BVerfG, Beschluss vom 8. Juni 2016 – 1 BvR 3634/13

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Problempunkt

Die Beschwerdeführerin war bei einer Fluggesellschaft als Mitglied des Bodenpersonals beschäftigt. Ende 2009 stellte die Fluggesellschaft den Flugbetrieb in Deutschland ein. Nachdem sie den örtlichen Betriebsrat angehört und eine Massenentlassungsanzeige für alle Arbeitsverhältnisse vor Ort erstattet hatte, sprach sie im Dezember 2009 und Januar 2010 Kündigungen aus.

Das BAG erklärte diese Kündigungen später für unwirksam, weil das nach § 17 Abs. 2 KSchG erforderliche Konsultationsverfahren mit dem zuständigen Gesamtbetriebsrat nicht ord­nungsgemäß durchgeführt wurde. Zum Zeitpunkt der Kündigungen der übrigen Beschäftigten befand sich die Beschwerdeführerin in Elternzeit.

Das Arbeitsverhältnis mit ihr kündigte die Flug­gesellschaft im März 2010, nachdem die für den Arbeitsschutz zuständige oberste Landesbehörde nach § 18 Abs. 1 Satz 2 und 3 BEEG a. F. die Kündigung während der Elternzeit für zulässig erklärt hatte. Die hiergegen erhobene Kündigungsschutzklage blieb in den arbeitsgerichtlichen Instanzen erfolglos.

Nach Auffassung des BAG (Urt. v.25.4.2013 – 6 AZR 49/12) war die Kündigung der Beschwerdeführerin nicht anzeigepflichtig, da sie nicht im Zusammenhang mit denjenigen der anderen Beschäftigten erfolgte und damit nicht in den 30-­Tage­-Zeitraum des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG falle.

Entscheidung

Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin war erfolgreich. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde für begründet erachtet, das Urteil des BAG aufgehoben und das Verfahren zurückverwiesen. Es nahm einen Verstoß gegen den in Art. 3 Abs. 1 GG normierten allgemeinen Gleichheitssatz an, weil die Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit ihrer Elternzeit, die unmittelbar an die verfassungsrechtlich in Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Elternschaft anknüpft, vom
 
§ 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG relevanten 30­Tage­Zeitraums ausschließlich an den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungen an. Daraus ergibt sich insbesondere im Fall der Betriebsstilllegung ein geringeres Schutzniveau für die Beschwerdeführerin, die aufgrund ihrer Elternzeit nach dem Willen des Gesetzgebers besonders schutzbedürftig ist und deshalb besonderen Kündigungsschutz genießt.

Denn im Fall einer Betriebsstilllegung erklärt die hierfür zuständige Behörde die Kün­ digung trotz der Elternzeit regelmäßig für zulässig. Die Verzögerung der Kündigung durch das Abwarten auf diese Erklärung führt jedoch dazu, dass die Kündigung erst außerhalb des 30­-Tage­-Zeitraums ausgesprochen werden kann, so dass für sie die Schutzmechanismen der Massenentlassung nicht greifen. Diese Benachteiligung kann auch nicht durch den während der Elternzeit bestehenden besonderen Kündigungsschutz gerechtfertigt werden.

Die Konsultation des Betriebsrats und die frühzeitige Einschaltung der Agentur für Arbeit würden denjenigen genommen, die aufgrund besonderer Schutznormen aus dem Verfahren der Massenentlassung herausfallen.

Im konkreten Fall wirkte sich der Verlust des Massenentlassungsschutzes auch nachteilig aus, da das Arbeitsverhältnis der Beschwerdeführerin früher endete als das der anderen Beschäftigten, deren Kündigungen wegen Verstoßes gegen die Vorschriften des Massenentlassungs­ schutzes unwirksam waren.

Konsequenzen

Das BVerfG hat den Schutz von Beschäftigten in Elternzeit gestärkt. Die Entscheidung dürfte aber auch für andere Beschäftigte mit Sonderkündigungsschutz relevant sein, bei denen ein behördliches Zustimmungserfordernis vor Ausspruch einer Kündigung besteht.

Das betrifft Schwer­behinderte, Schwangere, Beschäftigte, die eine Pflegezeit in Anspruch nehmen, etc. Im Rahmen von Massenentlassungen müsste bei Betroffenen mit Sonderkündigungsschutz nach Auffassung des BVerfG der 30­-Tage­-Zeitraum nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG auch dann als gewahrt gelten, wenn die Antragstellung bei der zuständigen Behörde innerhalb dieses Zeitraums erfolgt.

Praxistipp

Nach Zurückweisung durch das BVerfG hat das BAG am 26.1.2017 (6 AZR 442/16) erneut in dieser Sache entschieden und sich dem BVerfG gebeugt. Ergebnis ist eine national­ rechtliche Erweiterung des Entlassungsbegriffs bei Massenentlassungen.
Bei Beschäftigten in Elternzeit ist daher nunmehr für den Massenentlassungsschutz nach § 17 KSchG nicht die Kündigungserklärung, sondern vielmehr die behördliche Antragstellung zur Kündigungszustimmung entscheidend.

Die Praxis hat sich hierauf einzustellen. Arbeitgeber sollten zudem beobachten, ob die Erweiterung des Entlassungsbegriffs bei Massenentlassungen auch bei anderen Beschäftigten mit Sonderkündigungsschutz Anwendung findet.

RAin und FAin für Arbeitsrecht Dr. Alexa Paehler, LL.M., Kliemt & Vollstädt, Düsseldorf

Mit freundlicher Genehmigung der HUSS-MEDIEN GMBH aus AuA 5/17,  Seiten 308-309

Zudem verstößt die Auffassung des BAG, eine Kündigung unterfalle nur dann den für Massenentlassungen gelten­ den Regelungen, wenn sie innerhalb des 30­-Tage-Zeitraums des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG zugehe, im konkreten Fall gegen den speziellen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG in seiner Verstärkung durch das Gleichstellungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG und führt zu einer faktischen Benachteiligung wegen des Geschlechts

Zwar knüpft die Schlechterstellung an die Elternschaft an. Jedoch trifft sie Frauen in erheblich höherem Maße als Männer, weil diese Elternzeit bislang stärker in Anspruch nehmen.

Die Benachteiligung von Personen mit besonderem Kündigungsschutz lässt sich nach Auffassung des BVerfG durch verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Normen erreichen: Hierzu müssen die ihnen gegenüber erklärten Kündigungen, die allein deshalb außerhalb des 30­Tage­Zeitraums zugehen, weil erst ein anderes, nicht gleichwertiges behördliches Verfahren durchzuführen war, so behandelt werden wie Kündigungen, für die die Regeln des Massenentlassungsschutzes gelten.

Bei Beschäftigten mit Sonderkündigungsschutz gilt der 30-­Tage­-Zeitraum nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG auch dann als gewahrt, wenn die Antragstellung bei der zuständigen Behörde innerhalb dieses Zeitraums erfolgt ist.