Das BAG sah sich aufgrund der Entscheidung des BVerfG gezwungen, der Kündigungsschutzklage stattzugeben. Nach dem BVerfG ist die Auslegung des Senats mit dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 GG nicht zu vereinbaren. Das höchste deutsche Gericht urteilte, dass es eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung darstellt, wenn Arbeitnehmer mit Sonderkündigungsschutz nur aufgrund des vorher durchzuführenden behördlichen Verfahrens den Massenentlassungsschutz verlieren. Das behördliche Verfahren ist nicht gleichwertig; der Massenentlassungsschutz für die Betroffenen günstiger. § 17 KSchG ist daher verfassungskonform so auszulegen, dass für die Entlassung i. S. d. Vorschrift der Tag der Antragstellung auf Zustimmung zur Kündigung bei der zuständigen Behörde als maßgeblich anzusehen ist. Erfolgt diese innerhalb der 30 Tage und werden die Schwellenwerte erreicht, ist die Kündigung so zu behandeln, wie Kündigungen, für die § 17 KSchG gilt.

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Der 6. Senat stellte fest, dass mit der durch das BVerfG vorgenommenen Neudefinition des Massenentlassungsbegriffs für Mitarbeiter mit nicht gleichwertigem Sonderkündigungsschutz der Anwendungsbereich des § 17 KSchG erweitert wird. Da die Zustimmung gem. § 18 BEEG a. F. bei Betriebsstilllegungen regelmäßig erteilt wird, gewährt die Vorschrift keinen dem § 17 KSchG vergleichbaren Schutz. Maßgeblich für diesen Personenkreis ist daher nicht der Zugang der Kündigung, sondern der Eingang des Antrags auf Zustimmung zur Kündigung bei der Behörde.

Das BAG weist bereits in seiner Entscheidung darauf hin, dass die Neudefinition des Massenentlassungsbegriffs zahlreiche Folgeprobleme aufwirft. Es ist nicht klar, für welche Fälle des Sonderkündigungsschutzes die Voraussetzung der fehlenden Gleichwertigkeit mit dem Massenentlassungsschutz erfüllt sein soll. Auch ist die Frage nicht beantwortet, wie der Fall zu behandeln ist, wenn der Arbeitgeber den Zeitpunkt der Antragstellung bei der Behörde bewusst so wählt, dass er außerhalb des 30-Tage-Zeitraums liegt. Unklar ist ebenfalls, ob die neue Rechtsprechung für alle Fälle der Massenentlassung oder nur bei Stilllegungen gelten soll. Ein besonderes Problem liegt zudem in § 18 Abs. 4 KSchG, wenn die behördliche Zustimmung außerhalb der 90-tägigen Freifrist erteilt wird oder der Personalabbau in Wellen erfolgt und dann ggf. eine neue Massenentlassungsanzeige erforderlich ist. Es bleibt abzuwarten, wie die Rechtsprechung Fälle beurteilt, in denen diese Frist aufgrund der Bearbeitungszeit des Zustimmungsantrags bei der Behörde überschritten wird.

 

Praxistipp:

Eine unterlassene oder fehlerhafte Massenentlassungsanzeige kann zu extremen Folgekosten führen. Es ist daher zwingend erforderlich, dass die komplexen Voraussetzungen des § 17 KSchG stets beachtet werden. Die Handhabung ist mit der vorliegenden Entscheidung jedenfalls nicht einfacher geworden. Für Arbeitgeber gilt es daher umso mehr, geplante Massenentlassungen gründlich vorzubereiten. Sollen von einer Massenentlassung Arbeitnehmer mit Sonderkündigungsschutz (wie hier Elternzeit, aber auch Schwerbehinderung, Mutterschutz) betroffen sein, gilt es, das „Timing“ des Zustimmungsantrags bei der zuständigen Behörde so zu wählen, dass es nicht zu Folgeproblemen bei der späteren Durchführung der Entlassungen kommt. Ggf. ist die Behörde darauf hinzuweisen, dass die Kündigung im Rahmen einer Massenentlassung durchgeführt werden soll und daher mit Blick auf die Freifrist des § 18 Abs. 4 KSchG bevorzugt zu bearbeiten ist. Rein vorsorglich sollte man alle Mitarbeiter – auch die mit Sonderkündigungsschutz – in das Massenentlassungsverfahren einbeziehen.

 

Mit freundlicher Genehmigung der HUSS-MEDIEN GMBH aus AuA 2/18, S. 121.

Der Massenentlassungsschutz des § 17 KSchG wird ausgelöst, wenn innerhalb von 30 Tagen einerbestimmten Anzahl von Arbeitnehmern im Verhältnis zur Gesamtbelegschaft (Schwellenwerte) gekündigt wird. Maßgeblich für die Bestimmung des Schwellenwertes ist grundsätzlich der Zugang der Kündigungserklärung beim Arbeitnehmer. Beschäftigte, die sich in Elternzeit befinden, genießen Sonderkündigungsschutz (§ 18 BEEG). Ihr Arbeitsverhältnis kann nicht ohne vorherige Zustimmung der zuständigen Behörde wirksam gekündigt werden. Wegen der damit verbundenen zeitlichen Verzögerung kann es dazu kommen, dass Mitarbeiter mit Sonderkündigungsschutz aus dem 30-Tage-Zeitraum „herausfallen“.

Die beklagte Fluggesellschaft stellte den Flugbetrieb von und nach Deutschland ein und kündigte daraufhin – nach Erstattung einer Massenentlassungsanzeige – allen 36 beschäftigten Mitarbeitern mit Schreiben vom 24.12.2009 und 15.1.2010. Das von § 17 Abs. 2 KSchG vorgeschriebene Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat führte sie nicht durch, so dass die Kündigungen nach rechtskräftigen Urteilen unwirksam waren. Die klagende Arbeitnehmerin befand sich zum Zeitpunkt der Kündigungen in Elternzeit, weswegen die Beklagte noch im Dezember 2009 das behördliche Verfahren einleitete. Erst nachdem die zuständige Behörde ihre Kündigung während der Elternzeit für zulässig erklärte, sprach die Arbeitgeberin im März 2010 eine Kündigung aus.

Gegen diese Kündigung wandte sich die Klägerin mit der Begründung, dass die Beklagte das nach § 17 KSchG erforderliche Konsultationsverfahren nicht durchgeführt hat, was zwingend zur Unwirksamkeit der Kündigung führt. Die Kündigungsschutzklage blieb vor dem BAG am 25.4.2013 (6 AZR 49/12) in vorläufig letzter Instanz erfolglos. Nach Auffassung der Erfurter Richter kann sich die Klägerin nicht auf § 17 KSchG berufen. Die Kündigung war nicht anzeigepflichtig, weil sie nicht innerhalb des 30-Tage-Zeitraumes stattgefunden hat. Erst mit ihrer gegen diese Entscheidung gerichteten Verfassungsbeschwerde hatte die Klägerin Erfolg. Das BVerfG hob das BAG-Urteil in einem Beschluss vom 8.6.2016 (1 BvR 3634/13, AuA 5/17, S. 308) auf und verwies den Fall zurück ans BAG.