Wohin geht die Reise im digitalen Recruiting? Wir haben Tim Weitzel gefragt, Professor für Wirtschaftsinformatik an der Uni Bamberg und Leiter des Centre of Human Resources Information Systems (CHRIS) an der Universität Frankfurt, das jährlich Unternehmen und Kandidaten befragt, um Trends, Herausforderungen und Lösungen in der Personalbeschaffung zu untersuchen.


person holding black android smartphone
Foto: Magnet.me, Unsplash

Professor Weitzel, wie groß ist die Diskrepanz zwischen der Recruiting-Praxis in den Unternehmen und den Recruiting-Trends, die wir auf Fachkongressen diskutieren? 

Ein Gap ist auf jeden Fall da – und das hat zwei Gründe. Zum einen ist die Aufmerksamkeit, die neue Themen bekommen, oft jahrelang höher als deren Umsetzung. Wir haben viele Jahre über mobiles Recruiting gesprochen, bis ungefähr die Hälfte der Unternehmen auf dem Mobilgerät gut lesbare Webseiten hatte. Es vergingen auch viele Jahre, bis die sozialen Medien im Tagesgeschäft der Recruiter ankamen – und noch heute fehlen vielerorts elementare Erfolgsfaktoren für Social Media Recruiting wie Redaktionspläne, Social Media Kodizes und organisationale Verantwortlichkeiten für bestimmte Aufgaben. Das heißt: Es dauert lange, bis absehbare Trends in der Praxis greifen. Hinzu kommt, dass zu Vorträgen auf Fachkongressen vor allem die Mitarbeiter größerer Firmen geladen werden. Unsere Studien zeigen, dass Großunternehmen Recruitingstrends durchschnittlich fünf Jahre schneller umsetzen als der Mittelstand, weil sie mehr Ressourcen haben. 

Tim Weitzel

Welche neuen Entwicklungen sehen Sie im digitalen Recruiting? 

Auffällig ist, dass Unternehmen immer mehr Kanäle nutzen, um auf sich aufmerksam zu machen – von Karriereseiten Stellenbörsen bis zu beruflichen Netzwerken wie Xing oder LinkedIn. Ein relativ neues Phänomen sind Empfehlungssysteme, die Unternehmen bei der Suche nach Kandidaten unterstützen. Das Interesse daran ist groß – und es gibt auch schon Firmen, die so etwas anbieten. 

Neu ist auch, dass Recruiter die Digitalisierung in der Personalbeschaffung mehrheitlich begrüßen. HR hat die Welt der Kennzahlen und Informationssysteme früher mit einer viel größeren Skepsis betrachtet. Heute sagt die Mehrheit: Wir ersticken in Routinetätigkeiten und würden gerne Zeit gewinnen, um zu erledigen, wofür wir Recruiter geworden sind – nämlich an strategischen Themen arbeiten und mit Menschen reden. 

Die Offenheit für Prozessverbesserungen durch Digitalisierung ist hoch. Gleichzeitig sehen wir auch bei den Kandidaten erstmalig, dass die Akzeptanz von Chatbots und teilautomatisierten Auswahlverfahren steigt. Vorher hieß es, das sei unmenschlich. Heute hören wir zunehmend, dass Automatisierung Entscheidungen transparenter macht. Vor allem jüngere Kandidaten versprechen sich von den neuen Technologien schnellere Antworten. 

Es gibt also auf beiden Seiten eine hohe Bereitschaft über digitales Recruiting nachzudenken. Wir haben ein „Window of Opportunity“, ein Fenster der Möglichkeiten, das in den 20 Jahren, in denen wir die Entwicklungen im Recruiting verfolgen, noch nie so weit offen stand wie heute. 

Wie gut sind die digitalen Auswahl- und Matching-Technologien schon, die den Unternehmen zur Verfügung stehen? 

Die Technologien sind ganz gut, aber die Daten, die mit diesen Technologien bewegt werden, sind schlechter als die meisten denken. Einen Algorithmus zu bauen, der Lebensläufe durchsucht und dabei sehr ähnliche Entscheidungen trifft wie menschliche Recruiter, ist gar nicht so schwer. Das gilt nicht nur für die Suche nach Hardskills, sondern auch für Aspekte wie Führungsfähigkeit. Das Problem ist: Ein Matching setzt voraus, dass wir genau wissen, wonach wir suchen. Die meisten Unternehmen wissen das aber gar nicht so genau. Was macht zum Beispiel einen guten Signaltechniker aus – abgesehen von bestimmten Ausbildungsvoraussetzungen? Um das herauszufinden, müssen Unternehmen eigentlich eine Performanceanalyse machen – also überlegen, wer ihr bester Signaltechniker ist – und was seine Arbeitsweise ausmacht. 

Doch selbst wenn Unternehmen über Performanceanalysen herausfinden, was Kandidaten für bestimmte Jobs mitbringen sollten, müssen sie berücksichtigen, dass sich die Anforderungen an den Beruf möglicherweise ändern. Eigenschaften, die in der Vergangenheit zu einem guten Fit geführt haben, sind vielleicht gar nicht mehr die besten Prediktoren morgen. Daher suchen einige Unternehmen schon jetzt weniger nach Hardskills, sondern nach Profilen, die kulturell zu ihnen passen und entwicklungsfähig sind. 

Sie haben den Wunsch der Bewerber nach schnellem Feedback angesprochen. Wie gut lässt sich das über digitale Assistenzsysteme heute schon abbilden? 

Viele Unternehmen planen, Chatbots einzuführen, um Standardfragen von Bewerbern zu beantworten. 80 Prozent aller Bewerberanfragen kreisen ja um die gleichen zehn bis 15 Fragen. Dafür gab es früher die FAQ-Seite, die heute niemand mehr liest. Warum also nicht einen Chatbot bauen, der die eingehenden Fragen versteht, in den FAQ nachschaut und Antworten gibt. Wenn wir den Plänen der Unternehmen glauben können, werden wir jedes Jahr eine Verdreifachung der Firmen sehen, die Chatbots anbieten. 

Diese Form von Chatbots müssen keinerlei künstliche Intelligenz haben. Auf der nächsten Stufe stehen Empfehlungssysteme, die Kandidaten Jobempfehlungen für das eigene Profil geben. Bis zu 50 Prozent der Kandidaten haben solche Systeme schon genutzt, zum Beispiel auf Stellenbörsen. 

In der Endausbaustufe könnten Sie vielleicht fragen, „Alexa, hast du einen passenden Job für mich?“ – und das System gibt Ihnen qualifizierte Antworten. Die Voraussetzung ist natürlich, dass es die Bedarfe und Fähigkeiten genau versteht. Wenn ich jemanden suche, der ein Loch in einer Rohrleitung flicken kann, könnte mir das System vielleicht einen Goldschmied empfehlen, weil der mit denselben gleichen Materialien umgeht wie ein Installateur. Umgekehrt könnte ein Goldschmied, der keine Lust mehr auf Schmuck hat, den Vorschlag bekommen, auf der Baustelle zu arbeiten. 

Welche Rolle werden angesichts dieser Entwicklungen die Jobbörsen bekommen, die ja zunehmend Konkurrenz bekommen, insbesondere durch Google? Wird es sie in 10 Jahren noch geben? 

Die Stellenbörsen sind nach wie vor der zentrale Anlaufpunkt im Recruiting. 72 Prozent aller Vakanzen kommunizieren die Unternehmen über sie. Auch bei den Kanälen, über die Neueinstellungen erfolgen, führen sie seit Jahren. Mindestens jede dritte Neueinstellung geht auf sie zurück. Sie stehen ebenfalls auf Platz eins, wenn es darum geht, welche Kanäle Bewerber regelmäßig nutzen. Insofern sind sie aus dem Tagesgeschäft nicht wegzudenken – und ich bin mir auch sicher, dass es sie in zehn Jahren noch geben wird. 

Allerdings werden sie sich verändern. Denn die Machtverhältnisse haben sich gedreht. Wir sehen zum Beispiel in der IT-Branche schon länger, dass sich die Firmen mehr bei den Arbeitskräften bewerben als andersherum. Wenn wir das weiterdenken, könnte es zum Beispiel sein, dass Kandidaten auf Stellenbörsen nicht nur ihren Lebenslauf hochladen, sondern zusätzlich formulieren, was sie von Unternehmen erwarten – zum Beispiel Work-Life-Balance oder Homeoffice-Tage. Im nächsten Schritt könnten es eine Prüfung der Unternehmen geben, so dass sich nur solche bei den Kandidaten bewerben können, die auch deren Forderungen erfüllen. Die spannende Frage ist, wie Google das Spiel ändert oder beschleunigt. Das ist heute noch schwer zu sagen. 

Was raten Sie Unternehmen, die ihr Recruiting im digitalen Zeitalter optimieren möchten? 

Erstens: Ich muss meine Zielgruppe kennen, verstehen und respektieren. Zumindest die wichtigen Kandidatengruppen sollte ich da abholen, wo sie ist – also ihre Sprache sprechen und mich auf sie zu bewegen. So sollten Unternehmen in der Direktansprache keine standardisierten Anschreiben verwenden. Wer individuell anspricht, generiert doppelt so viel Rücklauf. 

Das zweite ist: Die Zeit, in denen sich Employer Branding auf Versprechen in Hochglanzprospekten beschränkte, sind vorbei. Wer Mitarbeiter finden und binden will, muss nicht nur vieles versprechen, sondern auch erfüllen. Kandidaten und Mitarbeiter sind genervt, wenn es zu viele Employer-Branding-Lügen gibt. Dann schalten vier von fünf Mitarbeitern auf Dienst nach Vorschrift und schauen sich nach anderen Jobs um. Die Kandidaten kommen erst gar nicht zu einem solchen Unternehmen. 

Der dritte Punkt: Recruiting und Employer Branding sollte sich auch auf die bestehenden Mitarbeiter beziehen. Denn sie sind eine der Hauptinformationsquellen für Bewerber. Daher sollten Unternehmen überlegen, wie sie die Trennung zwischen dem Finden und Binden der Mitarbeiter, zwischen Rekrutierung und Entwicklung stärker überwinden. 

Interview: Bettina Geuenich

Quelle: Dieses Interview erschien zuerst in der Fachzeitschrift personal manager (172019).