Wie definieren Sie Web 2.0?
Web 2.0 ist im Wesentlichen keine technische Innovation. Der Begriff besagt, dass wir das Internet in einer neuen Form nutzen und wahrnehmen. Die Qualität und die Aktualität von Webseiten entstehen nicht mehr durch Autoren, sondern durch die User selbst. Diesen Vorgang umschreibt das Schlagwort „User-Generated-Content“. Hinzu kommt, dass sich Internetseiten von Informationsstellen zu sozialen Orten entwickeln, wo sich Menschen mit gleichen Interessen treffen und soziale Bindungen entstehen.

pen, notebook, and smartphone on table
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Inwiefern haben deutsche Unternehmen das Web 2.0 schon für sich entdeckt?
In Unternehmen ist das Web 2.0 noch nicht als Kommunikationsinstrument angekommen. Ich glaube, dass viele Firmen den Wandel des Internets nicht wahrnehmen. Die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben könnten – beispielsweise junge Kunden an das Unternehmen zu binden – sind zumindest weitgehend ungenutzt.

Wie können Firmen das Web 2.0 in der Praxis konkret einsetzen?
Eine Herangehensweise für Firmen besteht darin, dass sie ihre Mitarbeiter ermuntern, Blogs zu schreiben – über ihr Umfeld, über ihre Arbeitstätigkeit oder über Projektgruppen. Insbesondere in den USA tun die Mitarbeiter das auch: Sie berichten munter über Aktivitäten, Schwierigkeiten und persönliche Eigenschaften; jeder kann erfahren, welche Pizza sie zu Mittag essen oder wo sie zum Kaffeetrinken hingehen. Mit Hilfe dieser persönlichen Informationen kann sich eine neue Form der Kommunikationsbeziehungen entwickeln und eine starke Kundenbindung entstehen. Gleichzeitig dient das Web 2.0 als Feedbackkanal: Durch Kommentare oder Bewertungen der Kunden oder durch Diskussionen in Foren lassen sich wertvolle Informationen erfassen. Unternehmen können Kundenwünsche viel genauer, schneller und unmittelbarer erfassen als mit umfangreichen Befragungsinstrumenten.

Welche Unternehmen setzen das schon um?

In den USA sind es die führenden Technologieunternehmen wie Google, Microsoft oder IBM, die das so umsetzen. Die Mitarbeiter berichten dort sehr offen aus ihren Arbeitsgruppen. Sie sprechen davon, an welchen Problemen oder Fragen sie konkret arbeiten anstatt diesen Prozess geheim zu halten bis die Produkte fertig auf dem Ladentisch liegen. Sicherlich plaudert dort niemand geheime Details aus, aber die Firmen nutzen diese aktive Form der Information durchaus geschickt.

Gehen die Firmen mit Kritik am Management dort ebenso offen um?
Das gehört dazu, wenn sich Firmen auf einen solchen Prozess einlassen. Ich habe aber dennoch den Eindruck, dass sich im Internet ein sehr zurückhaltender Ton entwickelt. Erfahrene Internetuser sind sich bewusst, dass Kritik sehr differenziert geäußert werden sollte, da sie sehr schnell auf die eigene Person zurückfallen kann. Das ist auch im angelsächsischen Bereich zu beobachten.

Inwiefern ist das Web 2.0 für die Weiterbildung von Mitarbeitern von Bedeutung?
Für das Lernen ist das Web 2.0 vor allem interessant, weil es Räume schafft, die Menschen gerne besuchen. Lernplattformen im Sinne von Web 2.0 verteilen nicht nur Materialien, wie das beim traditionellen E-Learning üblich ist. Die User des Web 2.0 tauschen sich untereinander aus, so dass kooperatives Lernen möglich wird. Der Übergang zum Wissensmanagement ist dabei viel leichter zu schaffen.

Löst sich beim E-Learning demzufolge die klassische Form der Wissensvermittlung vom Experten zum Schüler auf?

Das Problem beim E-Learning 1.0 war tatsächlich, dass wir oftmals dieses klassische Modell der Einbahnstraße des Lernens auch im Internet eingesetzt haben. Oder anders gesagt: Die traditionellen Formen der Übermittlung von Informationen an den Lernenden wurden einfach aus dem Klassenraum in das Internet übertragen. In vielen Fällen litt die Qualität darunter, weil bestimmte Vorteile von Präsenzunterricht wie die persönliche Beziehung verloren gegangen sind. Mit dem Web 2.0 haben wir nun aber neue Möglichkeit andere Formen von E-Learning in Unternehmen einzubringen.

Neben E-Learning 2.0 taucht auch immer wieder der Begriff Microlearning auf. Was ist der Unterschied?

Im Grunde besteht kein Unterschied, aber natürlich sind diese Begriffe dehnbar. Mit Microlearning ist vorrangig gemeint, dass die Lernelemente oftmals viel kleiner sind als im traditionellen E-Learning. Während die Lerneinheiten im E-Learning 1.0 eher mehr als 45 Minuten dauerten, bestehen sie nun aus Elementen, die der Anwender in 5-7 Minuten bearbeiten kann.

Wenn die Einheiten kleiner werden, werden sie dann auch immer oberflächlicher?

Nein, das hat nichts mit der Länge der Lerneinheit zu tun. Da der Lernende sich seine Informationseinheiten aus mehreren Quellen zusammenführt, kann eine differenzierte und komplexe Lernumgebung entstehen. Kleine Nuggets, so werden die Lerneinheiten häufig genannt, kleine Goldstücke also, die der User über RSS-Feeds beziehen kann, baut er zum kompletten Lernsystem um. Diese Vorgehensweise schafft nicht nur differenzierte Lernwelten, sie entspricht darüber hinaus den persönlichen Bedürfnissen des Einzelnen.

Auch bei Wikis, einer weiteren Form des Web 2.0, ist Qualität ein Thema. Wie entstehen Ihrer Meinung nach qualitativ hochwertige Wissensmanagementsysteme mit Web 2.0 – durch eine Hand voll Spezialisten oder durch die Weisheit der Masse?
Es gibt sicherlich eine Weisheit der Masse. Klar ist aber, dass viele dumme Menschen zusammengenommen nicht Intelligenz ergeben. Es ist ebenso naiv zu denken, dass es ausreicht, einfach einen Server zur Verfügung zu stellen, damit die Menschen begeistert etwas in ein System hineinschreiben. Es muss immer ein Mindestmaß an Expertise verfügbar sein. Deshalb sollten sich Unternehmen genau überlegen, wie sie solche Plattformen etablieren möchten. Da können sie viel aus dem Bereich E-Learning lernen. Damit ein Wiki funktioniert, muss es zum Beispiel eine Gruppe von Vorreitern oder auch Incentives geben; denkbar ist auch eine gewisse Form der Moderation.

Mit welchen technischen Mitteln können Unternehmen Web 2.0-Lernplattformen aufbauen?

Im Prinzip genügen herkömmliche Lernplattformen, aber es bietet sich an, mit Ansätzen zu arbeiten, die stärker auf Web 2.0 ausgerichtet sind. Momentan gibt es eine Debatte darüber, inwiefern diese Lernplattformen für Web 2.0-Anwendungen im Lernbereich nötig sind oder ob Content Management Systeme (CMS), die Blogs, Foren und Wikis beinhalten, viel besser wären. Letztendlich geht es darum, an Dokumenten zu arbeiten, sie auszutauschen und miteinander zu kommunizieren. Das kann ein generisches CMS-System mit den eben genannten Tools alles bieten. Wir arbeiten an der Universität Duisburg-Essen mit Drupal, einem Open-Source-CMS-System, das ganz gezielt auf Web 2.0 Elementen basiert. Wir erproben damit, inwieweit und in welchen Fällen man mit einem solchen CMS auf Lernplattformen verzichten kann.

Haben Weiterbildungsanbieter Lernen mit Web 2.0 schon in ihr Portfolio aufgenommen?
Nein, noch nicht. Eine Studie von CHECK.point eLearning weist beispielsweise darauf hin, wie überraschend es sei, dass sich einerseits einige Universitäten auf dem Gebiet stark vorwärts bewegen und andererseits der Weiterbildungsbereich die Forschungsergebnisse kaum aufgreift. Die Anbieterseite entwickelt sich so langsam, weil Konzepte fehlen, wie sich das Thema Web 2.0 in kursorientierte Mechanismen einbauen lässt. Das bisherige Portfolio ist dafür kaum geeignet, deshalb müssten die Weiterbildungsanbieter über die Art der Produkte nachdenken. Ich bin überzeugt, dass das die Kunden fordern werden.

Zum Abschluss noch ein Blick in die Zukunft: Was kommt nach Web 2.0 im Internet?

Keine Ahnung, die Innovationszyklen sind sehr kurz. Aber Web 2.0 ist für die Weiterbildung, das Personalmanagement und für das Wissensmanagement vor allem deshalb so wichtig, weil hierbei eine neue Verbindung entstehen kann. Die Brücke zwischen Weiterbildung und Wissensmanagement ist bisher noch nicht geschafft und diese Verbindung herzustellen, das ist in Zukunft die große Herausforderung. Theoretisch ist das schon seit Jahren in der Diskussion, aber mit Web 2.0-Technologien haben wir jetzt die Möglichkeit, diesen Link herzustellen. Die Frage ist: Schaffen wir es, in Unternehmen eine technologiebasierte Form zu finden, so dass Wissen und Lernen jenseits von Schulungskonzepten funktioniert? Wir erkennen heute, dass wir mit klassischen Kursen die Weiterbildungsforderung nach ständigem Lernen und ständigem Anpassen der Mitarbeiter an die Anforderungen von Märkten gar nicht mehr bewältigen können. Es geht jedoch nicht nur um Weiterbildung, sondern um die Brücke zwischen der Kommunikation in Unternehmen und einer neuen Form des Lernens.

Was ist denn konkret ihr Ansatz, um dieses Ziel einzulösen?
Dazu möchte ich Ihnen im Moment noch gar nicht so viel verraten. Wie das konkret in der Praxis aussehen könnte, das werde ich in meinem Vortag auf der Zukunft Personal vorstellen.

Michael Kerres spricht am 11. September 2007, 10:15 Uhr als Keynote-Speaker auf der Zukunft Personal in Köln. Seinen Blog finden Sie hier.

Interview: Stefanie Hornung