Das Vorwegnehmen einer unbequemen/unbekannten Zukunft erfordert die Bereitschaft, sich umfassend mit Risiken, aber auch mit Potentialen auseinanderzusetzen. Die Führungsspitze kann und muss dies nicht im Alleingang bewältigen. Die Einbeziehung weiterer Verantwortungsebenen schafft eine gute Basis für diese komplexe Thematik. Die Motivation, sich aktiv damit auseinanderzusetzen wird umso größer ausfallen, je besser der enge Zusammenhang mit den persönlichen Auswirkungen auf die Teilnehmer dargestellt wird. Im geschützten Raum eines Workshops z. B. kann ein kreativer Prozess in Gang kommen, aus dem heraus sich alternative Handlungsstränge entwickeln. Welche Einflussfaktoren könnten die hypothetische Zukunftssituation prägen? Welche Wichtigkeit kommt diesen Faktoren zu? Worauf kann aufgebaut werden? Welche Fragen bleiben offen? In welche Richtung soll es gehen? Kann ein Konsens erzielt werden? Entscheidend ist es, zunächst einmal alle Möglichkeiten zuzulassen, ohne dass Vorschläge als richtig oder falsch, als logisch oder unausgegoren eingestuft werden. Was bisher gültig war, darf – ja muss – in Frage gestellt werden, da sich ja die Ausgangssituation grundlegend verändert. Was bisher funktioniert hat, ist keine Garantie dafür, dass es auch unter den neuen (angenommenen) Gegebenheiten gut geht. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, braucht es übrigens keine Extremsituation, wie der Nobelpreisträger George Bernard Shaw feststellte: “Der einzige Mensch, der sich vernünftig benimmt, ist mein Schneider. Er nimmt jedes mal neu Maß, wenn er mich trifft, während alle anderen immer die alten Maßstäbe anlegen in der Meinung, sie passten auch heute noch.“ Wird ein Zukunftsszenario erarbeitet, verlieren auch die alten Maßstäbe zunächst einmal ihre Gültigkeit. In der Diskussion und Reflexion wird sich herauskristallisieren, welche Ideen sich weiter verfolgen lassen.
Doch was nützt all die gedankliche Vorwegnahme zukünftigen Handelns, wenn Situationen eintreten, deren Möglichkeiten weder bedacht noch in die Prognose einkalkuliert werden konnten. Gerade nicht planbare Ereignisse wirken sich oft sehr schnell und nachhaltig auf alle Lebensbereiche aus. Alle Eventualitäten berücksichtigen kann kein Plan, mag er noch so fundiert erstellt sein. Es wäre auch gar nicht zielführend, alle nur denkbaren Annahmen in eine Unternehmensplanung einzubeziehen – viel zu starr und unflexibel wäre das Ergebnis. Hilfreich jedoch kann es sein, sich in guten Zeiten die Frage zu stellen „Was würde passieren, wenn …“ Das bekannte Sprichwort „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not“ mag als Vorlage dienen: Denke in der Zeit! Wer im Notfall einen Plan B aus der Schublade holen kann, wird nicht so leicht von unwägbaren Ereignissen überrollt werden. Nicht Ratlosigkeit oder Aktionismus wären es dann, die das Handeln bestimmen, sondern eine in Ruhe durchdachte Alternative. In Zeiten, die auch wirtschaftlich ein Stück weit unberechenbar geworden sind, kann dieser alte und zugleich neue Denkansatz durchaus richtungsweisend sein.
Hauptzutat zu solchen Szenarien sind Fragen. Fragen, von essentieller Bedeutung unter Einbeziehung der Ungewissheit.  Gerne diskutiere ich solche Fragen mit Führungskräften in Klausurtagungen: Stellen Sie sich vor, aufgrund eines Ereignisses dürfen oder können Sie ab nächster Woche Ihr Kern-Produkt nicht mehr verkaufen – was würden Sie da tun? Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht? Nicht? Dann tun Sie es einfach jetzt. Und schreiben Sie auf, was Sie machen würden. Tauchen Sie wirklich tief ab in jenes Szenario – so schlimm es sich auch anfühlen mag. Im Anschluss, wieder bei Licht betrachtet und geistig in der Gegenwart angekommen, können Sie sich entspannt zurücklehnen, weil ja (noch) nichts passiert ist. Denn im Gegensatz zu einer Prognose, die aufgrund von Berechnungen mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit eintreffen kann, stellt ein Zukunfts-Szenario eine mögliche Situation dar, aus der unterschiedliche Lösungsansätze entwickelt werden können.
Schlagzeilen sind leider häufig unerfreulich – Terroranschläge, Unruhen und Naturkatastrophen schaffen es regelmäßig auf die Titelseite. Wie schnell tauchen dann Fragen auf „Wer ist schuld?“ oder „Was hätte man verhindern können?“ Vielleicht mag das ja sinnvoll sein, um Lehren für künftige, ähnliche Ereignisse daraus zu ziehen. Oft sind solche Fragen aber eher Ausdruck der Hilflosigkeit angesichts von Extremsituationen. Sie helfen beim Verdrängen der Tatsache, dass nichts mehr umkehrbar ist. So schlimm, so tragisch, so grausam es ist – es ist da!
Wann haben Sie sich im Vorstand und/oder in der Geschäftsleitung zuletzt mit wirklich existenziellen Fragen auseinandergesetzt? Wann ging es nicht nur um punktuelle Verbesserung, neue Marktdurchdringung oder Wo-können-wir-noch-mehr-sparen? Wann oder haben Sie sich überhaupt jemals die Frage gestellt: Was geschieht eigentlich, sollte von einem Tag auf den anderen unser Kerngeschäft wegbrechen? Könnte das Unternehmen überhaupt weiter bestehen? Könnten die Mitarbeiter noch beschäftigt werden? Von einem solchen Blick in die Zukunft, klare Antworten zu erwarten, hieße an Hellseherei zu glauben. Doch sich mit Unsicherheiten auseinanderzusetzen anstatt sich diesen zu verschließen, heißt den Blick auf die Zukunft zu erweitern. Unserem menschlichen Denken kommt es entgegen, diese Ungewissheit an einem konkreten Beispiel durchzuspielen. In der Auseinandersetzung mit dem Katastrophenfall, durch die Lösungssuche auf verschiedenen Ebenen und den Austausch mit anderen lassen sich Zukunftsalternativen vorbereiten.
Was können uns solche Nachrichten in Bezug auf die unternehmerischen Aufgaben in unseren Betrieben geben? Was kann eine Führungskraft aus Naturkatastrophen lernen? Man muss ja nicht gerade das Schlimmste befürchten und annehmen, aber in jedem Fall gilt: „Gouverner c’est prévoir“ – „Regieren bedeutet vorsorgen“. Wer regieren will, muss ein Programm schreiben. Noch vor dem Machtantritt müssen politische Formationen eine Vorausschau machen, einen Plan dessen, was umgesetzt, verbessert und verändert werden soll. Wie gut dann die tatsächliche Umsetzung erfolgt ist freilich eine andere Sache. Ein Plan liegt im Normalfall auch den Aktivitäten eines Wirtschaftsunternehmens zugrunde. Ein Plan, der ein zu erreichendes Unternehmensziel formuliert und darüber hinaus meist auch viele Detailpläne, wie dieses erreicht werden soll – sei es die Budget-, Personal-, Produktions- oder Absatzplanung.
Wer ein Unternehmen führen will, muss vorausschauend denken. Zur Zukunftssicherung gehört neben der strategischen Planung und Umsetzung von Unternehmenszielen auch das Vorwegdenken möglicher Alternativ-Situationen. Diese dürfen durchaus zunächst visionär anmuten. Gerade in ihrer Fiktion liegt die Chance, dass sich durch die intensive Auseinandersetzung damit, innovative und revolutionäre Ansatzpunkte ergeben – weil sie eben nicht auf dem Bestehenden basieren. In diesem Sinne wird Vordenken zum Vorsorgen.

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Foto von Tetiana SHYSHKINA