Bundesarbeitsgericht (BAG) vom 4. Mai 2010 – 9 AZR 183/09

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Foto von Benjamin Child

Sachverhalt: Der Arbeitnehmer hatte laut Arbeitsvertrag Anspruch auf jährlich 26 Urlaubstage (d.h. 20 Tage gesetzlicher Urlaub und 6 Tage vertraglicher Mehrurlaub, wobei in dem Arbeitsvertrag selbst nicht differenziert wurde). Er war von Ende Mai 2007 bis Dezember 2008 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt. Im Jahr 2007 hatte er keinen Urlaub genommen. Nachdem sein Arbeitsverhältnis rückwirkend zum 31. Juli 2007 einvernehmlich beendet wurde, klagte der Arbeitnehmer noch auf finanzielle Abgeltung seiner 26 Resturlaubstage aus dem Jahr 2007.

Entscheidung: Das BAG gab dem Arbeitnehmer Recht. Seit der sogenannten Schultz-Hoff-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom Januar 2009 darf gesetzlicher Urlaub, den Arbeitnehmer wegen Arbeitsunfähigkeit nicht nehmen können, auch nicht mehr nach Ablauf des ersten Quartals des Folgejahres verfallen. Folglich sammeln langjährig arbeitsunfähig erkrankte Arbeitnehmer sehr viel Urlaub an, den sie bei ihrer Rückkehr an den Arbeitsplatz nehmen können. Werden sie aber nicht wieder arbeitsfähig, ist nach § 7 Abs. 4 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) der gesamte nicht genommene Urlaub bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses abzugelten, d.h. der Arbeitgeber muss dem Arbeitnehmer den gesamten angesammelten Urlaubsanspruch in Geld vergüten.

Das BAG entlastet dabei jetzt diejenigen Arbeitgeber, die ihren Beschäftigten mehr Urlaub gewähren, als sie von Gesetzes wegen müssten. Vertraglich vereinbarten Mehrurlaub können die Vertragsparteien nun eigenen Verfalls- und Abgeltungsregeln unterstellen. Für eine bewusste Differenzierung zwischen gesetzlichem und vertraglichem Urlaub müssen im Vertrag aber „deutliche Anhaltspunkte“ vorhanden sein. Nur dann gelten für den vertraglichen Mehrurlaub nicht die eingangs umrissenen Regeln.

Konsequenzen für die Praxis: Um die Gefahr einzudämmen, dass Arbeitnehmer bei langjähriger Arbeitsunfähigkeit Urlaubsansprüche in großem Umfang ansammeln können, sollten Arbeitgeber für den vertraglichen Mehrurlaub (d.h. für die Urlaubszeit, die über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgeht) gesondert regeln, dass dieser nicht dem gesetzlichen Verfallsausschluss unterliegt, sondern z.B. stets zum Jahresende oder mit Ablauf eines Übertragungszeitraums ohne Abgeltung verfällt. Entscheidend ist, dass die Vertragsparteien im Arbeitsvertrag für gesetzlichen und vertraglichen Urlaub erkennbar verschiedene Regeln vereinbaren. Ist dort nur undifferenziert von Gesamturlaub die Rede (wie im Ausgangsfall von 26 Tagen), gelten für den vertraglichen Mehrurlaub dieselben Abgeltungs- und Verfallsregeln, wie für den gesetzlichen Urlaub. Somit verfällt auch der Mehrurlaub nicht mit Arbeitsunfähigkeit und ist bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses ebenfalls – wie der gesetzliche Mindesturlaub – abzugelten.

Praxistipp: Bei Abschluss neuer Arbeitsverträge reicht es nicht aus, gesetzlichen und vertraglichen Urlaub getrennt auszuweisen. Es müssen zudem gesonderte Verfallsregelungen im Vertrag enthalten sein. Ein Beispiel:

“Der Arbeitnehmer hat einen gesetzlichen Urlaubsanspruch von derzeit 20 Tagen pro Kalenderjahr bezogen auf eine 5-Tage-Woche. Wurde dieser vom Arbeitgeber gewährt, hat der Arbeitnehmer Anspruch auf 6 Tage vertraglichen Mehrurlaub pro Kalenderjahr. Übertragbarkeit, Verfall und Abgeltung des gesetzlichen Urlaubs richten sich nach dem BUrlG. Der vertragliche Mehrurlaub muss im laufenden Kalenderjahr, spätestens aber bis zum Ablauf des dritten Monats des Folgejahres genommen und gewährt werden. Danach verfällt der vertragliche Mehrurlaub selbst dann, wenn der Urlaub aus Gründen nicht genommen werden konnte, die der Arbeitnehmer nicht zu vertreten hat.”

Bestehende Arbeitsverhältnisse erfordern für eine solche Vereinbarung einen Änderungsvertrag. Eine Änderungskündigung ist insofern nicht möglich.

Hinweis: Beim EuGH steht derzeit die Frage zur Entscheidung an, ob langjährig arbeitsunfähige Arbeitnehmer Urlaubsansprüche ohne jegliche Befristung ansammeln können (Rs. C-214/10).

Weitere Informationen: www.bblaw.com