Problempunkt

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Der beklagte Arbeitgeber, ein Mediziner, hatte eine wissenschaftliche Stelle ausgeschrieben, auf die der Kläger sich bewarb. An seiner fachlichen Eignung gab es keine Zweifel. In einemder insgesamt drei Vorstellungsgespräche fragte der Beklagte den Kläger u. a., ob er in psychiatrischer Behandlung sei. Im letzten Gespräch äußerte er außerdem, die Körperhaltung des Klägers lasse darauf schließen, dass er am sog. Morbus Bechterev leide, einer rheumatischen Erkrankung, die oft mit Depressionen einhergeht.

Im Endeffekt lehnte der Arbeitgeber die Bewerbung des Klägers ab. Daraufhin erhob dieser eine Entschädigungsklage nach § 15 Abs. 2 AGG. Er fühlte sich wegen einer gemutmaßten Behinderung diskriminiert. Der Arbeitgeber verteidigte sich damit, nicht die Gesundheitsfragen, sondern die Gehaltsvorstellungen seien maßgeblich für die Absage gewesen. Zu ergänzen wäre, dass der Kläger wohl wirklich nicht an der genannten Erkrankung leidet. Das LAG München wies die Klage ab, weil es Fragen nach der gesundheitlichen Eignung grundsätzlich nicht für diskriminierend hielt. Sie seien regelmäßig von einem „berechtigten Interesse“ gedeckt.

Entscheidung

Das BAG sah das anders und hob die Entscheidung auf. Dabei stellte es ausdrücklich klar, dass der Erkundigung nach bestimmten Leiden Indizwirkung gemäß § 22 AGG für die Frage nach einer Behinderung zukommt. Die bloße Behauptung, die Gehaltsvorstellungen des Klägers seien Ursache der Absage gewesen, entlastete den Arbeitgeber nicht. Das Gericht verwies die Sache an das LAG zurück, allerdings nur, um Sachverhaltsfragen zu klären, die sich auf die zeitliche Abfolge der Ereignisse beziehen.

Konsequenzen

Manche Entscheidungen kann man nicht zu hoch bewerten. Mehr als ein bloßes Indiz muss ein Arbeitnehmer bei einer Entschädigungsklage nach § 15 Abs. 2 AGG wegen einer Diskriminierung, z. B. aufgrund einer Behinderung gemäß § 1 AGG, bekanntlich nicht belegen, § 22 AGG.Ein solches Indiz ist nunmehr die Frage nach „bestimmten Leiden“. Das ist eine stille Revolution: Die nebenbei geäußerte Auffassung der Vorinstanz, der Arbeitgeber dürfe gewissermaßen „einfach so“ danach fragen, ob der Kandidat gesundheitlich geeignet ist, ist ein unfundiertes Vorurteil. Wie erstaunlich weit es verbreitet ist, davon zeugen viele öffentliche Kontroversen (z. B. Bluttests bei einem Autobauer bzw. beim NDR oder Gesundheitsfragebögen des Landes Berlin, die sich u. a. nach psychischen Erkrankungen erkundigten).

Wer dieses Vorurteil künftig pflegt verhält sich– jedenfalls indiziell – diskriminierend, was teure Entschädigungszahlungen auslösen kann. Das BAG hält zwar nur Fragen nach ernstlichen, insbesondere chronischen Erkrankungen für problematisch. Die Festlegung, was nicht als „ernstlich“ gelten soll, dürfte aber jeden Arbeitgeber überfordern – und daran, einen Schnupfen festzustellen, ist er typischerweise ohnehin nicht interessiert.

Das BAG hat zudem strenge Maßstäbe für einen Entlastungsbeweis des Arbeitgebers geschaffen: Dieser ist zwar möglich, im Prozess reichte aber die pauschale Behauptung, der wahre Grund der Absage habe darin gelegen, dass der Kläger zu viel Geld verlangte, nicht aus.

Es gibt nach diesem Urteil auch einen dringenden Bedarf, die insgesamt nicht harmonische Rechtsprechung zu Gesundheitsfragen zu überholen. So ging z. B. jüngst das LAG Rheinland-Pfalz (Urt. v. 12.2.2010 – 6 Sa 640/09, n. v.) davon aus, dass der Arbeitgeber fristlos kündigen kann, wenn ein Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst sich weigert, zum Amtsarzt zu gehen. Das BAG sieht das ebenso (Urt. v.6.11.1997 – 2 AZR 801/96, NZA 1998, S. 326). Nach den einschlägigen Tarifwerken besteht eine solche Pflicht aus „gegebenem Anlass“, was einen Freibrief für wesentlich intimere Gesundheitsfragen darstellt als die hingeworfene Bemerkung, ob jemand am Morbus Bechterev leide. Man kann aber nicht gleichzeitig Fragen nach Erkrankungen für diskriminierend, umfassende Gesundheitsuntersuchungen auf Anordnung des Arbeitgebers aus „gegebenem Anlass“ indes für zulässig halten. Hier leidet die Rechtsprechung an erheblichen Wertungswidersprüchen.

Das besprochene Urteil zeigt, dass die Reise unweigerlich dahin geht, Arbeitnehmer immer stärker vor Erkundigungen über ihre Gesundheit zu schützen. Daran wird sich ein Ausgleich des Wertungswiderspruchs zu orientieren haben.

Praxistipp

Hände weg von Fragen nach der Gesundheit, wenn diese nicht ausdrücklich gesetzlich angeordnet sind! Dasselbe gilt für sog. Gesundheitstests. Man sollte im Auge behalten, dass nach § 15 Abs. 2 AGG die Entschädigungszahlung nur dann auf drei Monatsgehälter begrenzt ist, wenn der Betreffende die Stelle auch ohne die Diskriminierung nicht erhalten hätte. Hier aber reichte die Qualifikation des Klägers für eine Einstellung. Der Umstand, dass Arbeitnehmer in anderen Verfahren auf der Basis des AGG bereits Forderungen in Millionenhöhe erheben (derzeit z. B. beim ArbG Nürnberg, 2 Ca8283/09), sollte Warnung genug sein in einem Rechtsgebiet, wie dem AGG, das sich noch in der Entwicklungsphase befindet.

Quelle: Arbeit und Arbeitsrecht – 11/10