Herr Dr. Sprenger, eines Ihrer Bücher trägt den Titel „Vertrauen führt“. Ist das zurzeit nicht das falsche Thema?
Eben nicht. Gerade weil immer stärker kontrolliert wird und die Freiräume für die Mitarbeiter enger gesteckt werden, ist es wichtig daran zu erinnern, dass ohne Vertrauen keine Kooperation möglich ist. Commitment, Kreativität und Unternehmertum sind überlebensrelevant für Unternehmen. Die sind ohne Vertrauen nicht zu haben. Früher waren viele Leistungsaspekte noch über Macht und Geld steuerbar. Das ist heute und viel stärker noch in der Zukunft nicht mehr möglich.

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Foto von Sarah Shaffer

Wie kann sich ein Unternehmen vor dem Missbrauch von Vertrauen schützen?
Vertrauen ist eine Möglichkeit, mit der Freiheit des anderen umzugehen. Aber sie kann den anderen nicht zwingen – genauso wie Geld und Macht als Steuerungsinstrumente versagen können. Die extrem verpflichtende Kraft des Vertrauens ist aber eine anthropologische Konstante. Die meisten Menschen reagieren auf das entgegengebrachte Vertrauen so intensiv, dass es für sie sogar zu viel Verpflichtung und Nähe bedeutet. Zum Beispiel sind die Bemühungen zum Thema Vertrauensarbeitszeit nicht am Misstrauen der Führungskräfte oder an rechtfertigungsscheuen Mitarbeitern gescheitert, sondern schlicht am Verpflichtungssog des Vertrauens. Mitarbeiter bevorzugen deshalb oft einfache Tauschverhältnisse.

Gibt es Beispiele einer funktionierenden Vertrauenskultur im Unternehmen?
Ja natürlich. Eine ausgesprochene Vertrauenskultur haben zum Beispiel die DIS AG, die dm-Drogeriemärkte oder auch der Campus Verlag aufgebaut. Die Vertrauenskultur bei der DIS AG äußert sich beispielsweise in sehr großen Freiheitsspielräume: So gibt es keine festgelegten Urlaubstage für die Mitarbeiter.

Kann eine Unternehmensführung ganz ohne Kontrolle funktionieren?
Vertrauen ist ein Relationsbegriff, der ein Mehr oder Weniger beschreibt, nicht ein Entweder-Oder. Man darf Vertrauen nicht gegen Kontrolle ausspielen. Ein gewisses Maß an Kontrolle hat auch eine vertrauenssichernde Funktion.

Wann ist Kontrolle unerlässlich?
Sie dürfen den Raum der Selbsterhaltungsvernunft nicht verlassen. Das heißt: Kontrolle ist dann überlebensnotwendig, wo Vertrauen existenzgefährdend für das Unternehmen werden kann. Zum Beispiel wenn ein Mitarbeiter im Investmentbanking durch das Ausnutzen seiner Spielräume das gesamte Bankhaus in den Ruin treiben kann. Das Problem ist aber, dass sich heute jede Pommesbude an der Gefahrenklassse von Atomkraftwerken orientiert. Und die Spielräume der Mitarbeiter entsprechend eng macht. Jedes Unternehmen muss selbst herausfinden, wo es überlebenskritisch wird. Es muss sein eigenes Gleichgewicht finden.

Dieter Brandes schreibt in seinem Buch: „Kontrolle ist eine Kernaufgabe der Führung.“ Sie sagen: „Ohne Vertrauen ist keine Führung erfolgreich.“ Wer hat Recht?
Natürlich ist Kontrolle eine Kernaufgabe von Führung. Führung muss Leistung einfordern und auch kontrollieren. Schaut man sich aber in den Unternehmen um, dann geht Führung oft zu weit in der Verhaltenskontrolle und der Einschränkung von Freiräumen. Das zeigt sich auch auf dem deutschen Arbeitsmarkt, der hoch reguliert ist: Im Vergleich von 95 OECD-Staaten liegt er derzeit an 94. Stelle, nur unterboten vom Senegal. Oder in zahlreichen Unternehmen, in denen Formularismus und Bürokratie triumphieren. Hier wird völlig außer Acht gelassen, dass es nicht darum geht, die Dinge richtig zu tun, sondern die richtigen Dinge zu tun.

Dann haben Sie und Herr Brandes eigentlich ganz ähnliche Denkansätze.
In unseren Kernthesen stimmen Herr Brandes und ich überein. Man muss aber den Rezeptionshintergrund mitdenken. Und da finde ich es kontraproduktiv, eine Aussage wie „Wir brauchen mehr Kontrolle“ so in den Vordergrund zu stellen. In der Praxis bleibt dann oft nur noch ein undifferenziertes „Die-Zügel-enger-ziehen“ über. Und eine dauerhysterische Presse bläst dazu drohend Beispiele wie Enron oder Flowtex auf. Die vielen Millionen Male bestätigten Vertrauens fallen nicht weiter auf und bleiben unkommentiert. Das Ergebnis ist eine Wahrnehmungsverzerrung als Falle, in die schon viele hineintappten.

Dr. Reinhard K. Sprenger ist freier Vortragsredner, Trainer und Berater für den Bereich Personalentwicklung sowie Buchautor.

Interview: Daniela Furkel.