Frau Böhmer, die Erwerbsbevölkerung in Deutschland schrumpft. Doch auch die Einwanderungen nach Deutschland sind in den letzten Jahren sehr gering gewesen. Warum setzen Sie trotzdem auf Diversity als Mittel gegen die negativen Folgen des demografischen Wandels?

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Foto von Priscilla Du Preez

Das Phänomen der schrumpfenden Erwerbsbevölkerung beobachten wir nicht nur in Deutschland, sondern in beinahe allen Ländern Europas. Diese demografische Entwicklung wird sich auch nicht kurzfristig umkehren lassen. Die wirtschaftlichen Folgen zeigen sich schon heute: Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag schätzt, dass im vergangenen Jahr 400.000 Fachkräfte fehlten. Das entspricht einem Wertschöpfungsverlust von 23 Milliarden Euro oder anders ausgedrückt: einem Prozentpunkt weniger Wachstum. Es kommt daher darauf an, die vorhandenen Potenziale der Menschen – egal welcher Herkunft – besser zu fördern und auszuschöpfen. Uns muss es insbesondere gelingen, mehr Menschen mit Zuwanderungshintergrund in das Erwerbsleben und die wirtschaftliche Wertschöpfung in Deutschland einzubeziehen. Davon hängt letztlich der Wohlstand unseres Landes ab. Ein Beispiel: Wenn ich mir die Schul- und Ausbildungskarrieren vieler Jungendlicher mit Zuwanderungshintergrund ansehe, liegt hier noch eine Menge Potenzial brach.

Was sind die Ursachen für schlechte Bildungs- und Ausbildungssituation von jugendlichen Zuwanderern?

Die Ursachen dafür sind vielfältig: Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien haben Schwierigkeiten, in der Schule und später in der Ausbildung mitzukommen, das zeigen die Schul- und Abschlussstatistiken der Länder. Aber diese Kinder sind nicht weniger begabt als andere, sie haben oft nur schlechtere Startchancen: Viele Eltern sind überfordert, ihren Kindern die sprachlichen Fertigkeiten oder die Zugänge zu Bildung zu vermitteln, die für ein gutes Fortkommen nötig sind. Hier müssen wir ansetzen, da sind viele übergreifende Anstrengungen nötig. Eine Maßnahme, die ich ganz konkret gestartet habe, ist die Initiative „Aktion zusammen wachsen – Bildungspatenschaften stärken, Integration fördern“. Im Rahmen dieser Aktion fördern wir Patenschafts- und Mentoringprojekte für junge Menschen mit Zuwanderungshintergrund.

Welche Vorteile haben Unternehmen aus Ihrer Sicht von kultureller Diversity?

Da gibt es eine ganze Reihe von Vorteilen: Zahlreiche Studien haben mittlerweile nachgewiesen, dass es sich für Unternehmer lohnt, die unterschiedlichen Stärken einer vielfältigen Belegschaft zu nutzen. Unternehmen, die die kulturelle Vielfalt ihrer Belegschaft fördern, haben Wettbewerbsvorteile: Ihnen gelingt es leichter, Kunden mit Zuwanderungshintergrund anzusprechen oder sich neue Absatzmärkte im Ausland aufzubauen. Eine tolerante Unternehmenskultur macht den Betrieb attraktiv für qualifizierte Fachkräfte, steigert die Motivation der Angestellten und senkt die Fluktuation. Und schließlich sind unterschiedlich zusammengesetzte Teams kreativer und flexibler als homogene Teams.

Wenn Unternehmen Ausländer einstellen wollen, müssen sie viele bürokratische Hürden überwinden. Was ließe sich hierbei aus Ihrer Sicht verbessern?

Ich gebe Ihnen Recht, dass die Bürokratie auch ein Hemmnis sein kann. Aber gerade die Europäische Union hat etwa durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit vieles einfacher gemacht. Aber auch hier gibt es natürlich noch einiges zu tun. Ich denke zum Beispiel an das Thema der Anerkennung der unterschiedlichen internationalen Bildungsabschlüsse, ohne dabei unseren in Deutschland erreichten Qualitätsstandard in der Ausbildung zu opfern. Wenn zugewanderte Ärzte oder Ingenieure als Taxifahrer oder Lehrerinnen als Putzfrauen arbeiten, ist das eine nicht hinnehmbare Verschwendung von Talenten und Ressourcen. Notwendig sind transparente, bundesweit vergleichbare und zügige Verfahren zur Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen. Darauf sollten künftig alle Zugewanderten einen Anspruch haben.

Wodurch zeichnen sich die Gewinner des Wettbewerbs „Kulturelle Vielfalt am Arbeitsplatz“ besonders aus?

Die Gewinner stehen erst nach der Jurysitzung am 14. November fest und werden bei der Preisverleihung am 9. Dezember bekannt gegeben. Grundsätzlich aber war uns wichtig, dass die Unternehmen Diversity Management als langfristiges, nachhaltiges Konzept verstehen und dies auch strukturell verankert haben. Außerdem sollte ein offenes, tolerantes und interkulturelles Klima auch nach außen spür- und sichtbar sein.

Die „Charta der Vielfalt“ ist dagegen ein grundlegendes Bekenntnis zu Toleranz, Fairness und Wertschätzung von Menschen in Unternehmen. Halten sich die Unterzeichner der Charta daran oder gibt es auch schwarze Schafe, die sich das Label nur für ein gutes Image im Kampf um Talente überstreifen möchten?

Mir ist nicht bekannt, dass Unterzeichnerunternehmen sich nicht an die Charta der Vielfalt gehalten haben. Ich denke auch, das würde sich sehr rasch herumsprechen. Solch ein Missbrauch würde ein sehr schlechtes Licht auf diese Unternehmen werfen, und ein schlechtes Image lässt sich nur schwer wieder loswerden. Ich bin zuversichtlich, dass wir von Missbrauch verschont bleiben.

Was halten Sie vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Ist es ein probates Mittel, um Diversity in Unternehmen zu fördern?

Die Diskussion um das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz wurde in Deutschland ja lange und intensiv geführt. Schließlich wurde das Gesetz 2006 unter der derzeitigen Bundesregierung und unter Führung der CDU mit einer breiten parlamentarischen Mehrheit beschlossen. Letztendlich kann aber jedes Gesetz nur dann Wirksamkeit entfalten, wenn es von einer breiten Mehrheit getragen und gelebt wird. Hier schließt sich sehr schön der Bogen zu den Unterzeichnern der Charta der Vielfalt: Die Unternehmen erklären mit ihrer Unterschrift freiwillig, dass sich den Grundsätzen der Charta verpflichtet fühlen – und dokumentieren damit auch, dass sie die grundlegende Idee des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes unterstützen und mit Leben füllen wollen.

Interview: Stefanie Hornung