Betrachten wir die Personen, die mit der Personalauswahl betraut sind: Es sind Menschen mit guten Willen, größerem oder kleinerem fachlichen Know-how, mehr oder weniger Erfahrung, Menschen mit eigener Strickart und Tagesform. Diese treffen nun auf meist junge, ambitionierte Bewerber, die noch keine Routine in Bewerbungssituationen entwickelt haben (oder schon zu viel davon), die noch sich und ihren Weg suchen. Der Personalauswahl- Profi muss herausfinden, wen er da vor sich hat, ob der Bewerber den Anforderungen des Jobs gewachsen ist und wie er sich voraussichtlich beruflich weiterentwickeln wird. Mit anderen Worten: Er orakelt! Und gar nicht so selten werden dafür auch orakelhafte Methoden wie Grafologie oder Analysen der Physiognomie herangezogen.

group of people doing jump shot photography
Foto von Husna Miskandar

Manchmal werden zur Entscheidungsfindung sogar Arbeitsproben, Rechenaufgaben und Tests durchgeführt, doch spielen die eher eine Alibi-Rolle. Wen wundert’s? Denn wer gibt schon gern zu, dass er die Testergebnisse unverständlich findet, auch keine Zeit investieren will, sich in die Materie einzuarbeiten und deshalb lieber gleich dem eigenen Orakel vertraut. „Ich habe schließlich Menschenkenntnis!“ wird die Entscheidung im Brustton der Überzeugung begründet. Und weil wir eine einmal gefasste Meinung nur ungern wieder aufgeben (eine reine Energiesparmaßnahme unseres Gehirns), wischen wir alles vom Tisch, was uns vom Gegenteil überzeugen will.

Doch Analysen zeigen, dass gute personaldiagnostische Tests zu Unrecht ein Schattendasein führen. Sie sind nicht unfehlbar – intelligente Menschen schneiden meist etwas besser ab – doch ein Test, der unter Aufsicht eines Testleiters durchgeführt wird, liefert verlässliche Argumente, gefeit gegen Sympathiebonus und Tagesform. Anders der Mensch, er verfängt sich leicht in der Interviewer- Illusion, die etwa so funktioniert: „Ich irre mich selten und nehme sofort wahr, ob jemand für den Job geeignet ist! Außerdem kann ich das besonders schnell (sonst kommen womöglich noch Zweifel an meiner Kompetenz auf…). Und ich trete für meine Entscheidungen ein!“

Die Interviewer-Illusion hat aber auch den Charakter der menschlichen Intuition. Die Forschungsergebnisse aus diesem Bereich legen folgenden Schluss nahe: Intuition kann in der Tat sehr gut und vor allem schneller als analytisches Vorgehen sein – allerdings nur in Bereichen und Themengebieten, in denen der Mensch über viel Erfahrung verfügt; Strafgefangene beispielsweise können sicherer beurteilen, ob ein Mensch die Wahrheit sagt, als ein braver Bürger.

Diese Art von Erfahrung gewinnt man jedoch nur durch viele Feedback- Schleifen im Laufe des Lebens. Auf die Personalauswahlverfahren bezogen heißt das: Nur ein erfahrener Beobachter ist ein guter Beobachter. Er hat viele Verfahren durchgeführt und begleitet, und vor allem die Weiterentwicklung der Bewerber systematisch verfolgt. Jahrelang.

Ein Testsystem ist da im Vorteil. Es wird schneller mit Informationen gefüttert, also an empirischen Daten validiert: Welche Bewerberdaten und Bewerberleistungen führen später zu guten beruflichen Leistungen? Innerhalb kürzester Zeit hat man aussagekräftige Daten, mit denen man den eigenen Erfahrungsmangel ausgleichen kann.

Klug ist also, wer sich beides zunutze macht: die Intuition aufgrund von solider, jahrelanger Erfahrung sowie Tests, die auf Basis wissenschaftlicher Gütekriterien entwickelt wurden. Richtig gewichtet heben sich Fehler aus beiden Elementen zumindest teilweise auf. Man kommt der Wahrheit ein ganzes Stück näher. Allerdings nur ein Stück, denn Wahrheit ist bei Gott allein. Zumindest hat dies Gotthold Ephraim Lessing im späten 18. Jahrhundert behauptet.

Quelle: PERSONAL– Heft 06/2008