Problempunkt
Der Arbeitgeber war bis zum 31.12.2005 tarifgebunden und gehörte dem Verband der Metall- und Elektro-Industrie Nordrhein-Westfalen e.V. an. Zum 1.1.2006 wechselte er in einen Verband ohne Tarifbindung. Der Kläger ist Mitglied der IG Metall und als gewerblicher Arbeitnehmer unbefristet 35 Stunden pro Woche beschäftigt. Am 27.12.2005 schloss das Unternehmen eine Betriebsvereinbarung mit dem Betriebsrat, wonach vollzeitbeschäftigte Mitarbeiter ab dem 1.11.2006 einmalig für das Jahr 2006 ein Volumen von 120 Arbeitsstunden von ihrem persönlichen Flexikonto zur Verfügung stellen. Die Stunden wurden als Minusstunden gebucht und die Beschäftigten mussten sie durch 120 Plusstunden herausarbeiten. Eine Vergütung dafür sollte nur im Fall einer Gewinnsituation erfolgen. Mit seiner Klage verlangte der Arbeitnehmer die Gutschrift der 120 abgezogenen Stunden. Er obsiegte in beiden Instanzen. Die Revision wurde nicht zugelassen.
Entscheidung
Das LAG entschied, dass der Arbeitgeber dem Kläger die 120 Stunden auf dem Arbeitszeitkonto gutschreiben muss. Dies folgt aus dem Arbeitsvertrag i.V.m. dem Manteltarifvertrag Metall und Elektro Nordrhein-Westfalen von 2001 (MTV 2001). Die anders lautende Betriebsvereinbarung vom 27.12.2005 ist unwirksam, so dass sie keine unmittelbare und zwingende Wirkung nach § 77 Abs. 4 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) entfaltet. Die Unwirksamkeit ergibt sich aus § 77 Abs. 3 BetrVG: Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Damit soll die Tarifautonomie gesichert werden. Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG gilt auch für nicht tarifgebundene Arbeitgeber (BAG, Beschl. v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, S. 1225).
Hier ging es um Regelungen über Arbeitszeit und Arbeitsentgelt, die üblicherweise – und in der Metallindustrie in Nordrhein-Westfalen auch tatsächlich – tariflich geregelt sind. Zwar war die Beklagte aus dem tarifgebundenen Arbeitgeberverband zum 31.12.2005 ausgetreten. Die Tarifbindung blieb aber nach § 3 Abs. 3 Tarifvertragsgesetz (TVG) weiter bestehen, weil der MTV 2001 auch im Jahr 2006 noch in Kraft war.
Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG war auch nicht deshalb aufgehoben, weil es sich bei den Bestimmungen der Betriebsvereinbarung um Angelegenheiten der erzwingbaren Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 BetrVG handelte, die die Sperrwirkung aushebeln (BAG v. 5.3.1997 – 4 AZR 532/95, NZA 1997, S. 951). Selbst wenn die vorübergehende Arbeitszeitverlängerung um 120 Stunden nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG mitbestimmungspflichtig war, galt dies nicht auch für die Vergütung dieser Stunden. § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG begründet keine – auch keine Annexkompetenz – des Betriebsrats für die Vergütung von Überstunden. Ein Mitbestimmungsrecht über Fragen der Vergütung von vorübergehend verkürzten oder verlängerten Arbeitszeiten ist dem Gesetz nicht zu entnehmen (BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 92/02, NZA 2003, S. 1097).
Auch § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG ist nicht einschlägig. Er erfasst keine Regelungen zur absoluten Lohnhöhe, um die es hier aber ging.
Zudem widersprach die Betriebsvereinbarung einer Klausel im MTV 2001, wonach Beschäftigte bei Vereinbarung einer höheren individuellen Arbeitszeit auf bis zu 40 Stunden pro Woche einen Anspruch haben, dementsprechend bezahlt zu werden.
Konsequenzen
Die Entscheidung zeigt zwei Dinge deutlich:
- Mit dem Austritt aus dem tarifgebundenen Verband streift der Arbeitgeber nicht alle „alten“ Pflichten automatisch ab: Gemäß § 3 Abs. 3 TVG bleibt die Tarifgebundenheit bestehen, bis der Tarifvertrag endet. Damit ist er zwingend bis zu diesem Zeitpunkt weiter anwendbar. Nach Ablauf des Tarifvertrags gelten die Tarifnormen hingegen gemäß § 4 Abs. 5 TVG nur fort, sofern keine andere Abmachung sie ersetzt.
- Die Rechtsprechung vertritt die sog. Vorrangtheorie: Wenn ein Gegenstand der erzwingbaren Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 BetrVG unterliegt, greift die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG nicht ein. Das folgt aus der Schutzfunktion des spezielleren § 87 Abs. 1 BetrVG. Betriebsvereinbarungen sind also nicht dadurch ausgeschlossen, dass die von ihnen erfassten Punkte üblicherweise oder tatsächlich tariflich geregelt werden bzw. sind, wenn ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 BetrVG besteht. Dies ist bei der Vergütung von Überstunden jedoch nicht der Fall.
Praxistipp
Arbeitgeber sollten die Auswirkungen eines Verbandsaustritts und Lösungsmöglichkeiten sorgfältig prüfen. Dass kein Mitbestimmungsrecht über Fragen der Vergütung von vorübergehend verkürzten oder verlängerten Arbeitszeiten besteht, kann zweischneidig für das Unternehmen sein:
- vorteilhaft, wenn es entsprechende Forderungen des Betriebsrats abwehren möchte;
- nachteilig, wenn eine für den Arbeitgeber günstige Betriebsvereinbarung an der Vorrangtheorie scheitert.
RA Volker Stück, Stuttgart
Quelle: Arbeit und Arbeitsrecht – Personal-Profi – 6/08