Alles halb so schlimm? Wir sind ja Exportweltmeister, die Wirtschaft brummt. Nein, es ist fünf vor Zwölf, wenn die da oben nicht begreifen, dass ihre Vorbildwirkung enorm ist und sie mit Positivbeispielen überzeugen müssen. Zum Hintergrund: Die Hirnforschung hat nachgewiesen, dass wir über die Fähigkeit verfügen, positive Erwartungen in Genesung umzumünzen. Aber leider gilt umgekehrt: Wenn Ärzte – wie im 19. Jahrhundert – die Falschmeldung verbreiten, Tomaten seien giftig, lassen sich die Menschen wegen angeblicher Tomatenvergiftung in die Krankenhäuser einliefern.

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Foto von Omar Lopez

SPIEGEL-Autor Jörg Blech hat in einem Artikel (Heft 26/2007) beschrieben, dass Zuversicht und Glaube Schmerzen vertreibe, dass Hoffnung heile. Ob Homöopathie, Akupunktur, Naturheilkunde oder selbst die Schulmedizin: Sie wirken nicht durch die Heilmethode an sich, sondern indem sie die Selbstheilungskräfte des Menschen stärken. Unser Gehirn schreibt Zuversicht in biochemische Prozesse um, die zu Schmerzlinderung und Heilung führen.

Blech zitiert beeindruckende Beispiele: In einer Studie haben Ärzte schwangeren Frauen erklärt, sie nähmen ein Mittel ein, das Übelkeitsgefühle unterdrücke. Den Frauen ging es viel besser. Was sie nicht wussten, so Blech: „In Wahrheit hatten sie Brechmittel erhalten; der durch ihre Erwartungshaltung ausgelöste Placebo- Effekt jedoch hatte die pharmakologische Wirkung in ihr Gegenteil verkehrt.“

Das Tomaten-Beispiel zeigt: Auch der Nocebo-Effekt wirkt – mit gegenteiliger Wirkung. Glaubt der Patient, ihm schade etwas – so schadet es. Das Lesen des Medikamentenbeipackzettels hat zur Folge, dass er jene Symptome entwickelt, die als mögliche Nebenwirkungen beschrieben sind.

Gewiss lassen sich nicht alle Ergebnisse der Hirnforschung auf die Führungsarbeit übertragen, aber doch einige. „Ein kalter, gefühlloser, unbeteiligter Arzt wird eine Nocebo- Wirkung hervorrufen. Umgekehrt ist echte Anteilnahme vielleicht wertvoller als jede rein medizinische Behandlung“ – so zitiert Blech einen Herzspezialisten in seinem Artikel. Übertragen bedeutet das: Führungskräfte müssen sich auf ihre originären Aufgaben besinnen. Und dazu gehören weniger die Optimierung von Arbeitsabläufen und Powerpoint-Präsentationen und ganz bestimmt nicht die Pflege des eignen Aktiendepots. Dazu gehören aber das regelmäßige Gespräch mit den Mitarbeitern sowie die Beendigung der Sprachlosigkeit in der Kommunikation zwischen den Hierarchien.

Der Kernpunkt der Führungsarbeit ist und bleibt das Führen von Menschen und die Etablierung einer Beispielkultur, in der Fairness, Ehrlichkeit und die Akzeptanz der Individualität des Mitarbeiters dominieren. Wer das als „Das hehre Wort zum Sonntag“ abqualifiziert und zugleich schlechte Arbeitsergebnisse in seinem Verantwortungsbereich beklagt, sollte sich fragen, ob nicht der Nocebo-Effekt am Werke ist.

Noch einmal: Durch nichts wirkt die Führungskraft mehr auf das Verhalten der Mitarbeiter als durch das eigene Verhalten. Jeder Chef hat die Mitarbeiter, die er verdient. Die gute Nachricht: Es geht auch umgekehrt: Führungskräfte, die sich ihren Mitarbeitern widmen, ihnen zuhören, sich Zeit für sie nehmen, signalisieren höchste Wertschätzung und setzen die positiven Wirkungen des Placebo- Effekts in Gang.

Quelle: PERSONAL – Heft 07-08/2008