung von OKR in der Praxis aussehen? Und welchen Nutzen erzielen Unternehmen dadurch? Wir möchten drei sehr unterschiedliche Praxisbeispiele herausgreifen, die zeigen, wie groß die Bandbreite der Anwendungsfälle ist.

1. OKR in temporären, cross-funktionalen Teams

Mit einem Medienunternehmen haben wir OKR in „Laboren“ implementiert. Diese dienten dazu, innovative Zugänge, Formate und Geschäftsmodelle auszuprobieren zum Beispiel, um Neukund:innen zu gewinnen und Produktinnovation voranzubringen. Interdisziplinäre Teams aus wesentlichen Bereichen der Organisation arbeiteten dabei zeitlich begrenzt zusammen und entwickelten in kurzen Zyklen Innovatives. Die Ergebnisse stimmten sie in Review-Schleifen mit dem Management ab. Dabei erlebten sie OKR als hilfreiche Methode, um Orientierung beim Bearbeiten von völlig neuartigen Themenstellungen zu geben.

Die Erleichterung, nicht zu Beginn ein Endergebnis beschreiben zu müssen, sondern sich auf wirkungsvolle Schritte in einem ersten Zyklus zu fokussieren, war spürbar. Ausprobieren und Fehler machen wurde hier zu einem breit akzeptierten Bestandteil der Arbeit und brachte wertvolle Erkenntnisse. Besonders erfolgreiche Initiativen gingen später in die Linie über und OKR wurde als Arbeitsmethode über die Labore hinaus genutzt.

2. OKR in die Breite tragen

Eine europaweit tätige Sales-Organisation haben wir bei der Implementierung von OKR als Zielmanagement-Ansatz in der Linienorganisation begleitet. Angefangen von der Leitung hat jede Organisationseinheit quartalsweise OKRs gesetzt. Geschätzt wurde dabei die gewonnene Transparenz. Da die Organisation parallel einen großen Veränderungsprozess vorantrieb, erlebten die Beteiigten die dreimonatigen Zyklen und den damit einhergehenden Kommunikationsbedarf in unterschiedlichen Planning- und Review-Meetings als herausfordernd. Die Arbeit mit Stretch-Goals war ein Umbruch auf kultureller Ebene und befeuerte interne Diskussionen, zum Beispiel zum vorherrschenden Vergütungssystem.

3. OKR über Piloten in die Organisation bringen

Gemeinsam mit einem mittelständischen Energieunternehmen haben wir ein anderes Vorgehen gewählt. Wir starteten vor Kurzem mit zwei Pilotteams einen Probelauf mit OKR. Die Organisation wollte ausprobieren, wie OKR wirksam werden können, bevor sie eine Grundsatzentscheidung für einen organisationsweiten Roll-out trifft. Ein Steuerungsteam aus internen Expert:innen und Berater:innen identifizierte geeignete Pilotteams.

Parallel haben wir sechs Personen aus unterschiedlichen Organisationseinheiten in einem OKR-Bootcamp mit OKR Wissen ausgestattet, damit sie intern als Multiplikator:innen wirksam werden und die Pilotteams begleiten können. Wir befinden uns aktuell noch in einer frühen Phase, die bisherigen Resonanzen aus der Organisation stimmen uns aber sehr zuversichtlich. Die Neugierde in anderen Teams wächst und es ist gelungen, positives Momentum zu generieren.

Unser Fazit als systemische Organisationsberater:innen

Der OKR-Ansatz fügt sich ausgezeichnet in unser systemisch-konstruktivistisches Verständnis von Organisationen ein. Die größten Hebel für nachhaltigen Erfolg sehen wir in der radikalen Fokussierung auf das Wesentliche in Kombination mit der Outcome-Orientierung. Das gesteigerte Bewusstsein für die Selbstwirksamkeit wirkt auf viele Mitarbeiter:innen motivierend und spornt zu Höchstleistungen an.

Bei OKR sprechen wir bewusst von einem Ansatz und nicht von einer Methode. Das lässt einen großen Gestaltungsspielraum für Breite und Tiefe der Implementierung. Gleichzeitig entsteht dadurch auch Gestaltungsdruck – Organisationen müssen in einem ersten Schritt Klarheit erlangen, warum und wofür sie OKR einsetzen wollen.

Im Sinne unserer OKR für diesen Artikel: Wir freuen uns auf Ihre Fanpost!


Quelle:

Der Artikel erschien zuerst in der Fachzeitschrift personal manager, Ausgabe 5/2023.